Ein Nein ist ein Nein
Zur öffentlichen Diskussion über Frauenrechte, Rassismus und Gewalt nach der Kölner Silvesternacht
Ein Kommentar von Gabriele Michel
Von den gewaltsamen Übergriffen, die Deutschland im zurückliegenden halben Jahr erschütterten, hat eine den Diskurs über sexuelle Gewalt gegen Frauen grundlegend verändert: die Silvesternacht in Köln. Eine fatale Verknüpfung von Fehleinschätzungen durch Polizei und Politik und ein dadurch angeheizter medialer Aufruhr haben dazu geführt, dass seit dieser Nacht in vielen Stellungnahmen die Forderungen nach Schutz von Frauen eine unselige Allianz mit rassistischen Vor-Urteilen eingeht.
Plötzlich scheint die Ablehnung von Flüchtlingen erlaubt, schließlich geht es um die Sicherheit deutscher Frauen. Inzwischen sind aus zahlreichen Bundesländern sexuelle Übergriffe im Umfeld der Silvesternacht gemeldet worden. Das ist alarmierend, denn hinter jeder dieser Anzeigen steht eine angstvolle, entwürdigende Erfahrung für die betroffene Frau. Alarmierend ist aber auch, wie diese sexuellen Übergriffe die Auseinandersetzung über die beschworene Bedrohung durch „die Flüchtlinge" in falsche Bahnen gelenkt haben: Dass und wie hier die Forderung nach einem wirkungsvollen Schutz von Frauen in Politik und Medien für rassistische Argumentationen missbraucht wird, ist inzwischen gerade von Frauen vielfach analysiert worden. Zu den unmittelbar-körperlichen Übergriffen kommt die Übergriffigkeit einer Diskussion, die Frauen neuerlich zu Verhandlungsobjekten macht.
„Frauenrettung" in Konfliktsituationen für politische Zwecke zu benutzen hat eine lange Tradition, in der Frauen, die sich gegen diese Form von Instrumentalisierung wehren, ihrerseits angegriffen oder unterdrückt wurden und werden. Empörend – und aufschlussreich - ist auch, was der plötzliche Aufschrei jetzt wieder ins Bewusstsein ruft: die achselzuckende Gleichgültigkeit, mit der weite Teile der Öffentlichkeit all jenen sexuellen Übergriffen begegnet, die Frauen tagtäglich von deutschen Männern erfahren. Unbefangen titelte „die Welt" am 10.1.2016, das Phänomen 'taharrush gamea' - gemeinschaftliche sexuelle Belästigung – sei nun in Deutschland angekommen. Als handele es sich dabei um eine bei uns bis dato völlig unbekannte, spezifisch arabische Form von sexueller Gewalt.
Natürlich nimmt der Verweis auf die alljährlichen Übergriffe und Vergewaltigungen zum Beispiel während des Oktoberfests oder beim rheinischen Karneval den Verbrechen, die sich auf der Domplatte ereignet haben, nichts von ihrer Scheußlichkeit. Aber dass allein an einem Karnevalsfest - in Köln 2014 - sechs Vergewaltigungen zur Anzeige kamen, hat damals keineswegs bundesweite Empörung ausgelöst. Und niemand kam auf die Idee, daraus einen Generalverdacht gegenüber karnevalistisch feiernden Männern abzuleiten.
Statt den Horror der Silvesternacht politisch auszuschlachten, sollten Politik und Zivilgesellschaft Initiativen starten, die den Schutz von Frauen wirklich verbessern. Das Sexualstrafrecht muss endlich im Sinne der Istanbuler Konvention von 2011 („Ein Nein ist ein Nein") umgesetzt werden. Auch „ein bisschen Grabschen" ist ein Vergehen, das geahndet gehört. Bezeichnenderweise ist ein Teil der rund 400 inzwischen gemeldeten sexuellen Übergriffe aus der Silvesternacht dem aktuell geltenden Strafrecht zufolge nicht strafbar. Doch die Empörung nach Köln reicht offenbar nicht aus, um die Reform des Sexualstrafrechts entsprechend zu verschärfen.
Frauen müssen im Mittelpunkt der Diskussionen über Gewalt gegen Frauen stehen. Konkret zu Köln: Welche Institutionen kümmern sich um die Folgen der Silvesternacht für die attackierten Frauen? Gibt es Gesprächsangebote für sie, Unterstützung bei körperlichen oder emotionalen Traumatisierungen, Rechtsbeistand, wenn sie Anzeige erstattet haben?
Doch den Blick ausschließlich auf die Frauen zu fokussieren, reicht nicht aus. Wir müssen uns fragen, welche Wege es gibt, wirkungsvoller für den Schutz von Frauen zu sorgen und zugleich den Schutz jener zu gewährleisten, die als Schutzsuchende zu uns kommen. Das verlangt kompetente und differenzierte Konzepte für Integration. Berücksichtigt werden muss in dem Zusammenhang beim Thema Gewalt, dass Gewalterfahrungen gewalttätiges Verhalten hervorrufen. In vielen unserer Projekte, z.B. in Bosnien, Palästina und Libyen, nahm die häusliche Gewalt nach kriegerischen Auseinandersetzungen signifikant zu.
Gewalttätigkeit wird in diesem Kontext häufig zu einer Art Ventil für das Trauma selbst erlebter Gewalt – als Opfer oder Täter. Das rechtfertigt keinerlei gewaltsame Handlung – aber um gegen latente und manifeste Gewalt wirkungsvoll vorzugehen, muss dieser Zusammenhang mitgedacht werden. Und: Junge Männer mit geringer Bildung und wenig beruflichen Chancen sind in westlichen Ländern die Gruppe mit der höchsten Kriminalitätsrate. Entsprechend sind auch die vielen jungen Männer, die jetzt zu uns kommen, eine besonders gefährdete Gruppe. Aber sie sind weder genuin noch durch ihre kulturelle Prägung und schon gar nicht „alle" kriminell.
In Kairo zum Beispiel arbeiten auch Männer an sog. Harass Maps, die sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen dokumentieren, damit diese zur Anklage kommen. Politische Aktivisten im kurdischen Teil des Irak engagieren sich gegen die Straflosigkeit von sexueller Gewalt gegen Frauen in ihrer Region. Und es sind junge Männer, die in unserem Libyenprojekt– manchmal unter Lebensgefahr – Seite an Seite mit unseren Projektpartnerinnen für den Schutz von Frauen kämpfen. Auch solche Männer kommen jetzt als Flüchtlinge nach Europa. Viele von ihnen haben Angst, seit der Silvesternacht, seit Clausnitz und Bautzen. Viele von ihnen wollen nichts mehr als hier ankommen, Deutsch lernen, arbeiten, sich ein Leben aufbauen, aus eigener Kraft. Manche haben es geschafft; sie leben und arbeiten hier, für manche ist Berlin, Köln oder Freiburg schon seit Jahren „home". Dieses Potential gilt es zu nutzen, diese Männer in die anstehende Integrationsaufgabe mit einzubeziehen. Denn wenn jemand die frauenfeindlichen Anteile des Frauenbilds junger Männer aus dem arabischen Raum kennt, dann Männer, die ähnlich sozialisiert sind. Sie wissen, wo es Geduld braucht, damit Werte wie Toleranz und Gleichberechtigung nicht als Ausdruck von Kulturimperialismus erlebt werden, sondern als Weg hin zu einer respektvollen, pluralistischen, nicht patriarchalen Gesellschaft. Einem Ziel, das ja auch in westdeutschen Gesellschaften keineswegs schon erreicht ist.
Aber konzentrieren wir den Blick damit nicht doch wieder auf die Männer - und auf die „Täter"? Ja, aber im Interesse der Frauen! Nicht um Gräben aufzureißen und „feindliche Elemente" auszumachen, sondern um der reflexhaften Abwehr eine differenzierte, realitätsgerechte Umsicht entgegen zu setzen. Die Täter von Köln müssen strafrechtlich genauso verfolgt werden wie jeder andere. Aber ihre Vergehen erlauben nicht, Flüchtlinge des Landes zu verweisen oder einen Aufnahmestopp zu fordern!
Im Gegenteil: Wenn wir von Flüchtlingen Akzeptanz der hier herrschenden Werte und Regeln verlangen, dann müssen wir uns umgekehrt auch für ihre Rechte stark machen. Integration funktioniert nur als wechselseitiger Prozess, d.h. wenn auch wir uns neu in die sich verändernde Gesellschaft integrieren, uns öffnen für Ungewohntes, wirklich willkommen heißen und zu teilen bereit sind. Und sie verlangt wache Kritik und entschiedenen Kampf überall da, wo sich unsere eigene Kultur in einer Weise als frauenfeindlich erweist, die sexuelle Übergriffe mit verantwortet oder doch in Kauf nimmt. Zum Beispiel in Gestalt von entwürdigenden Werbekampagnen, die hemmungslos Frauenkörper benutzen, um den Konsum anzukurbeln. Auch sie verhindern eine Gesellschaft, in der Frauen keine Angst haben müssen vor Männern; vor keinem weißen, keinem schwarzen und keinem „arabisch aussehenden" Mann.
HINTERGRUND
AMICA e.V. – Hilfe für Frauen in Krisenregionen

AMICA e.V. ist im arabischen Raum, auf dem Balkan und im Nordkaukasus tätig. Für das langjährige Engagement in Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo erhielt AMICA e.V. den Deutschen UNIFEM-Preis 2010.
Kontakt: AMICA e.V. | Tel. 0761/ 55 60 251 | office@amica-ev.org | www.amica-ev.org
Gesellschaft | Politik, 07.03.2016

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