Das kommt gar nicht in die Tüte
forum-Interview mit Thomas Fischer, Deutsche Umwelthilfe e.V.
Mit den über 6 Milliarden Plastiktüten, die allein in Deutschland jährlich
verbraucht werden, könnte man die Erde 46 Mal (!) umwickeln. Von einem Kunstwerk
à la Christo ist das weit entfernt! forum sprach mit Thomas Fischer, dem Leiter
Kreislaufwirtschaft der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH).
Die 28 Mitgliedstaaten der EU haben geschlossen für eine Begrenzung des
Plastiktütenverbrauchs gestimmt. Gibt es schon erste Maßnahmen?
Das politische Signal aus Brüssel ist ernst zu nehmen. Die neue Richtlinie gibt den EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit, verbindliche Verbrauchsziele pro Kopf und Jahr vorzugeben oder Plastiktüten mit einer Steuer oder Abgabe zu belegen.
Die Ziele sind so definiert, dass bis zum 31. Dezember 2019 nur noch maximal 90 Plastiktüten und bis Ende 2025 40 Plastiktüten pro Kopf und Jahr verbraucht werden dürfen. Wie genau dieses Ziel erreicht werden soll, lässt die EU-Kommission weitestgehend offen und räumt den EU-Ländern damit viel Spielraum ein. Die Verabschiedung der Richtlinie gilt nur noch als Formalie. Danach beginnt ihre Umsetzung in nationales Recht.
Welche Schwächen hat die neue Richtlinie?
Problematisch ist die Festlegung des Regelungsbereichs. Sie bezieht sich nur auf
Tüten mit einer Wandstärke von weniger als 50 Mikrometer (0,05 Millimeter).
Geringfügig dickere Tüten, die noch immer einen Einwegcharakter aufweisen,
werden von der Rechtsnorm nicht umfasst. In der Konsequenz können
Plastiktütenhersteller die Wandstärke ihrer Produkte erhöhen, um aus der
Regelung herauszufallen. Deshalb sind die EU-Mitgliedstaaten gut beraten, über
die Anforderungen der EU-Richtlinie hinauszugehen und durch nationale Regelungen
den Verbrauch sämtlicher Einwegtüten zu verringern.
Wie ist die Ausgangslage in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern?
In Deutschland werden jährlich 6,1 Milliarden Plastiktüten verbraucht. Das
entspricht einem Konsum von 11.700 Tüten pro Minute und 76 Stück pro Kopf und
Jahr. Je Bundesbürger fallen jährlich 1,5 Kilogramm Abfall nur durch
Plastiktüten an. Das entspricht einer Menge von 126.000 Tonnen Kunststoff und
mehr als 200.000 Tonnen Rohöl. Absolut gesehen ist Deutschland neben Italien,
Großbritannien und Spanien der viertgrößte Verbraucher von Plastiktüten in
Europa. Was den Pro-Kopf-Verbrauch angeht, befindet sich Deutschland im
Mittelfeld. Staaten wie Irland, Dänemark oder Finnland liegen jedoch weit
unterhalb des deutschen Jahresverbrauchs von 76 Tüten. In Irland werden pro Jahr
nur noch 16 Tüten je Einwohner verkonsumiert. Vor der Einführung einer Abgabe in
Höhe von 22 Cent waren es noch 328 Stück. Die Abgabe ist also ein sehr
effizientes und wirksames Instrument zur Vermeidung von Plastiktüten.
In Deutschland wurde dagegen vom Handel und von der Politik kaum etwas getan, um
den Plastiktütenverbrauch signifikant und dauerhaft zu reduzieren. Dies ist auch
der Grund, warum in den vergangenen Jahren der Durchschnittsverbrauch jedes
Deutschen von 65 Tüten pro Jahr auf 76 Stück angestiegen ist. In weiten Teilen
des Einzelhandels werden Plastiktüten nach wie vor kostenlos an die Kunden herausgegeben.
Dies führt zu einem unreflektierten und ungehemmten Konsum. Diesen ineffizienten
Umgang mit Ressourcen und die Belastung der Umwelt kann sich keine Gesellschaft
mehr leisten.
Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es für Politik, Handel und Verbraucher?
Die Schwemme an Gratis-Plastiktüten kann jeder tagtäglich im Textil-, Schuh-,
Buch-, Spielwaren- und Schreibwarenhandel sowie in Apotheken, Kaufhäusern,
Drogerien, Parfümerien, Bäckereien, Confiserien und an vielen weiteren
Verkaufsorten beobachten. Da der Handel nicht willens zu sein scheint, den
Plastiktütenverbrauch eigenständig zu reduzieren, ist Umweltministerin Barbara
Hendricks gefordert, durch die Einführung einer Abgabe von mindestens 22 Cent
alle Plastiktüten etwas kosten zu lassen. In Irland führte diese Maßnahme, wie
bereits erwähnt, zu einer Verringerung des Plastiktütenverbrauchs um über 95
Prozent innerhalb eines Jahres.
Unabhängig von politischen Maßnahmen kann der Handel einiges tun, um
Verbrauchern den Umstieg von Einweg-Plastiktüten auf umweltfreundliche
Mehrweg-Tragetaschen leicht zu machen. Um den Gebrauch von Plastiktüten zu
vermeiden, ist in einem ersten Schritt das Angebot von Permanent-Tragetaschen
wichtig. Diese sollten an den Kassen so platziert sein, dass sie von den Kunden
als erstes wahrgenommen werden. Auch ein ansprechendes Design von Mehrwegtaschen
kann deren Nutzung fördern. Das Angebot von Designertaschen des Modestars Karl
Lagerfeld führte bei der britischen Supermarktkette Marks & Spencer zu einem Run
auf wiederverwendbare Taschen. Neben größeren Mehrweg-Modellen für den geplanten
Einkauf sollten auch solche für den Spontaneinkauf angeboten werden.
Zusammenfaltbare Polyesterbeutel mit einem Gewicht von nur zwanzig Gramm passen
in jede Jackentasche und können problemlos hunderte Male wiederverwendet werden.
Durch Bonuspunktemodelle oder Rabattgutschriften kann die Nutzung von
Mehrwegtaschen oder der Verzicht auf Tüten zusätzlich gefördert werden.
Pfandmodelle werden bei der Drogeriekette dm erfolgreich eingesetzt: Kunden
bezahlen einmalig einen Betrag von zwei Euro für eine Mehrwegtasche und können
diese nach ihrem langen Produktleben an der Kasse gegen eine neue eintauschen.
Last but not least sollte der Handel Produkte nur dann in Tüten packen, wenn der
Kunde dies ausdrücklich verlangt. Überprüfen Sie das mal selbst – zum Beispiel
im Buch- oder im Geschenkeladen: Noch während Sie bezahlen wird ein bereits in
Plastik eingeschweißtes Buch nochmals in eine Mini-Tragetüte gesteckt. Hier
sollten Verbraucher freundlich darauf hinweisen, dass sie diese Tüte gar nicht
benötigen und damit eine Verhaltensänderung auf beiden Seiten beschleunigen.
Wie hoch ist der Anteil der Plastiktüten am weltweiten Müll?
Was das Gewicht angeht, machen Plastiktüten einen verhältnismäßig kleinen Anteil
des gesamten Abfallaufkommens aus. Dies darf jedoch nicht darüber
hinwegtäuschen, dass nicht nur das Gewicht des Abfalls ausschlaggebend ist,
sondern vor allem dessen Entsorgung. Viele Plastiktüten werden noch immer
achtlos in der Natur weggeworfen – besonders in urbanen und touristischen
Regionen. Jedes Jahr gelangen so 10 Millionen Tonnen Müll in die Ozeane. Mehr
als die Hälfte davon besteht aus Plastik, meistens handelt es sich dabei um
Kunststofftüten.
Welches sind die Auswirkungen des Plastikmülls auf die Gewässer?
Allein in der EU werden jährlich mehr als 100 Milliarden Plastiktüten
verbraucht. Durch den Wind oder über Flüsse gelangen viele davon ins Meer, wo
sie sich langsam in kleine Teile zersetzen. Das zerstört nicht nur Ökosysteme,
sondern kostet jährlich über einer Million Meeressäugetieren, Schildkröten und
Seevögeln das Leben, welche die im Wasser wie Quallen aussehenden Plastiktüten
fatalerweise für Nahrung halten.
Sind Bio-Kunststoffe die Lösung?
Biologisch abbaubare Plastiktüten sind keine Lösung, weil sie sich unter den in
der Umwelt vorkommenden Bedingungen ähnlich langsam abbauen wie herkömmliche
Kunststoffe. Ihre biologische Abbaubarkeit bezieht sich in der Regel auf
industrie-technische Bedingungen, die in der Natur nicht gegeben sind. Für einen
Vogel, der an einer verschluckten Plastiktüte verendet, spielt es deshalb keine
Rolle, ob es sich um Bioplastik oder herkömmlichen Kunststoff handelt.
Bio-Kunststofftüten weisen durch deren Herstellung aus landwirtschaftlich
angebauten Energiepflanzen zudem einen großen ökologischen Rucksack auf. Ein
Austausch des klassischen Plastiktütenmaterials Polyethylen durch die
Biokunststoffe Polymilchsäure oder Maisstärke würde außerdem nichts am
unreflektierten Verbrauch von Milliarden Plastiktüten ändern.
Sie organisieren für die DUH Schulwettbewerbe, Tütentauschtage und sogar einen
Weltrekordversuch…
Im September 2014 fand auf dem Tempelhofer Feld in Berlin das weltweit größte
Event gegen Plastiktüten statt. Mehr als 3.000 Besucher des Umweltfests der
Stiftung Naturschutz Berlin (SNB) hielten gegen den ausufernden Tütenkonsum ein
neun Kilometer langes Band aus 30.000 Einwegtüten in die Luft und stellten den
bisherigen, durch GUINNESS WORLD RECORDS anerkannten Weltrekord der längsten
Plastiktütenkette auf.
Durch öffentlichkeitswirksame Aktionen machen wir gemeinsam mit Partnern auf den
übermäßigen Plastiktütenverbrauch aufmerksam und erhöhen damit den
Handlungsdruck auf die Politik und den Handel. Aber auch die Information von
Verbrauchern über Umweltauswirkungen von Plastiktüten und die Nutzung
ökologischer Alternativen spielt eine wichtige Rolle. Tütentauschtage vor den
größten Shopping-Malls von Berlin, das Angebot von Informationsflyern oder
Seminare für Einzelhändler sind nur einige Maßnahmen. Durch eine gemeinsame
Petition mit der Berliner Studentin Stefanie Albrecht konnte die Deutsche
Umwelthilfe mehr als 120.000 Bürger mobilisieren, für die Einführung einer
Plastiktütenabgabe zu stimmen. Die Unterschriften wurden am 19. Januar 2015 dem
Staatssekretär des Bundesumweltministeriums, Florian Pronold, überreicht.
Sie haben eine Sonderausstellung über Plastikmüll im Meer organisiert, die bis
Ende Dezember in Berlin zu sehen war. Wie waren die Reaktionen? Was hat am
meisten überrascht?
Die Reaktionen auf die Ausstellung waren überwältigend. Für viele Bürger war es
überraschend zu erfahren, wie viele Milliarden Plastiktüten in Deutschland
tatsächlich verbraucht werden und welche Menge Plastikabfall den Weg in unsere
Ozeane findet. Rund ein Drittel des im Meer befindlichen Abfalls sammelt sich in
riesigen Strudeln an. Der große pazifische Müllstrudel ist die größte Müllkippe
der Erde und zwei Mal so groß wie Deutschland. Durch den Abbau des Plastiks in
Mikropartikel nehmen viele Tiere winziges Mikroplastik über die Nahrung und die
Kiemen auf und am Ende landen die Plastiktüten auch auf unseren Tellern, wenn
wir Fisch oder Meeresfrüchte essen. Eine beunruhigende Vorstellung für fast alle
Besucher.
Was möchten Sie unseren Lesern mitgeben?
Das politische Signal aus Brüssel zur Reduzierung des Plastiktütenverbrauchs ist
stark. Die EU wird noch in diesem Jahr eine Regelung auf den Weg bringen, die
auch in Deutschland zu Veränderungen führen wird. Die regelmäßige Verwendung
einer einzigen Mehrwegtasche kann hunderte Plastiktüten ersetzen. Der Handel ist
deshalb gut beraten, bereits jetzt Maßnahmen zur Tütenvermeidung umzusetzen. Der
Verzicht auf die kostenlose Herausgabe von Plastiktüten und das Angebot
attraktiver Mehrwegtaschen sind die leichtesten und häufig auch ersten Schritte
weg von der Plastiktüte. Dies bietet Unternehmen die große Chance, die
Ernsthaftigkeit eigener Umweltansprüche und Nachhaltigkeitsstrategien zu
untermauern und Kosten zu reduzieren. Als langlebiger Werbeträger führen modern
designte Mehrwegtaschen zu einem hohen Identifikationspotenzial sowie im
alltäglichen Gebrauch zu einem häufigeren Kontakt mit der Marke. Die Botschaft
ist klar: Mehrweg statt Einweg!
Weitere Informationen:
Thomas Fischer
ist Umweltwissenschaftler und Leiter der Abteilung Kreislaufwirtschaft bei der
Deutschen Umwelthilfe e.V. www.duh.de
Umwelt | Ressourcen, 01.10.2015
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2015 - Ertrinken wir in Plastik? erschienen.
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