BIOFACH 2025

Neue Bilder braucht das Land

Zu Beginn des Jahres 2016 reflek­tieren wir noch einmal die Aufnahmen, die uns so betroffen machten.

Seit Sommer 2015 begleiten uns diese Bilder jetzt aus unmittelbarer Nähe. Die Mittelmeerregionen waren uns bisher eher durch heitere Bildkompositionen in Erinnerung geblieben. Mehr Urlaubs- denn Fluchtszenarios. Irgendwie hatten wir gehofft, der Winter in unseren Breitengraden würde die Menschen erst einmal zurückhalten und uns damit nicht noch weitere Bilder der Flucht bescheren. Einige – oder wohl eher die Mehrheit – von uns sahen sich als Gastgeber, als mitfühlende und hilfreich agierende Deutsche – am Fernseher sitzend. Oder waren einfach nur fassungslos. Und weder die Bilder aus der Ferne noch die aus unmittelbarer Nähe wurden besser. Denn nach den dramatischen Boots-Bildern kamen die Bilder der Odyssee von der Balkanroute in unser Sichtfeld. Ein Massen-Spießrutenlauf durch europäische Länder.

Die Vergessenen unserer Gesellschaft
Wahrlich keine Picknick-Szene. Stattdessen: Erschöpfung, Verzweiflung und Orientierungslosigkeit. Ein schweres Los, in eine ungewisse Zukunft zu gehen. Foto: © UNHCR, Igor PavicevicDaneben hatten verdrängte Bildszenen aus Seniorenheimen, von Hartz IV-Empfängern, die sich in deutschen Landen ebenfalls oft wie Vertriebene, Vergessene fühlen, noch weniger Chancen, ins kollektive Bewusstsein zu dringen, als schon zuvor. Es wäre auch zu viel für unsere emotionale Aufnahmekapazität gewesen. Doch auch diese Bilder werden wir in unserem gesellschaftlichen Bildgedächtnis reaktivieren müssen. Möglicherweise mit Hilfe und Unterstützung der Neuankömmlinge.

Stille Nacht, heilige Nacht
Wie haben die Weihnachtsbilder ausgesehen? Mit oder ohne Migranten? Waren wir nur mit unseren Liebsten im Partyzelt und feierten Neujahr wie üblich: Knall, Bumm, Krach, ohne Rücksicht auf mögliche Zuhörer aus zerbombten Städten, gerade erst zu uns gekommen? Oder gab es auch Schweigeminuten zum Jahreswechsel – für die Fassbomben-Geschädigten? Kam es möglicherweise sogar zu ersten Festen der Integration zum Übergang ins Neue Jahr, in beheizten Zelten, Hallen, Erstunterkünften, zusammen mit den Neuankömmlingen? Oder mit den Verdrängten und am Rande der Gesellschaft lebenden alteingesessenen Deutschen?

Zwischen all den neuen Bildern werden wir natürlich auch 2016 wieder die strandenden Boote entdecken, dicht bepackt mit Hoffnung, Sehnsucht, Wunschvorstellungen und Angst. Werden wir im Laufe des neuen Jahres Bilder des Aufbruchs erleben, aus denen Mitgefühl, Engagement, gegenseitige Verantwortung auf uns wirken werden, Bilder einer stillen Revolution?

Wir werden es im Blick behalten und dokumentieren.

Die Helfer beim Marathonlauf
Die Bilder der Schilder und Pappen mit „Welcome refugees" aus 2015 sind unvergessen! Es waren bewegende Filmberichte und Schnappschüsse der Hoffnung; gleichermaßen wichtige Signale für Helfer und Neu-Ankommende. Statt Hetze waren es Bilder des Mutmachens, Momentaufnahmen der Menschenwürde. Neben den Bildern von taumelnden, zum Multi-Marathonlauf gezwungenen und umher geschubsten Flüchtlingen wurden auch unermüdliche Helfer und Helferinnen gezeigt. Ohne diese Menschen wäre es zu menschlichen Katastrophen gekommen. So starten wir ins Neue Jahr mit einem Potpourri aus alten und neuen Bildern, mit medialen Schnipseln, die sich in unser Gedächtnis gebrannt haben und weiter brennen werden. Im besten Sinne motivieren sie uns zu Engagement, kreativen Veränderungen und führen uns auf neuen gemeinsamen Wegen, mit Weisheit und viel Mitgefühl, in eine neue Epoche deutscher und europäischer Geschichte.

Die Regeln des Integrations-Spiels
Nach abenteuerlichen Meerespassagen im Schlauchboot, Torturen auf der Balkan-Route, der Via Mala des Jahres 2015, immer noch kein Ende in Sicht. Zwar angekommen in Deutschland, aber auch hier warten ungeahnte Hürden. Foto: © UNHCR, Mark HenleyWenn wir einen sportlichen Vergleich heranziehen wollen, gibt es einen Arbeitstitel für die große Übung: Integrations-Spiel. Noch sind wir dabei, die gemeinsamen Regeln festzulegen. Es sollen die Grundregeln des Grundgesetzes sein, zumindest auf dem heimischen Spielfeld, in Deutschland. Einige einheimische Spieler und Spielerinnen müssen dabei selbst noch ein paar Theoriestunden über das Regelbuch namens Grundgesetz nehmen, damit sie, mit diesem internalisierten Regelverständnis ausgestattet, die neuen Mitspieler auch zum Mitspielen animieren können. Sonst wird es wohl nicht zu einem guten Spiel der Integration kommen, einem entspannten Hin und Her beim sich gegenseitig Integrieren.

Die Voraussetzungen für kommende Bilder mit freudigeren Szenen werden wir gemeinsam mit den Neuankömmlingen schaffen müssen; relativ kurzfristig, wenn uns die große Aufgabe – das viel zitierte Jahrhundert-Projekt – gelingen will.

Warm-up
Parallel hierzu erkennen wir bereits die Anzeichen von noch größeren Wanderungsbewegungen, die sich möglicherweise bald, wenn sich die Erdteile noch ein bisschen aneinander reiben, auf uns zubewegen werden. Mit Plattentektonik und Klimaszenarien sowie daraus resultierenden Klimaflüchtlingen setzen wir uns bitte aber vorerst nur grafisch und statistisch auseinander. Nicht mit Live-Bildern und Live-Berichten, die uns schon wieder mit Ursache und Wirkung konfrontieren. Da schauen wir uns lieber erstmal beeindruckende Animationen über Klimakatastrophen und ihre Auswirkungen an. Bitte jetzt, Anfang des Jahres, noch keine Bilder von Klimaflüchtlingen! Ist es aber nicht nur ein Warm-up, ein Wachwerden, was wir gerade zu leisten haben? Für künftige Szenarien und noch komplexere Bildkompositionen, die uns bevorstehen? Packen wir´s an! Lasst es uns schaffen!

Von den Bildern, die wir auf uns wirken ließen, die uns emotional berührt haben, wenden wir uns den Worten, den Begrifflichkeiten zu. Benennungen für die unmittelbar betroffenen Menschen der Fluchtszenarien. Es ist der Grundwortschatz, den man verstanden haben muss, wenn man sich den aktuellen und künftigen Aufgaben der Integration widmen möchte. Wenige Begriffe nur und doch so oft missverstanden.

Eine analytische Meditation: Bilder der frühen Nachkriegsjahre und Bilder der letzten Monate. Erkennt man den Unterschied? Es sind auf den ersten Blick nur verschiedene Farben: deutsche Flüchtlinge in schwarzen, Neuankömmlinge der Jetztzeit in bunten Bildern. 17 Millio­nen Flüchtende waren es damals und eine Million im letzten Jahr… Fotos: li. © der-familienstammbaum.de | re. © UNHCR, Ivor PrickettDie älteren Menschen in Deutschland können die Worte Flüchtling, Migration und Integration sofort aus ihrem Langzeitgedächtnis wachrufen. Die Worte und die dazugehörigen Bilder. Die baby boomer, zwischen 1955 und 1965 in Deutschland Geborene, hörten diese Begriffe mit etwas Verspätung. Die Tatorte und Ursachen von Flucht waren weit entfernt. Bis vor kurzem kannten die Kinder der baby boomer Fluchtszenarien, Migration und die damit verbundenen Erfahrungen meist nur aus den Medien. Die Integration der Gastarbeiter fand auch nie so richtig statt und die bisherigen Ankünfte von Migranten waren bis Anfang 2015 eher von homöopathischer Natur, gemessen an den Eintreffenden der letzten Monate. Im Gegensatz zur Nachkriegszeit gehört Deutschland 2016 zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. 17 Millionen Flüchtende sollen es damals gewesen sein, so genannte Vertriebene, unreflektiert auch Polaken oder einfach Flüchtlinge genannt. Die meisten sprachen deutsch und hatten ähnlich kulturelle Hintergründe. Etwas andere Voraussetzungen als heute. Der Anspruch an alle Beteiligten war damals wie heute der gleiche: mitfühlende Aufnahme, Teilen einerseits, Teilhabe am Wiederaufbau und Integration andererseits.

Lesen Sie dazu auch: 
Mama, Papa, was ist eigentlich ein Flüchtling?

Glossar zur Flüchtlingsdebatte. 

Elmar Thomassek
ist Entrepreneur und Querdenker. Für forum wird er künftig gemeinsam mit Fritz Lietsch Ideen, Initiativen und Projekte zu den Schwerpunktthemen Energie, Mobilität und Integration realisieren. Wir freuen uns auf die Kommentare, Anregungen, Ideen und Initiativen unserer Leser und Leserinnen. Möge es ein gutes Jahr werden.


Gesellschaft | Migration & Integration, 01.01.2016
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2016 - Herausforderung Migration und Integration erschienen.
     
        
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