Der Medici-Effekt

DIE Lösung für die deutsche Wirtschaft?

Ein Blick über den unternehmerischen Tellerrand in kreativer Auseinandersetzung mit Wissenschaftlern, Künstlern und Querdenkern erwies sich bereits in der Renaissance als höchst effektiv. Diese Inspirationsquellen klug zu nutzen bekäme auch der heutigen Wirtschaft gut.

Farbe in Büro und Produktion! Gelebtes Cultural Entrepreneurship bringt Kunst und Wirtschaft zusammen und lässt neue Inspirationen entstehen.
Foto: © Krohne
Unter der Regentschaft der Medici ist im Florenz der Renaissance der entscheidende Funke zwischen Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft übergesprungen und hat zu einem außergewöhnlichen Begabungsschub beigetragen, so der schwedische Autor Frans Johansson. Die kreative Explosion, die im 14. und 15. Jahrhundert stattgefunden hat, bezeichnet er wie den Titel seines gleichnamigen Buches: Der Medici-Effekt.

Was macht den Medici-Effekt im Kern aus? Eine wesentliche Bedingung für die atemberaubenden künstlerischen Innovationen, die wir der Renaissance verdanken, ist für Johansson die Nähe zwischen ganz unterschiedlichen Feldern geistiger und praktischer Aktivität. Und worin besteht seine Übertragbarkeit auf die heutige Zeit? Innovation ist auch die Triebfeder der deutschen Wirtschaft und das Herz des deutschen Mittelstands.

Doch Innovationen - und ich rechne auch Gründungen mit einer neuen unternehmerischen Idee zur Gattung der Innovationen - sind nur möglich, wenn wir beginnen, multidirektional zu denken und zu handeln. Es gilt, neue "Sichtachsen" an Probleme anzulegen.

Raum für neue Ideen
Wo erfahren wir dies besser als in der Kunst! Sie erfindet sich stetig neu, schafft Realitäten und lebt das Experiment mit der Umwelt. Banal ausgedrückt, unternimmt sie immer neue Versuche, unsere Wirklichkeit und unsere Wahrnehmung zu verstehen. Dabei folgen Künstler zumeist eher ihrer Intuition als bereits bekannten Gesetzmäßigkeiten und sie bringen unterschiedliche Wissensgebiete, Erkenntnisformen und Praktiken zusammen. Schon Schumpeter, österreichisch-amerikanischer Ökonom, sagte 1911, dass es auf den Blick ankomme, auf die Fähigkeit, die Dinge in einer Weise zu sehen, die sich hinterher bewährt, auch wenn sie im Moment nicht zu begründen sei.

Einen solchen Blick, meine ich, sollten deutsche Wirtschaftsvertreter und solche, die es werden wollen, schulen, indem sie die Nähe und vor allem die Auseinandersetzung mit dem kreativen Schaffensprozess suchen. In dieser Atmosphäre eines "imaginären Ateliers" entsteht Raum für neue, nachhaltige Ideen, welche zukunftsbildend sein können.

Prof. Günter Faltin, Hochschullehrer und Unternehmensgründer der "Teekampagne", spricht in seinem Buch "Kopf schlägt Kapital" von einer inneren Verwandtschaft zwischen Firmen und Künstlern, einer analogen Geisteshaltung also. Die hier angedeutete Wechselwirkung besteht auf zwei Ebenen: Zunächst sind sich Künstler und innovative Unternehmer in gewisser Weise ähnlich, ihre Vorgehensweisen sind analog. Sie bedienen sich beide meist bekannter, jedoch bisher nicht miteinander verbundener Elemente und lassen daraus durch eine andere, neue Art und Weise der Zusammensetzung etwas Neues entstehen. Der Maler und Bildhauer Anselm Kiefer sprach in seiner ersten Vorlesung am Collège de France kürzlich von der Entstehung eines abstrakten Bildes aus der Transformation des Realen in die Kunst. Er sah die Notwendigkeit eines Kontrastes, eines Gegenstandes, "gegen den man sich denkt", gepaart mit bewusst hergestellter Konfusion, nämlich der Fähigkeit, alles mit jedem zu konfrontieren.

Innovation durch Transzendenz
Die Voraussetzung solcher Neuerungen ist die Fähigkeit zur Transzendenz. Sie bezieht ihre Anregungen aus zumeist gänzlich unverwandten Bereichen oder Interessensgebieten und der vertieften Auseinandersetzung mit ihnen. An der Schnittstelle zwischen diesen Bereichen - Johansson bezeichnet sie als Intersection, den Punkt also, in dem sich zwei zunächst voneinander unabhängige Technik-, Forschungs- oder Wahrnehmungsstränge treffen und in der Überlappung einen neuen Sinn ergeben - werden Aspekte der einzelnen Elemente sichtbar, die in ihrem ursprünglichen Kontext vermutlich als zu selbstverständlich unbemerkt geblieben wären. Die umfangreiche Forschung Leonardo da Vincis ist ein gutes Beispiel. Dieser bewegte sich gänzlich unbefangen zwischen der bildenden Kunst, der Medizin und seiner Tätigkeit als Ingenieur und brachte dabei grundverschiedene, radikal neue Innovationen hervor: Von der Erfindung eines Taucheranzugs über einen Gleitschirmflieger bis hin zu den ersten Versionen eines Autos sowie eines Helikopters.

Diese Intersection kann auch bewusst hergestellt werden. Prof. Axel Kufus von der Universität der Künste, UdK, in Berlin hat beispielsweise mit der Initiierung eines "Design-Reaktors" erstaunliche Ergebnisse erzielt: Er bat Künstler, sich um einen Roulette-Tisch zu versammeln, auf dem er verschiedenste Gegenstände, Produkte von insgesamt 52 grundverschiedenen High- und Lowtech-Unternehmen, verteilt hatte. Die Gegenstände reichten von einem Stück Mozzarella über Koffer bis hin zu einem aufgetunten Fahrzeug. Nach je zwei Drehungen des Roulettes bat er die versammelten Künstler, sich über die zwei angezeigten Gegenstände Gedanken zu machen. Das Ergebnis waren 52 gemeinsam entwickelte Prototypen, fünf Patentanmeldungen und zahlreiche Design-Preise.

Neue Sichtachsen, welche die Intersection ermöglichen, bedürfen jedoch eines Auslösers. An dieser Stelle kommt die zweite Ebene der Wechselwirkung zwischen Kunst und Wirtschaft zum Tragen: Die Auseinandersetzung mit Kunst. Diese fördert Neugier und die Fähigkeit, den eigenen Blick zu schulen, neue gedankliche Wege einzuschlagen und dabei denen des Künstlers näherzukommen. Kunst ist ein sehr hilfreicher Gegenstand, um die eigene Wahrnehmung zu schärfen und Anregungen zu gewinnen.

In der Firma des Großvaters der Autorin begegnen sich Kunst und Wirtschaft. Ihr kreativer Austausch ist der Wegbereiter für Innovationen.
Foto: © Krohne
Das Künstleratelier als Entwicklungsabteilung
Im Idealfall besitzen ein Künstleratelier und die Entwicklungsabteilung einer Organisation eine gewisse Ähnlichkeit. Ein aussagekräftiges Beispiel für eine gelungene Begegnung zwischen Kunst und Wirtschaft ist für mich die Firma KROHNE, die mein Großvater aufgebaut hat und die ich daher aus nächster Nähe kenne. Es wird seit nunmehr vier Generationen von Mitgliedern der Familie geführt und gilt als einer der wenigen innovativen Mittelständler, die sich ob der Anzahl der angemeldeten Patente nach wie vor erfolgreich gegen global agierende Marktriesen in derselben Branche durchsetzen können. Das Unternehmen hat seinen Mitarbeitern auch in der jüngsten Finanzkrise einen festen Arbeitsplatz bieten können und zeigt bei überdurchschnittlicher Eigenkapitalquote und kontinuierlichem Wachstum eine gesunde Unabhängigkeit gegenüber Kapitalgebern und der Konkurrenz. Das Konzept der Nachhaltigkeit wird hier aktiv gelebt.

Der entscheidende Motor, der dieses Unternehmen antreibt, ist Innovation: Kontinuierliche Innovation wird hier stetig durch marktverändernde Innovationen ergänzt. Es ist aus meiner Sicht kein Zufall, dass dieser Betrieb in der entscheidenden Aufbauphase von dem Künstler Kristian Rademacher-Dubbick geleitet wurde. Er hatte es sich seit Anbeginn seiner Tätigkeit im Unternehmen zur Aufgabe gemacht, Kunst zu sammeln und diese nicht nur in den Büroräumlichkeiten, sondern auch in den Fertigungshallen zu zeigen.

Es ist anzunehmen, dass die künstlerische Auffassung dieses Unternehmers, gepaart mit der natürlichen Bereitschaft, Kunden, Techniker und immer wieder auch Künstler an einen Tisch zu bringen, Grundlage einer durch und durch innovativen Unternehmenskultur geworden ist.
Rigide Strukturen werden durch die Informalität der Kunst gebrochen, Neugierde entsteht und gleichzeitig mit ihr auch neue Perspektiven als Wegbereiter für Innovation.

Eine gelungene, solide Firma, die durch die Kreativität und den Geist eines Unternehmers gestaltet wird, gleicht in gewisser Weise einem Kunstwerk. Die unterschiedlichsten Elemente der Forschung, Entwicklung und des Umgangs mit Menschen werden, von einer Vision getragen, harmonisch ineinander verwoben. Die Voraussetzungen dafür sind nur bedingt durch reine Managementliteratur erlernbar.

"Mit einem Blick auf das, was der Umgang mit Künstlern und Kunst mir bedeutet hat, stimme ich ein weiteres Mal jenem zu: 'Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.'", so die Worte von Kristian Rademacher-Dubbick.

Seiner Form nach ist dieses Unternehmen eine moderne Umsetzung des Medici-Effekts, wenn man sich Johanssons Erkenntnis anschließt:

"Ein Renaissance-Mensch erkennt Trends und integriert sie in sein Wissen. Für mich ist er neugierig und an den unterschiedlichsten Dingen interessiert. Man muss bereit sein, Zeit zu "vergeuden" (investieren) für Dinge, die nicht unmittelbar relevant für die eigene konkrete Arbeit sind, die man aber aus Neugierde tut. Dann ist man auch fähig, die Erkenntnisse in die eigene Arbeit zurückfließen zu lassen." *

Wirtschaftliches Unternehmertum à la Medici ist also nicht nur erfolgreich, es macht auch Spaß!
 
 
Von Jeannette Prinzessin zu Fürstenberg


*Johansson, F. (2006), The Medici Effect - What Elephants and Epidemics can teach us about Innovation, Boston, S. 76.

Quelle:
Wirtschaft | CSR & Strategie, 26.01.2012

     
        
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