Ich + Ich + Ich = Wir
Warum wir eine Kultur des Du brauchen

Gefäß der Sehnsucht
So jedenfalls geht die Kunde. Das »Wir« ist in aller Munde und alle Munde lächeln, so sie dieses unscheinbare Wort über die Lippen bringen. »Wir«, das klingt gut, denn diese drei Buchstaben eignen sich gut als Gefäß für all das, wonach der Mensch der Gegenwart sich sehnt: Gemeinschaft, Verbundenheit, Zugehörigkeit – das Gegenprogramm zu einer schmerzlich empfundenen Realität, die Menschen zu partikularen Elementarteilchen isoliert, die beziehungslos und entfremdet durch ein sinnleeres Raumzeit-Kontinuum schweben und sich dort auf dem Marktplatz des Lebens im fortwährenden bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen aller, Thomas Hobbes) behaupten müssen. Wie gut klingt da das Wörtchen Wir!
Ironisch? Nein. Vieles spricht dafür, dass die Propheten des neuen Wir Recht behalten werden. Die Menschheit des frühen 21. Jahrhunderts steht in der Tat an einem Scheideweg, über dessen Portalen hier »Untergang« und dort »Verbundenheit« geschrieben steht; oder hier »Weiter so, Ego!« und dort »Wir«. Noch ist nicht ausgemacht, wohin die Menschheits-Karawane ziehen wird, doch die Wegweiser mehren sich, die in Richtung »Verbundenheit« weisen. Ermutigend ist, dass deren wichtigste von der Wissenschaft gezimmert wurden, sind es doch die avancierten Biologen und Physiker, die Systemtheoretiker und Kybernetiker, auch die kühnen Psychologen und Hirnforscher, ja auch manche Philosophen und Sozialwissenschaftler, die an einem neuen Denken stricken: dem Paradigma der Verbundenheit. Denn alles, was wir zuletzt über die großen Muster des Kosmos und des Lebens in Erfahrung brachten, weist in eben diese Richtung: Leben ist Verbundenheit, Sein ist ein Beziehungsspiel, Natur ist eine Symphonie, Menschsein ist ein Gespräch. Warum also nicht Ernst damit machen? Warum nicht ein wirkliches, lebendiges Leben wählen statt länger in den Todräumen der alten Ego-Welt zu versauern?
Die Wüste wächst
Weil noch immer zu viele von den faulen Früchten dieser Ego-Welt proftieren? Weil aller Wandel schwer ist? Weil es bequemer ist, in der vermeintlichen Sicherheit des Getrenntseins zu leben als in der Wahrheit der Verbundenheit? Weil das Ego Angst hat, sich dem fremden und unheimlichen Anderen auszu- liefern? Der Gründe mögen viele sein. Fest steht, dass die Wüsten weiter wachsen, die Todräume auf Erden sich noch immer ausdehnen und wahre Lebendigkeit immer seltener wird. Fest steht, dass wir unsere Welt noch immer nicht nach Maßgabe des Willens zur Lebendigkeit einrichten, sondern nach Maßgabe des Willens zur Macht. Ego statt Wir.
Wird es sich ändern? Vielleicht. Die Wegweiser zeigen in Richtung Wir, doch ob es gelingen wird, die Schwelle in die Welt der Verbundenheit und Lebendigkeit zu überschreiten, ist ungewiss. Denn das Wir, das so leuchtend über dem Portal der Zukunft strahlt, ist ein schillerndes Wort. Bei näherer Betrachtung nämlich ist »Wir« mitnichten der Messias, sondern ein doppelgesichtiger Dämon, den durchschauen muss, wer nicht von ihm verführt sein möchte. Ob er sein finsteres Gesicht zeigt oder als himmlischer Bote den Weg in eine neue Ära weisen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie wir uns zu ihm verhalten werden.
Super-Ego oder Beziehungsgeflecht?
Denn was ist Wir? Ist Wir die Summe von Ich+Ich+Ich+Ich? Oder ist Wir die Summe von Ich+Du+Du+Du? Die Frage klingt trivial, ist aber grundstürzend, weist sie doch auf einen einfachen Umstand: Wir lässt sich einerseits denken als die Addition einer Reihe von Egos, die sich – aus welchen Gründen
auch immer – zu einem Super-Ego assoziieren. Und Wir lässt sich andererseits denken, als das Beziehungsgeflecht von Menschen, die einander verbindlich sind, einander in Anspruch nehmen und einander verantwortlich wissen. Hört man die heutigen Propheten der neuen Ära des Wir, dann besteht Grund zur Sorge, hier werde das Wir der ersten Art pro- pagiert: das Wir des Egos – ein Wir des Ichs, worin sich der Ungeist der alten Zeit eine neue Bastion sucht, von der aus er seiner Gier, seinem Willen zur Macht und seiner Ignoranz gegenüber dem Leben weiter frönen kann.
Wir allein ist noch nicht gut. Das lehrt das 20. Jahrhundert. Wie viel Wir wurde dort propagiert, und wie viel Unheil wurde dort im Namen des Wir verbreitet! Ob das völkische Wir oder das sozialistische Wir – stets scharten sich Menschen um eine geteilte Ideologie, verbunden durch geteilte Gier, vereint durch den geteilten Willen zur Macht, vernetzt durch eine geteilte Angst. Ich+Ich+Ich+Ich … - befeuert durch den Wahn, durch pure Summation das eigene Ich ins Unermessliche zu steigern.
Warnung vor dem Ego-Wir
Haben wir daraus gelernt? Lauert das hungrige Ich heute nicht mehr in den Kammern der Wir-Propagandisten? Sind die unheilvollen Gefahren des völkischen Wir allein dadurch gebannt, dass man heute vom planetarischen oder »weltzentrischen« Wir spricht – und das Ganze womöglich mit einer pseudomystischen »Wir sind alle Eins«-Spiritualität garniert, die dem Menschen einflüstert, er sei in Wahrheit der eine Gott?
So wahr es ist, dass die Zukunft des Menschen im Geist der Verbundenheit liegt, so sehr sollten wir auf der Hut sein, nicht dem Gespenst des Ego-Wir zu erliegen. Denn so ist es nun einmal: Wo Rettung ist, wächst auch die Gefahr. Eine Warnung vor dem Ego-Wir scheint unerlässlich.
Ich-Es oder Ich-Du?
In jedem Wir wohnt stets ein Ich. Wer aber ist dieses Ich? Ist es das Ich, das sich gegen andere behaupten muss? Ist es das Ich, das die Welt gebraucht, benutzt und verbraucht? Ist es das Ich, das der Philosoph Martin Buber in seiner 1923 erschienenen Schrift »Ich und Du« das Ich-Es nannte: das Subjekt, das alles andere als einen Gegenstand erkennt, der ihm zu Gebote steht? Ist es das Ich, das die Welt und die Menschen um sich herum zum Es oder Etwas versachlicht, um sie umso besser seiner Geschäftigkeit und Betriebsamkeit unterwerfen zu können? Ist es das Ich, das andere Ich-Es braucht, um seine Meinungen durchzusetzen, seine Ideologien zu verfechten, seine Visionen zu realisieren
– und wenn es die Vision einer »Welt des Wir« ist?
Oder ist es das Ich, das Buber das Ich- Du nannte? Ein Ich, das sich unter den Anspruch des Anderen stellt; das den, die oder das Andere gerade nicht gebraucht, nicht verbraucht, nicht konsumiert? Ein Ich, das seine Verantwortung darin sieht, dem Anspruch des Anderen zu genügen, sich nach seiner Maßgabe formen zu lassen? Ein Ich, das Verbundensein als Freiheit versteht, weil es weiß, dass ihm nur aus dem unbedingten Anspruch des Anderen die eigene Identität und Bestimmung erwächst? Ein Ich, das das Göttliche gerade nicht in den Tiefen der eigenen Seele sucht, sondern in der Gegenwart des Anderen?
Lebendigkeit ist Begegnung
»Wer Du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung«, sagte Martin Buber. Und: »Al- les wirkliche Leben ist Begegnung«. Alles unwirkliche Leben ist Gebrauch, könnte man in seinem Sinne ergänzen. Und woran denken wir, wenn wir Wir sagen? An die bedingungslose Begegnung mit dem Anderen – um die Aufgabe aller Ansprüche, die wir selbst ans Leben stellen, um uns ganz in die Gegenwart des Anderen zu geben? – Eher nicht, will mir scheinen. Eher wohl doch an die Assoziation wollender Egos, die gemeinsame Sache machen, nicht aber dem Eigene-Sachen-Machen um des Sein-Lassens-des-Anderen willen abschwören. Aber das ist kein wirkliches Wir. Auch dann nicht, wenn die gemeinsame Sache, die zu machen ist, eine globale Wir-Kultur ist. Es ist ein verführerisches Wir, dass das Du nicht kennt: Ich+Es+Es+Es – was gleichbedeutend ist mit: Ich+Ich+Ich+Ich …
Wirkliches Leben kommt vom Du
Vor jedem echten Wir kommt Du. Wirkliches Wir ist die Beziehung von Ich und Du. In ihr ist gar nichts falsch am Ich. Im Gegenteil. Ohne Ich gibt es kein Wir. Aber das wirkliche Ich sieht zuerst das Du. Um dann im Spiegel dieses Du zum Ich zu werden. »Der Mensch wird am Du zum Ich«, um nochmals Buber zu bemühen. Denn das wirkliche Leben kennt nur Ich und Du – das abstrakte Wir der »Wir-Kultur« ist ihm fremd, denn es spielt in der Konkretion der Begegnung. Nicht eine geteilte Ideologie, nicht eine geteilte Vision stiftet wirkliche Verbundenheit, sondern allein das konkrete Antlitz des Anderen. In der Begegnung von Ich und Du gedeiht das Wir, das seinen Namen wirklich verdient.
Und dieses Wir ist kein Ding, keine Sache, keine Idee – es ist ein Ereignis, ein Gespräch, eine Konversation: das Spiel von wechselseitiger In-Anspruchnahme und verantwortlicher Antwortgabe. In diesem dialogischen Spiel gedeihen Lebendigkeit und Verbundenheit. In ihm entspricht der Mensch der Wahrheit des Lebens, die da lautet Verbundenheit. In ihm lebt er naturgemäß.
Wir braucht persönliche Begegnung
Doch davon sind wir weit entfernt. Und entfernen uns immer weiter, wenn wir die Räume und Zeiten für Begegnung immer mehr reduzieren. Es ist kein gutes Zeichen, wenn die Protagonisten der Wir-Kultur sich in Elogen auf die neuen Kommunikationsformen des Internet ergehen. Soziale Netzwerke sind alles andere als Begegnungsräume von Ich und Du. Vielmehr sind sie Manifestationen und Symbole jenes unwirklichen Wir, vor dem zu warnen das Gebot der Stunde ist. Denn hier wird unausgesetzt das Fundament unterspült, auf dem die noch ungebaute Kathedrale der neuen Wir-Kultur errichtet werden müsste: die persönliche Begegnung – die konkrete in Anspruchnahme durch die leibliche und persönliche Gegenwart des Anderen. Wer andere nur als digitale Zeichensätze erfährt, wird sie nie als ein Du gewahren. Denn Du ist immer leibhaftig, gebrechlich, verletzlich. Ein Facebook-Profl ist das nicht. ES, verstrickt im Netzwerk aus lauter Ich-Es. Keine Verbundenheit, kein Du. Gespenster.
Die Zukunft des Menschen ist das Wir. Wirkliches Wir aber duldet keine Digitalisierung. Wirkliches Wir braucht konkrete Begegnung. Wirkliches Wir ist Ich+Du. Nichts anderes. Dafür müssen wir Räume schaffen. Räume, in denen am konkreten Du des Anderen ein echtes Ich wachsen kann – ein kreatives Ich, das in Verbundenheit mit seinem Du die Welt verändern wird – ein starkes Ich, das nicht die Assoziation mit einem abstrakten Wir braucht, um sich durchzusetzen – ein mutiges Ich, das die Verantwortung annimmt, die ihm vom Leben zugewiesen ist – ein Ich, das sich dazu entscheidet, Du zu sein und Wir zu werden. //
Auszug Martin Buber »Ich und Du« (1923)

Martin Buber (1878–1965) war einer der großen jüdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts. In seiner Jugend hatte Martin Buber die Tradition der jüdischen Mystik der Chassidim kennengelernt und hatte mit großer Begeisterung deren Weisheitsgeschichten gesammelt. Später wagte er sich gemeinsam mit Franz Rosenzweig an eine sprachgewaltige Neuübersetzung des Alten Testaments. Sein Hauptwerk aber ist sein religionsphilosophisches Buch »Ich und Du« von 1923.
Gesellschaft | WIR - Menschen im Wandel, 01.12.2014
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2014 - Green Tech als Retter der Erde erschienen.

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