BIOFACH 2025

Die Social Wall Street verändert den Markt

Menschen sind bunt. Die Wirtschaft muss es auch sein. Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus plädiert gegen die graue Theorie und für eine Sozialbörse mit eigenem Social Wall Street Journal.

Viele der Probleme in dieser Welt scheinen unlösbar, weil wir ständig den Kapitalismus zu eng auslegen. Wir entwerfen einen eindimensionalen Menschen, der die Rolle des Unternehmers spielen darf. Wir isolieren ihn von den anderen, beispielsweise den religiösen, emotionalen oder politischen Dimensionen des Lebens. Er widmet sich voll und ganz der einen Mission in seinem Geschäftsleben - der Profitmaximierung. Unterstützung erhält er von Massen anderer eindimensionaler Menschen, die ihn - mit demselben Ziel vor Augen - mit ihren Investitionsgeldern ausstatten. So funktioniert das Spiel des freien Marktes bestens. Und wir haben besonders hart gearbeitet, um uns so gut wie möglich in die von der Theorie vorgegebenen eindimensionalen Menschen zu verwandeln.

Insgeheim hoffen wir, dass nur das "Marktversagen" Schuld ist
Gemeinsam für würdevolles Altern: Teilnehmer eines Social Business Labs entwickeln Ideen zur demographischen Entwicklung in Deutschland. Die Labs sind eintägige Workshops, bei denen Interessierte Social Business-Konzepte und Praxisbeispiele kennenlernen und schließlich selbst Ideen zur Problemlösung in ihrem eigenen Umfeld entwickeln. Veranstalter ist das Grameen Creative Lab, ein Netzwerk, das Muhammad Yunus ins Leben rief. © Roger Richter Die Wirtschaftstheorie postuliert, dass man den bestmöglichen Beitrag zur Gesellschaft und der Welt leistet, wenn man sich bloß darauf konzentriert, das Maximum für sich selbst herauszuholen - dann holen alle anderen auch das Maximale für sich heraus. Während wir ergeben diesem Grundsatz folgen, überkommen uns manchmal Zweifel, ob wir das Richtige tun. Dann führen wir all diese schlechten Dinge einfach auf "Marktversagen" zurück; schließlich können gut funktionierende Märkte keine unerfreulichen Ergebnisse hervorbringen.

Dass die Dinge schief laufen, liegt aus meiner Sicht nicht an "Marktversagen", sondern an "Konzeptualisierungsversagen". Oder genauer gesagt: daran, dass wir es in unserer Theorie nicht schaffen, das Wesen des Menschen zu erfassen. Menschen sind keine eindimensionalen Gebilde, sondern erstaunlich mehrdimensional und bunt. Ihre Emotionen, ihr Glaube, die Vorlieben und Verhaltensmuster lassen sich passender anhand einer Analogie zu den Grundfarben und den Millionen von ihnen hervorgebrachten Farben und Farbtönen beschreiben.

Vier Unternehmertypen mit und ohne Kostendeckung
Angenommen, wir postulieren eine Welt mit zwei Arten von Menschen, die beide eindimensionale, aber unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. Bei der einen Art handelt es sich um den bestehenden, d.h. auf Profitmaximierung ausgerichteten Typ. Der zweite Typ Menschen widmet sich völlig dem Ziel, in der Welt etwas zu bewegen. Sie werden von gesellschaftlichen Zielen angetrieben. Sie möchten anderen Menschen zu einer besseren Chance im Leben verhelfen. Ob ihre Unternehmen nun Gewinne erzielen oder nicht: Sie dürfen auch keine Verluste einfahren. Sie gründen eine neue Art von Unternehmen, die man als "kein-Verlust-Unternehmen" bezeichnen könnte.

Solche "Gutmenschen" nennen wir im formalen Sprachgebrauch "Social Entrepreneurs" oder "Sozialunternehmer". Das Sozialunternehmertum ist wesentlicher Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Den meisten Menschen bereitet es Vergnügen, anderen zu helfen. Sämtliche Religionen bestärken diese Qualität des Menschen. Regierungen belohnen sie durch Steuervergünstigungen. Manche Sozialunternehmer wenden Geld zum Erreichen ihrer Ziele auf, andere setzen ihre Zeit, Arbeitskraft, Talente, Fähigkeiten oder sonstige Beiträge ein, die für andere von Nutzen sind. Jene, die Geld aufwenden, versuchen unter Umständen einen Teil ihres investierten Geldes oder das gesamte Geld zurückzuerlangen, indem sie eine Gebühr oder einen Preis hierfür berechnen.
Sozialunternehmer, die Geld aufwenden, lassen sich in vier Typen unterteilen:
a) keine Kostendeckung
b) teilweise Kostendeckung
c) volle Kostendeckung
d) mehr als volle Kostendeckung

Von der Wohltätigkeit zur Geschäftswelt
Brutkasten für die nächste Generation von Unternehmern: Das Grameen Creative Lab verbindet kreative Köpfe, die die Welt von Armut, Not und sozialen Missständen befreien wollen. © Roger RichterSobald ein Sozialunternehmer bei 100-prozentiger oder darüber hinausgehender Kostendeckung agiert, betritt er die Geschäftswelt. Dieser Augenblick ist es wert, gefeiert zu werden. Er hat die Schwerkraft der finanziellen Abhängigkeit überwunden und ist nun bereit, abzuheben! Er ist von der Welt der Wohltätigkeit in die Geschäftswelt übergetreten. Um ihn von den anderen beiden Arten der oben aufgeführten Sozialunternehmer unterscheiden zu können, bezeichnen wir ihn als "wirtschaftlichen Sozialunternehmer".

Mit Eintritt der wirtschaftlichen Sozialunternehmer wird der Markt interessanter und konkurrenzbetonter. Interessanter, weil nun zwei verschiedene Arten von Zielsetzungen mitmischen und somit zwei verschiedene Bezugssysteme für die Preisbestimmung entstehen. Konkurrenzbetonter, weil es nun mehr Akteure gibt als vorher. Diese neuen Akteure können genauso aggressiv und geschäftstüchtig beim Erreichen ihrer Ziele auftreten wie die anderen Unternehmer. Sobald wir sie anerkennen, werden unterstützende Institutionen, politische Strategien, Vorschriften, Normen und Bestimmungen entstehen, die ihnen diesen Zugang zur etablierten Wirtschaft ermöglichen.
Die Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat ist künstlich
Der Markt gilt nicht nur als gänzlich ungeeignete Institution zum Bekämpfen sozialer Probleme, sondern gilt auch als Mitverursacher sozialer Probleme wie Umweltgefährdungen, Ungleichheit, gesundheitliche Probleme, Arbeitslosigkeit, Slums und Kriminalität. Da der Markt nicht fähig erscheint, soziale Probleme zu lösen, wird die Verantwortung hierfür dem Staat übertragen. Bei dieser künstlichen Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat verwandelt sich der Markt in eine exklusive Spielwiese für jene, die ihren persönlichen Nutzen suchen und eindeutig die gemeinsamen Interessen der Gemeinschaften und der Welt als Ganzem ignorieren. Es ist nun an der Zeit, von der engen Auslegung des Kapitalismus abzurücken und den Marktbegriff durch eine vollständige Anerkennung der wirtschaftlichen Sozialunternehmer zu erweitern. Sobald dies erfolgt ist, können wirtschaftliche Sozialunternehmer den Markt überschwemmen und dafür sorgen, dass sich der Markt genauso effizient für soziale Zwecke nutzen lässt wie für persönliche Ziele.

Eine Sozialbörse zieht neue Investoren an
Wie unterstützt man wirtschaftliche Sozialunternehmer, damit sie größere Marktanteile erlangen? Erstens müssen wir die wirtschaftlichen Sozialunternehmer in unserer Theorie würdigen. Wir müssen Studenten lehren, dass es zwei Arten von Geschäften gibt: a) Geschäfte, um Geld zu verdienen und b) Geschäfte, um anderen Gutes zu tun. Junge Menschen müssen lernen, eine Entscheidung für sich zu treffen: Welche Art von Unternehmer möchten sie sein? Wenn wir eine noch weitere Auslegung des Kapitalismusbegriffes zulassen, bieten wir ihnen größere Möglichkeiten, diese beiden Grundtypen in dem für ihren Geschmack genau richtigen Verhältnis miteinander zu mischen.

Zweitens müssen wir die Sozialunternehmer und -investoren in der Wirtschaft sichtbar machen. So lange sie im kulturellen Umfeld der derzeitigen Börsen agieren, werden sie auch weiterhin durch die bestehenden Normen und den Handelsfachjargon eingeschränkt. Sie müssen eigene Normen, Standards, Maßeinheiten, Bewertungskriterien und eine eigene Terminologie entwickeln. Dies ist nur durch die Schaffung einer separaten Börse möglich. Man könnte sie Sozialbörse nennen. Hierher kommen Investoren, um ihr Geld für die Sache, an die sie glauben, anzulegen in das Unternehmen, das sie für das Erreichen dieses besonderen Ziels am geeignetsten halten. Unter Umständen sind an dieser Sozialbörse auch einige Unternehmen notiert, die ausgezeichnet beim Erreichen ihres Ziels sind und gleichzeitig nebenher sehr attraktive Gewinne erwirtschaften. Es ist offenkundig, dass derlei Unternehmen beide Arten von Investoren, die sich an sozialen Zielen orientierenden, wie auch die auf persönlichen Nutzen gerichteten, anzieht.

Die "Social Financial Times" hält Sozialunternehmer auf dem Laufenden
Gemeinsam mit der Schaffung der Sozialbörse müssen auch Ratingagenturen, geeignete Wirkungsbewertungsinstrumente und Indizes geschaffen werden, um zu erfassen, welches wirtschaftliche Sozialunternehmen mehr und/ oder Besseres als andere leistet. Dieser Wirtschaftszweig wird sein eigenes Social Wall Street Journal und seine eigene Social Financial Times brauchen, um all die spannenden, aber auch die schrecklichen Nachrichten und Analysen herauszugeben, die die Sozialunternehmer und -investoren mit sachgerechten Informationen und Vorwarnungen versorgen.

Die betriebswirtschaftlichen Fakultäten der Universitäten können anfangen, Sozial-MBAs hervorzubringen. Meines Erachtens werden junge Menschen mit Begeisterung auf die Herausforderung reagieren, bedeutende Beiträge zur Welt zu leisten, indem sie wirtschaftliche Sozialunternehmer werden. Es werden auch neue Bankfilialen entstehen, die sich auf die Finanzierung von sozialunternehmerischen Vorhaben spezialisieren. Neue Business Angels werden als Sozial-Risikokapitalgeber den wirtschaftlichen Sozialunternehmern die Hände reichen.

Ein möglicher Anfang: Bank, Ideenwettbewerb, Börse
Eine gute Art, mit der Schaffung von wirtschaftlichen Sozialunternehmen zu beginnen, wäre die Ausrichtung eines Gestaltungswettbewerbs. Preise für eine erfolgreiche Gestaltung könnte man in Form einer Finanzierung für die Unternehmen oder als Partnerschaft für die Realisierung der Projekte verleihen. Sämtliche eingereichten Vorschläge zu Sozialunternehmen können als Veröffentlichungen den Gestaltern der nächsten Durchläufe als Ausgangspunkt oder jenen als Idee dienen, die ein wirtschaftliches Sozialunternehmen gründen möchten. Die Sozialbörse selbst lässt sich auch als wirtschaftliches Sozialunternehmen gründen. Wirtschaftshochschulen können dies gemeinsam als Projekt starten.

Wir dürfen nicht erwarten, dass ein wirtschaftliches Sozialunternehmen von Anfang an alle Antworten auf ein soziales Problem liefern kann. Doch jeder Schritt kann zur nächsten Erfolgsebene führen. Das konnte ich bei der Grameen Bank selbst erleben. Bei der Gründung gab es keinen Plan, dem ich hätte folgen können. Ich habe einen Schritt nach dem anderen unternommen, stets in dem Glauben, dass dies mein letzter Schritt sein würde. War es aber nicht. Dieser Schritt führte mich zu einem weiteren Schritt, der so interessant erschien, dass es schwerfiel, ihm auszuweichen. Und dieser Situation sah ich mich jedes Mal aufs Neue ausgesetzt.

Meine Arbeit begann damit, dass ich einigen Menschen ohne jegliche Sicherheiten einen kleinen Geldbetrag gab. Dann wurde mir bewusst, wie positiv die Menschen darauf reagierten. Ich brauchte weiteres Geld zur Ausweitung des Programms. Um Zugriff auf Bankgelder zu erhalten, bot ich mich als Bürge an. Um die Unterstützung einer weiteren Bank zu erhalten, wandelte ich mein Projekt in ein Projekt der Bank um. Später machten wir es zu einem Projekt der Zentralbank. Mit der Zeit wurde mir klar, dass die beste Strategie für die Erledigung unserer Arbeit in der Gründung einer unabhängigen Bank bestehen würde. Also taten wir dies. Wir verwandelten das Projekt in eine formale Bank, die Kredite bei der Zentralbank aufnahm, um Darlehensnehmern Geld leihen zu können. Nachdem Menschen Interesse an unserer Arbeit zeigten und uns unterstützen wollten, erhielten wir von internationalen Spendern Darlehen und Zuschüsse. Irgendwann entschieden wir uns für Unabhängigkeit. Dies brachte uns dazu, uns auf den Aufbau eines eigenen Kapitalstocks durch die Hereinnahme von Einlagen zu konzentrieren. Mittlerweile verfügt die Grameen Bank über mehr Geld in Einlagen, als sie an Krediten vergibt. Ihre Kredite von durchschnittlich unter 200 US-Dollar an 4,5 Millionen Kreditnehmer belaufen sich auf insgesamt eine halbe Milliarde Dollar jährlich, wobei die Rückzahlungsrate bei 99 Prozent liegt.

Schritt für Schritt zu einer freundlicheren Wirtschaft
Prof. Muhammad Yunus. © Grameen Creative LabWir haben viele Programme in der Bank eingeführt: Wohnungsbaudarlehen, Studiendarlehen, Pensionsfonds, Darlehen für den Kauf von Mobiltelefonen für die "Telephone Ladies" in den Dörfern, Darlehen an Bettler als Grundlage für eine Vertretertätigkeit. Ein Programm nach dem anderen.
Wenn wir das richtige Umfeld schaffen, können wirtschaftliche Sozialunternehmer einen bedeutenden Marktanteil einnehmen und den Markt auf stets innovative und effektive Weise zu einer spannenden Austragungsstätte sozialer Kämpfe machen.
Machen wir Ernst mit wirtschaftlichen Sozialunternehmern. Sie können diese düstere Welt freundlicher machen.
 
Prof. Muhammad Yunus promovierte in Wirtschaftswissenschaften und lehrte an der Vanderbilt University in Tennessee, USA. Er ist Gründer der Grameen Bank, die Kleinstkredite an die Ärmsten vergibt, und initiierte mehrere Social Businesses, die soziale Probleme durch unternehmerisches Handeln lösen. 2006 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen.

Gesellschaft | Social Business, 01.04.2014
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2014 - Voll transparent, voll engagiert erschienen.
     
        
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