Kämpfer für das gute Leben

Christoph Quarch im Gespräch mit Alberto Acosta

Als Politiker hat Alberto Acosta die indigene Idee des »Buen Vivir« – des gu­ten Lebens – in seiner Heimat Ecuador hoffähig gemacht. Heute streitet der Wirtschaftswissenschaftler dafür, weltweit die Rechte der Natur zu ko­difizieren und fordert die »Entmark­tung« der Gemeingüter.
 
Der Visionär Alberto Acosta © Christoph QuarchDer Mann hat in die Welt geblickt. Und nicht nur das. Er blickt auch in das Herz der Menschen. Sein Auge verrät dies. So schaut nur einer, der angstfrei hinzusehen bereit ist: einer, der an den Menschen glaubt und deshalb auch den Mut aufbringt, das Gute in den anderen zu sehen. So schaut nur einer, der vertraut – auch darauf, dass es möglich ist, die Welt zu ändern. So schaut nur einer, der Visionen hat und sich in seiner Hoffnung nicht beirren lässt. So schaut Alberto Acosta.
 
Er kommt aus Ecuador – einem Land, das eine wechselhafte Geschichte aufzuweisen hat. Ganz wie er selbst. Er diente seinem Land als Minister für Energie und Bergbau sowie als Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung von 2007/2008. Viel Glück war dem Wirtschaftswissenschaftler als Politiker zwar nicht beschieden, doch hat er seinen Einfluss auf die neue Verfassung des Andenstaates geltend machen können. Und dieser Einfluss verrät etwas von dem Weitblick und der Menschenliebe, die Alberto Acosta eigen sind – vor allem von dem Geist der Ureinwohner Ecuadors, dem er sich als Politiker und Wissenschaftler verpflichtet weiß: dem Geist des »Sumak Kawsay« – spanisch: des Buen Vivir – deutsch: des guten Lebens.
 
Leben in Harmonie
Ihm hat der heute 67-Jährige sein neuestes Buch gewidmet. Gefragt, zu welchen Worten er den Geist des Buen Vivir verdichten würde, antwortet er in seinem makellosen Deutsch, das sich seiner Studienzeit in Köln verdankt: »Unter Buen Vivir verstehen wir ein Leben in Harmonie: der Mensch in Harmonie mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und mit der Natur.« Und er ergänzt: »Es ist nicht schwer, sich ein Leben vorzustellen, in dem wir statt auf Macht, Gier, Akkumulation und Wettbewerb auf Solidarität, Gemeinschaft, Suffizienz und Nachhaltigkeit bauen.« Denn immerhin entspreche das dem eigentlichen Sein der Menschen. Denn der sei entgegen dem herrschenden ökonomischen Paradigma nun gerade kein Einzelkämpfer und auch kein Robinson Crusoe, sondern ein Beziehungswesen, dem es wesentlich ist, in Gemeinschaft zu leben. Deswegen bedeute Buen Vivir Harmonie, Gemeinschaftlichkeit und Solidarität.
 
Ich möchte es genauer wissen und frage ihn, woran sich Solidarität für ihn bemisst. »Daran, dass kein Mensch Hunger leiden muss«, kommt seine Antwort postwendend, »dass jeder ein Zuhause hat, dass es für alle Bildung und Erziehung gibt«. Vor allem aber ist ihm wichtig, dass sich der Mensch darauf versteht, mit der Natur im Einklang zu leben: »Wir müssen endlich begreifen, dass wir nicht nur ein Teil der Natur sind, sondern dass wir selbst Natur sind.« Es brauche dringend einer »Entmarktung der Natur«, fordert er. Das zu begreifen und danach zu leben, erfordere einen grundlegenden zivilisatorischen Wandel.
 
Rechte der Natur
Wer wollte das bezweifeln, halte ich ihm entgegen, aber wie soll das gehen? Seit einigen Jahrhunderten bildet sich der Mensch ein, als »Herr und Meister der Natur« die Erde nach seiner Willkür ausbeuten und plündern zu dürfen. Woher nimmt da ein Alberto Acosta die Hoffnung, es könne anders werden? »Ich nehme sie von unseren Ureinwohnern«, überrascht mich seine Antwort. Und nun erzählt er von dem Kampf der indigenen Völker, von ihrem zähen Ringen um Schutz für ihre angestammte Heimat und von ihren ersten Erfolgen, die heute in Ländern wie Bolivien und Ecuador erkennbar seien. Dort nämlich habe man in den nationalen Verfassungen die »Rechte der Natur« verankert; was unter anderem bedeutet, dass Wasser nicht privatisiert werden darf. Das sei von großer Wichtigkeit.
 
 »Jahrhundertelang hat der Mensch die Natur als ein Objekt verstanden, mit dem er tun und lassen kann, was er will«, erklärt er. »Dadurch hat er all die enormen Schäden verursacht, die heute überall und allenthalben sichtbar sind.« Das müsse ein Ende haben. Der Mensch müsse akzeptieren, dass er nicht »die Krone der Schöpfung« ist, wie der weiße Mann aus religiösen Gründen lange Zeit behauptet hat. Vielmehr gelte es einzusehen, dass er infolge des globalen Kapitalismus zur »Krone der Erschöpfung« mutiert sei. Und genau dagegen begehren nun die Indigenen auf.
 
Gegen den Entwicklungs-Mythos
'Die Indigenen verstehen sich als ein mit der Natur. Für sie ist klar, dass wir uns selber schädigen, wenn wir die Natur zerstören.' © Christoph QuarchAlberto Acosta arbeitet seit Jahren eng mit der indigenen Bevölkerung zusammen. Heute bewundert er nicht nur das teilweise Jahrtausende alte Wissen dieser Ethnien, er hat es sich auch zum politischen Programm gemacht – genauer: Er hat den Impuls der indigenen Gemeinschaften aufgegriffen, als diese um das Jahr 2000 herum mit neuem politischen Selbstbewusstsein aufgetreten sind. Jahrhundertelang hatten die Europäer die Indios unterdrückt und ausgebeutet, seither aber erheben sie immer lauter ihre Stimme. Der Wahlsieg von Evo Morales in Bolivien sei gleichzeitig Frucht und Ansporn dieser Bewegung.
 
Möglich geworden sei dies infolge der großen ökonomischen und moralischen Krisen der jüngeren Vergangenheit, die vielen Südamerikanern die Augen dafür geöffnet haben, dass der 1949 erstmals von Henry Truman propagierte »Entwicklungstraum« von der Überwindung der globalen Armut durch Fortschritt nicht funktioniert. »Entwicklung«, sagt er, »ist ein wie Gespenst, dem alle nachlaufen, obwohl es gar nicht existiert«. Diesen Spuk gelte es zu bannen. Man müsse damit aufhören, vermeintlich »Primitive« entwickeln zu wollen. Vielmehr sei es an der Zeit, von den »Unterentwickelten« zu lernen.
 
Stimme der Indigenen
Zwar sei er weit davon entfernt, die indigenen Völker zu idealisieren, doch dürfe man die Augen nicht davor verschließen, dass diese Menschen über einen gewaltigen Schatz an Werten, Erfahrungen und Praktiken verfügen, die der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts von größtem Nutzen sein könnten. Deshalb habe er es sehr begrüßt, dass in Ecuador Vertreter indigener Gruppen die politische Bühne betreten und ihre Werte und Weltanschauung vorgestellt haben. Das, erzählt Acosta, habe ihn von Anfang an inspiriert.
 
Seine politische Herkunft hat Alberto Acosta in den sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen seines Heimatlandes Ecuador. Seit 1992 – dem Jahr, in dem des 500. Jahrestages der »Entdeckung« Südamerikas gedacht wurde – hat er dann mehr und mehr die Nähe zu den indigenen Gruppen gesucht. Er war beeindruckt von der Kraft, mit der die Ureinwohner ihre Stimme erhoben; wie sehr sie bewegt waren von der Idee einer Wiedererneuerung des indigenen Lebens nach einer Zeitspanne von 500 Jahren. So fasziniert war Acosta damals, dass er sich der Pachakutik-Partei der Indigenen Ecuadors anschloss, als deren Repräsentant er 2013 für das Amt des Staatspräsidenten kandidierte.
 
Kampf gegen die Erdöl-Multis
Besonders einschneidend und lehrreich war für ihn die Erfahrung der Jahre 2007 bis 2013. Seit Anfang der 1970er Jahre, erklärt er, wird in Ecuador Erdöl gefördert – vor allem im Amazonasbecken. »Die Auswirkungen der Ölförderung«, sagt er, »sind schockierend: Wasser und Luft sind verschmutzt, die Erosion schreitet ungebremst voran und zwei in den Fördergebieten heimische Völker sind ausgerottet worden. Das ist niederschmetternd – zumal erwiesen ist, dass die Förderung von Erdöl nichts zur Entwicklung Ecuadors beigetragen hat.«
 
Vor diesem Hintergrund formierte sich nicht nur in der indigenen Bevölkerung erheblicher Widerstand, als Pläne be- kannt wurden, neu entdeckte Ölfelder unter dem Yasuni-Nationalpark auszubeuten. Knapp eine Milliarde Barrell Schweröl werden dort vermutet, was etwa 30 Prozent der Ölreserven Ecuadors ausmacht. In dem Gebiet leben jedoch zwei vollkommen isolierte Völker, es gibt dort eine unvergleichliche Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen, Wasserquellen und Wälder.
 
»Dort Erdöl zu fördern«, und nun wird seine sonst so heitere Miene ernst, »ist eine Gefahr für die ganze Menschheit und ein Verbrechen an der Natur«. Deshalb habe er die in den indigenen Gruppen entstandene Yasuni-Initiative unterstützt. Besonderen Eindruck machte ihm dabei das weit entlegene, zauberhafte Dschungeldorf Sarayaku. Dort leisteten die dem Volk der Kichwa angehörenden Einwohner nicht nur jahrelang unerbittlichen Widerstand gegen die Erdöl-Multis, dort entwickelten die Menschen auch ein eigenes Lebensmodell, mit dem sie moderne Technologie und traditionelles Wissen zu verbinden versuchen (www.sarayaku.com). Das alles habe ihn veranlasst, sich mit anderen Aktivisten zusammenzuschließen, um einen Vorschlag auszuarbeiten, der die Ölförderung verhindern sollte.
 
Ein revolutionärer Vorstoß
Die Idee war neu und revolutionär – und sie war falsch, wie Acosta heute selbstkritisch anmerkt: Ecuador, so der Vorschlag, würde auf die Ausbeutung seiner Ölquellen verzichten, dafür aber Kompensationszahlungen aus der westlichen Welt in Höhe von mindestens der Hälfte des entgangenen Umsatzes erhalten. Falsch sei die Idee gewesen, weil sie den Charakter einer Erpressung gehabt habe, da durch sie die Schuld an möglicher Umweltzerstörung und Bedrohung der isoliert lebenden Ethnien unzulässigerweise Dritten zugeschoben werden sollte. So deutlich habe er das seinerzeit nicht gesehen – und deshalb habe er als Energieminister seines Landes diese Idee aufgegriffen und ins Kabinett eingebracht.
 
Das Echo überraschte Acosta selbst. Dass der Energieminister dafür votierte, etwa ein Drittel der bekannten ausbeutbaren Ölreserven seines Landes unangetastet zu lassen, galt gelinde gesagt als verrückt, aber gleichwohl machte Präsident Rafael Correa sich den Vorschlag zu eigen – erstaunlich genug in einem Land, das heute 30 Prozent seiner Fiskaleinnahmen und 60 Prozent seiner Exporterlöse aus dem Handel mit Rohöl bezieht. Das sagt etwas über das Gewicht der Argumente, die auch im Ausland auf Gehör stießen. Vor allem in Deutschland. Am 5. Juni 2008 – Alberto Acosta sagt, dass er dieses Datum nie vergessen wird – bekam er die Nachricht, dass sich der Deutsche Bundestag für die Unterstützung des Vorhabens aus Ecuador ausgesprochen habe.
 
Dolchstoß aus Berlin
So groß der Aufwind, den die Zivilgesellschaft seines Landes dadurch erhalten hatte, so bitter war die Ernüchterung, als sich die deutsche Unterstützung unter der schwarz-gelben Regierung Merkel wenige Jahre später »verniebelte«, wie er lächelnd anmerkt. Denn der damalige Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Dirk Niebel sei es gewesen, der der Yasni-Initiative 2010 den »Dolchstoß« versetzt habe.
 
»Warum dieser Richtungswechsel?«, frage ich ihn. Wieder kommt die Antwort direkt: »Weil unsere Regierung keine langfristige und konsequente Strategie entwickelt hatte«, sagt er, »und weil die Idee den Mächtigen gefährlich war. Sie haben das sofort gesehen und Widerstand entwickelt«. So scheiterte der erste großangelegte Versuch, in Ecuador das Buen Vivir in die politische und ökonomische Realität des Landes zu übersetzen.
 
Unterwegs zu einem neuen Weltbild
'Entwicklung ist ein Gespenst, dem alle nachlaufen, obwohl es gar nicht existiert.' © Christoph QuarchEntmutigen lässt sich Acosta dadurch nicht. Er glaubt an die Vision – und sieht sich darin bestätigt, dass sie in vielen Regionen Südamerikas, Asiens und Afrikas zunehmend Anhänger findet. Auch in Europa und Nordamerika gebe es an der Basis viele Projekte, die ihm Mut machen. »Die Entwicklung geht in Richtung zivilisatorischer Wandel«, ist er überzeugt, »hin zu einem biozentrischen und solidarischen Weltbild«, wie es die indigenen Völker immer hatten und wie es heute, angesichts der ökologischen und ökonomischen Krisen der globalisierten Welt, dringend Not tut.
 
»Aber ist das nicht utopisch?« Ich lasse nicht locker: »Die Buen Vivir-Idee stammt aus kleinen indigenen Gemeinschaften – und da funktioniert sie zweifelsohne. Aber wie lässt sie sich auf eine Welt übertragen, in der Menschen in 25-Millionen-Metropolen leben?« – »Das ist eine sehr schwere Frage«, räumt Acosta ein. Dass Buen Vivir auf dem Land gelingt, könne er sich gut vorstellen – wie das in großen Städten gehen soll, sei auch ihm noch nicht ganz klar. »Unmöglich ist es aber nicht«, fügt er hinzu, und verweist auf Projekte wie »Transition Town« oder auf regionale und auf kommunale Umweltschutz-Initiativen europäischer Städte. Das alles zeige, dass sich die Welt durchaus verändern lässt, wenn es gelingt, gemeinsame Anstrengungen »von unten« zu unternehmen.
 
Spiritualität der Pachamama
Und damit kommt er auf die »dritte Säule« des Buen Vivir zu sprechen. Denn neben solidarischer Gemeinschaftlichkeit und Harmonie mit der Natur beruhe das Buen-Vivir-Modell auf einem geistigen Fundament, dessen Wichtigkeit man nicht hoch genug veranschlagen könne: einer indigen Philosophie, derzufolge alles lebendig ist; einer Spiritualität der Pachamama, der großen Göttin, die alles Leben trägt und hält. »Die Indigenen«, sagt Acosta, »verstehen sich als eins mit der Natur. Sie kennen unseren Dualismus nicht. Für sie ist klar, dass wir uns selber schädigen, wenn wir die Natur zerstören.« Aus dieser Perspektive seien die verfassungsmäßig verbrieften Rechte der Natur nicht mehr und nicht weniger, als die »Existenzrechte der Menschheit«.
 
Noch aber scheinen sie ein ecuadorianischer und bolivianischer Sonderweg zu sein, der von den Mächtigen der Welt belächelt wird; zumal die Praxis dieser Länder häufig nicht dem entspricht, was ihre Verfassungen vorschreiben. Acosta findet das traurig, lässt sich dadurch aber nicht beirren. Die Rechte der Natur seien nicht neu. Schon lange, weiß er, gehen Juristen mit der Frage um, wie die Natur als Rechtssubjekt zu denken sei. Es gehe also nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern einen Jahrhunderte alten Diskurs aufzugreifen und zu einem konkreten Abschluss zu bringen, etwa in Gestalt einer »Allgemeinen Erklärung der Naturrechte«, die bindend festschreibt, dass die Natur »entmarktet« werden muss bzw. dass die Gemeingüter nicht vermarktet werden dürfen – weder privatisiert, noch verstaatlicht. Hier gehe es – das ist ihm wichtig – nicht einfach um links oder rechts, sondern um den gesunden Menschenverstand: »Wir müssen uns von der Religion des Wirtschaftswachstums befreien.«
 
Der Aufbruch dazu scheint heute in Südamerika um sich zu greifen. Es ist bemerkenswert, in welchem Maße gerade dieser im 20. Jahrhundert so krisengeschüttelte Kontinent sich gegenwärtig zur Brutstätte eines Denkens mausert, das gegen die herrschende, ökonomistische Einrichtung der Welt aufbegehrt. »In Südamerika schlummert ein großes Potenzial«, ist sich Acosta sicher. »Von unserem Kontinent werden entscheidende Impulse ausgehen«. – »Bleibt der Welt noch genug Zeit, zum Buen Vivir zu erwachen«, frache ich ihn. »Ich werde immer weiterkämpfen«, sagt er kurz. »Ich habe schließlich Enkel. Und ich glaube an die Menschheit.«
 
Alberto Acosta
war in den Jahren 2007/2008 als Präsident der verfassunggebenden Versammlung Ecuadors maßgeblich an der Integration des »Buen vivir« in die Verfassung des Andenstaates beteiligt. Bis 2008 war er Minister für Energie und Bergbau Ecuadors. 2013 kandidierte er für die indigene Partei Pachakutik und andere linke politische Kräfte für das Präsidentenamt in Ecuador, musste sich aber dem Amtsinhaber Rafael Correa geschlagen geben. Heute arbeitet er als Professor für Ökonomie an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften in Quito. Acosta hat in Köln während der siebziger Jahre studiert.

Gesellschaft | WIR - Menschen im Wandel, 01.10.2015
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