Die Zukunft der Arbeit
oder: Arbeiten wir uns zu Tode?
Alle schielen auf Vollbeschäftigung, Wachstum, ausreichend Erwerbsarbeit. Doch ist nicht genau das die Wurzel allen Übels? Zerstören wir nicht sogar durch unser zu viel an Arbeit unsere Lebensgrundlagen? Und warum sind gerade reiche Menschen bereit, 50, 60 oder gar 70 Arbeitsstunden zu rackern?
Seitdem es Menschen gibt, wollen sie wissen, wie es mit ihnen weitergehen wird. Was wird die Zukunft bringen? Und zwar in allen Lebensbereichen - Jagdglück, Glück in der Liebe, Kriegsglück. Nach der Zukunft der Arbeit fragten sie allerdings erst spät in ihrer Geschichte. Der einfache Grund: Bis zur neusteinzeitlichen Revolution, beginnend vor etwa 7000 Jahren zwischen Euphrat und Tigris, war ihnen Arbeit unbekannt oder genauer: Bis dahin unterschieden sich ihre Aktivitäten zur Beschaffung von Nahrung und Obdach nicht grundlegend von den entsprechenden Aktivitäten entwickelter Tiere. In diesen Jahrzehntausenden nahmen die Menschen vorlieb mit dem, was ihnen die Natur bot - Wild, Früchte, natürliche Höhlen. Im völligen Einklang mit der Natur – aus heutiger Sicht fast schon „paradiesische Zeiten" - in denen die Menschen allerdings nicht selten hungerten und froren.
Zwei Erden für eine Menschheit!
Dann wurden sie sesshaft. Sie fingen an Böden zu beackern, Pflanzen anzubauen und Tiere zu halten. Kurz zusammengefasst: Sie fingen an, in die natürlichen Kreisläufe einzugreifen. Das zahlte sich für sie aus. Sie wurden satter, begannen Kulturen zu entwickeln und sie vermehrten sich stärker als zuvor. Doch die domestizierte Natur schlug zurück. Von nun an aßen die Menschen ihr Brot, wie es in der Bibel heißt: "im Schweiße ihres Angesichts". Aufgrund des engen Zusammenlebens mit Tieren wurden sie von deren Krankheiten befallen. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. Ihre Lebenserwartung sank. Vor allem aber verminderte sich die Qualität ihrer natürlichen Lebensgrundlagen. Es dauerte geraume Zeit bis dieses Defizit zunächst kompensiert und später weit überkompensiert wurde durch die Erhöhung des erarbeiteten materiellen Lebensstandards. Die Menschen hatten also allen Grund, auf diesem Weg weiter voranzuschreiben und sie taten es, wenn auch in kleinen Schritten.
Ägypter, Griechen, Römer und viele andere mögen bewunderungswürdige Zeugnisse ihres Erfindungsreichtums, ihres Könnens und ihres Fleißes hinterlassen haben - der materielle Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten stieg - wenn überhaupt - nur langsam an. Und auch in neuerer Zeit, z.B. in den tausend Jahren zwischen Karl dem Großen und Napoleon, so schätzen Wissenschaftshistoriker, verdoppelte sich gerade einmal die pro Kopf erwirtschaftete Gütermenge. Das entspricht einem durchschnittlichen Wachstum von 0,02 Prozent im Jahr. Dann aber kam der große Paukenschlag, der bis heute nachhallt: die industrielle Revolution.
Hatten bis dahin die Menschen - mangels besserer Erkenntnisse oder aus höherer Einsicht mag dahingestellt bleiben - natürliche Ressourcen nach Möglichkeit nur ge-, nicht aber verbraucht, begann jetzt die historische Phase des planmäßigen, finalen Ressourcenverbrauchs. Die Folgen waren überwältigend - positive wie negative. Zunächst langsam, dann aber immer schneller stieg der materielle Lebensstandard ganzer Völker und Regionen auf Niveaus, von denen die Menschen früherer Zeiten nur träumen konnten. Zugleich aber wurde die Erosion der natürlichen Lebensgrundlagen immer manifester. Mittlerweise hat die Menschheit ein Stadium erreicht, wo sie die Ver- und Entsorgungskapazitäten von 1,6 Erden benötigt und schon um 2030 werden es zwei sein. Das aber heißt: Das was heute als Arbeit ausgegeben wird, besteht zu einem Gutteil aus nichts anderem als Raubbau! Dieser Raubbau begann vor rund 7000 Jahren ganz unschuldig, und hat heute ein Ausmaß erreicht, das die Existenz aller Pflanzen, Tieren und Menschen bedroht.
Weshalb dieser historische Rückblick? Er soll verdeutlichen, dass wir so, wie wir seit der industriellen Revolution in Europa wirtschaften - und inzwischen auch in zahlreichen weiteren Regionen der Welt -, nicht weiter wirtschaften können; außer wir wollen uns selbst umbringen.
Die Polarität der Arbeit.
Menschliche Arbeit, das zeigt sich heute in brutaler Schärfte, war von Anfang an ambivalent. Heute ist sie es mehr denn je. Sie baut auf und sie zerstört. Sie macht satt und sie macht hungrig. Sie bereichert und sie lässt verarmen. Menschen früherer Zeiten hatten für die richtige Balance ein vielleicht feineres Gespür als wir heutigen. Aber auch an uns nagen zunehmend Zweifel. Was arbeiten wir da eigentlich, wie arbeiten wir und wofür? Für die Zukunft der Arbeit heißt das: Soll sie überhaupt eine Zukunft haben, muss sie eine andere werden als sie bislang war. Dass dies leichter gesagt als getan ist, liegt auf der Hand. Denn wie sollen wir arbeiten, wenn nicht so wie frühere Generationen? Die Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands fragt sich genau das. Sie wünscht sich wie ihre Eltern und Großeltern eine feste Beschäftigung mit einem verlässlichen und ausreichenden Einkommen bei guter Vereinbarkeit von Beruf und Familie und möglichst viel Freizeit. Wünsche wie diese sind nur allzu verständlich, weil allzu menschlich. Doch lassen sich diese verständlichen Wünsche erfüllen, ohne dass Umwelt, Natur, Gesellschaft und schließlich die Menschen selbst gnadenlos ausgebeutet werden?
Nicht beim derzeitigen Wissensstand und den Fähigkeiten, die wir besitzen. Oder konkreter: Bis zur Stunde wissen und können wir nicht genug, um ohne Schaden für unsere Existenzgrundlagen überhaupt so leben zu können, wie wir leben. Um unseren Lebensstandard zu halten, müssen wir Böden, Luft und Wasser mit Schadstoffen überfrachten bis die Ozeane versauern und sich die Atmosphäre aufheizt; müssen wir die Meere überfischen, die Arten dezimieren, die Süßwasservorräte plündern; müssen wir endliche und nicht-endliche Ressourcen verbrauchen, noch ehe Ersatz für sie gefunden ist oder sie nachwachsen können. Wir müssen riesige Landstriche entwalden, um genügend Weideflächen für Milch- und Schlachtvieh zu schaffen, wir müssen ganze Regionen verwüsten, um genügend Bodenschätze zu schürfen und wir müssen Millionen und Abermillionen von Menschen in weniger entwickelten Ländern für wirkliche Hungerlöhne schuften lassen, damit unsere Arbeit so ertragreich ist, wie wir das für angemessen erachten. Wir müssen, denn wir wissen Stand heute gar nicht, wie wir es anders machen könnten.
Es ist schon erstaunlich, um nicht zu sagen beängstigend, mit welcher kindlichen Naivität das Thema Arbeit in Deutschland häufig behandelt wird. Wir haben uns daran gewöhnt, ausschließlich an Lohn- und allenfalls Sozialkosten zu denken, wenn von den Kosten der Arbeit die Rede ist. In der Enquetekommission des Deutschen Bundestages "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" ist vor wenigen Jahren von Experten eine etwas andere Rechnung aufgemacht worden. In ihr wurde beziffert, was durch die Arbeit der Menschen bereits zerstört wurde und weiter zerstört wird. Und als großes Fragezeichen blieb: Ist der Saldo aller unserer Anstrengungen überhaupt noch positiv, wenn wir nicht nur an Ressourcen, Umwelt und Natur denken, sondern auch an arbeitsbedingt vernachlässigte Kinder und Jugendliche, zerbrochene Familien und Partnerschaften oder dysfunktionale gesellschaftliche Einrichtungen?
Die Rechnung geht einfach nicht auf.
Dabei war in dieser Rechnung der größte Posten noch nicht einmal enthalten. Was wird voraussichtlich noch in diesem Jahrhundert - manche meinen binnen weniger Jahrzehnte - aufzubringen sein, wenn aufgrund unseres Arbeitseifers die Meeresspiegel steigen, Stürme ungeheurer Stärke Städte und Dörfer verwüsten oder lange Dürrezeiten die Lebensgrundlagen ungezählter Menschen vernichten. Lässt sich das überhaupt abschätzen? Diejenigen, die das wagen, sprechen von Reparaturkosten für Schäden aus unserem Handeln, von mehr als einem Prozent des Weltsozialprodukts. Das klingt nicht nach viel, wären aber immerhin 780 Milliarden US Dollar - pro Jahr. Deshalb die Frage: Könnte es sein, dass wir zumindest in den früh industrialisierten Ländern in eine historische Phase eingetreten sind, in der wir uns arm arbeiten, in der weniger mehr wäre?
Ich halte es für unverzichtbar, dass Fragen wie diese bei der Behandlung der Arbeitsthematik im Blick behalten werden. Denn nur allzu schnell stürzen wir uns in Debatten über die Entwicklung internationaler Arbeitsteilung und internationaler Arbeitsmärkte, den Chancen und Risiken von Automatisierung, Digitalisierung und Miniaturisierung, das Internet der Dinge und Industrie 4.0. Wir denken darüber nach, was die demografischen Veränderungen für die Arbeit bedeuten könnten - die zahlenmäßige Zunahme älterer Erwerbstätiger oder die Feminisierung der Erwerbsbevölkerung. Welche physischen und psychischen Anforderungen wird die Arbeit künftig an uns stellen? Wird sie uns über- oder unterfordern, wird sie quantitativ ausreichen und nicht zuletzt: Wie ertragreich wird sie sein? Um Missverständnissen vorzubeugen: Diese und ähnliche Fragen haben ihre Berechtigung und verlangen nach Beantwortung. Dennoch: Sie sind und bleiben nachrangig.
Vorrangig ist etwas anderes. Vorrangig gilt es Klarheit darüber zu schaffen, wie wir künftig leben wollen, wie Arbeit in unsere Leben eingepasst werden kann und wofür es sich lohnt zu arbeiten. Bisher verhalten sich viele so, als würden anonyme Mächte solche Fragen nicht nur stellen, sondern auch beantworten und es sei des Menschen Los, deren Ratschlüsse zu entschlüsseln. Wenn von der Zukunft die Rede ist, verlieren viele ihre Stellung als Subjekt und werden mehr oder minder bereitwillig zum Objekt, das Weisungen entgegennimmt und so gut wie möglich umzusetzen versucht. Alles in allem hat uns diese Haltung nur vordergründig gut getan. Der materielle Lebensstandard ist steil gestiegen - hierzulande und in vielen Ländern der Welt. Doch der Preis hierfür war und ist enorm und im Grunde unbezahlbar. Also noch einmal: Wie wollen wir nach reiflicher Überlegung leben und welche Rolle soll die Arbeit hierbei spielen? Eine Antwort hierauf dürfte erleichtert werden durch den recht eindeutigen Befund: Seit langem arbeiten wir ganz offenkundig zu viel und häufig nicht intelligent - vor allem aber nicht achtsam genug.
Muße und Qualität tun Not!
Die Neben- und Folgewirkungen unseres Arbeitens sind deshalb nicht selten monströs. Manchmal wäre es besser, wir ließen - metaphorisch gesprochen - Schaufel oder Griffel ruhen und wendeten uns in den Worten Ludwig Erhards "lohnenderen Dingen" zu als der weiteren Mehrung materiellen Wohlstands, zum Beispiel kreativer oder auch nicht kreativer Muße. Apropos Muße. Wenn wir über die Zukunft der Arbeit nachdenken, sollten wir nicht zugleich auch über die Zukunft der Muße nachdenken, über das Leben neben und nach der Arbeit? Denn die Zukunft der Muße dürfte notleidender sein als die Zukunft der Arbeit. Dabei gilt eine goldene oder richtiger eine eherne Regel: Wir dürfen uns, unsere Mitmenschen, der Gesellschaft als Ganzes sowie Umwelt und Natur keine größeren Arbeitsleistungen zumuten, als diese zu verkraften vermögen.
Beginnen wir bei uns selbst. Dass es nicht Wenige ruhig angehen lassen, ist allgemein bekannt und braucht hier nicht weiter adressiert zu werden. Bekannt ist auch, dass die Zahl derer die sich selbst ausbeuten - die Gestressten und Überforderten - stetig ansteigt. Das hat unterschiedliche Gründe, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden soll. Nur so viel: Wenn Menschen in existenzieller Not bis zur Erschöpfung arbeiten, ist das nicht nur nachvollziehbar, sondern wahrscheinlich unvermeidlich. Wenn jedoch Menschen, die zum wohlhabendsten Fünftel der Weltbevölkerung zählen - und in einem Land wie Deutschland zählen alle zu diesem Fünftel - sich "krank arbeiten", dann stimmt etwas nicht mit ihrem Selbstverständnis, mit gesellschaftlichen Werten und/oder mit der Arbeitsorganisation. Dann muss sich der Einzelne selbstkritisch fragen: Was sind meine Fähigkeiten und meine Grenzen? Versuche ich vielleicht nach Sternen zu greifen? Aber auch: Wo renne ich törichten gesellschaftlichen Normen hinterher oder anders: Ist die Karotte der ich nachlaufe wirklich meine? Wo versuche ich Ziele, namentlich Konsumziele zu erreichen, nur weil andere diese Ziele erreichen wollen oder erreicht haben?
Mitmenschen und Gesellschaft sind nicht damit gedient, wenn durch rastloses Wirken das soziale Gewebe verschlissen wird, so dass Familien, Freundeskreise oder Nachbarschaften unter der Last kompensatorischer Leistungen straucheln. Ähnliches gilt für die Gesellschaft insgesamt. In der unseren sind die Krankenkosten zu hoch. Zwar sind sie nicht allein auf den Faktor Arbeit zurückzuführen. Dass diese aber eine herausragende Rolle spielt, steht außer Zweifel. Die Verbindung von Arbeit und Krankheit war im 19. Jahrhundert oder auch noch vor wenigen Jahrzehnten sicher stärker. Seitdem haben sich die Arbeitssicherheit und -bedingungen drastisch verbessert. Dennoch hängen Arbeit und Krankheit noch zu eng zusammen. Der arbeitsbedingte Invalide ist für jede wohlhabende Gesellschaft ein Armutszeugnis.
Und dann sind da noch Umwelt und Natur. Dass die Menschheit heute 1,6 Erden benötigt, um ihrem Arbeitseifer freien Lauf zu lassen, wurde bereits gesagt. Nachzutragen ist, dass, würde die gesamte Menschheit so wirtschaften wie wir Deutschen, sie 2,6 Erden für ihr Wirtschaften und Arbeiten beanspruchen würde - eine ganz und gar unhaltbare Situation. Sie schreit geradezu danach, dass unser Wirtschaften, und das heißt ganz wesentlich auch unser Arbeiten, wieder reduziert werden muss auf jenes menschen- und erdverträgliche Maß, das mit der industriellen Revolution gesprengt worden ist. Diese Reduktion betrifft aber nicht nur die schiere Quantität erbrachter Arbeitsleistung. Sie betrifft auch - und sogar in noch höherem Maße - deren Qualität. Was aber ist qualitativ hochwertige Arbeit?
Spezialisten sind kein Garant für Qualität.
Die Meisten glauben, hiervon eine klare Vorstellung zu haben - die Schaffung eines Qualitätsprodukts mit einem langen Lebenszyklus oder eine vorzügliche Dienstleistung. Das ist nicht falsch, aber entschieden zu kurz gesprungen. Denn als qualitativ hochwertig kann nur eine Arbeit gelten, deren Saldo positiv ist und die zu keinen dauerhaften Schäden an unseren Lebensgrundlagen führt. Arbeit, die diese Kriterien nicht erfüllt, kann keine Arbeit der Zukunft sein. Und hier nun offenbart sich eine entscheidende Schwäche der gesamten Arbeitsdebatte. Soeben fragte ich, ob wir in den früh industrialisierten Ländern in eine historische Phase eingetreten seien, in der wir uns arm arbeiten. Ich ließ diese Frage unbeantwortet und musste sie unbeantwortet lassen, weil uns zwar überall auf der Erde hochentwickelte Systeme zur Erfassung der Habenseite menschlichen Wirkens zur Verfügung stehen, wir aber nur extrem bruchstückhafte Vorstellungen von dessen wahren Kosten haben.Ein Blick in beliebige Wirtschaftsberichte verdeutlicht das Dilemma.
Ist es positiv oder negativ zu bewerten, wenn Chinas Wachstumsraten sinken, sich die Zahl der weltweit gefahrenen Automobile in naher Zukunft verdoppelt oder der Flugverkehr innerhalb weniger Jahrzehnte um 100 Prozent steigt? Die meisten von uns sind so konditioniert, dass sie eine Schrumpfung wirtschaftlicher Aktivitäten als abträglich und deren Expansion als zuträglich ansehen. Dass derartiges Empfinden an der Wirklichkeit vorbeigeht, zeigt sich spätestens bei Gelegenheiten wie dem Pariser Klimagipfel im Dezember vorigen Jahres: Die Welt am Abgrund und zwar nicht wegen eines zu Wenig, sondern eines Zuviels menschlicher Aktivitäten. Und dies ist der Kern der Diskussion um die Zukunft der Arbeit oder vielmehr, dies müsste der Kern sein, um den sich alles andere dreht.
Betrachten wir ein Beispiel: Die immer weitere Segmentierung und Ausdifferenzierung von Arbeit. Historisch gesehen ist es noch nicht lange her, da sprach man noch von Universalgenies, glaubte man das Wissen der Menschheit in ein paar dicke Bücher packen zu können und hielt eine einmalige Ausbildung in einem Beruf für ausreichend. Wir alle wissen, dass das vorbei ist. Aber was folgt daraus für das Individuum, das Kollektiv und die Gesellschaft? Sie alle zersplittern - in multiple Persönlichkeiten, fraktionierte Gruppen oder atomisierte Gesellschaften. Expertenwissen und -können stehen gegen Expertenwissen und -können, so dass Entscheidungen immer schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich werden. Ob in Ärzteteams, Unternehmensführungen oder im Gemeinwesen – die Experten lähmen sich gegenseitig.
Reform statt Renaissance.
Für die Zukunft der Arbeit heißt das, dass sie bei aller Segmentierung und Ausdifferenzierung in allen ihren Teilen anschlussfertig bleiben muss. Den Menschen ist mit Spezialistentum wenig gedient, wenn sich dieses nicht einfügen lässt in größere Zusammenhänge. Im Zweifel sollte auf eine immer größere Spezialisierung verzichtet und die Pflege der Zusammenhänge stärker gefördert werden. Vor besonders schwierigen Herausforderungen stehen Gesellschaften aufgrund des extremen Auseinanderdriftens der Wertigkeiten von Arbeit. Diese Entwicklung verläuft konträr zum Postulat einer gewissen gesellschaftlichen Gleichheit. Würde und Rechte sollen für alle gleich sein, Jedermanns Stimme das gleiche Gewicht haben. Demokratie und ein gewisses Maß an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gleichheit bilden einen Gleichklang. Doch ist Demokratie auf Dauer aufrecht zu erhalten, wenn sogar die Mehrheit Kostgänger einer überaus produktiven Minderheit wird? Überfordert das nicht früher oder später den solidarischen Zusammenhalt? Oder alternativ: Fördert das nicht die Renaissance quasi feudaler Strukturen, bei denen viele wirtschaftlich wenig Potente in den Diensten einer wirtschaftlich starken Minderheit stehen?
Lange hat man gedacht, dass eine solche Entwicklung vor allem durch die zunehmende Spreizung von Vermögen in Gang gesetzt worden sei. Nun aber wird immer deutlicher, dass diese ganz unübersehbare Vermögensspreizung nicht zuletzt auf das steiler werdende Gefälle bei der Bewertung von Arbeit zurückzuführen ist. Da mögen Gewerkschaften und Politiker noch so sehr auf eine bevorzugte Behandlung der unteren Lohngruppen drängen. Am Ende des Tages werden diejenigen das Sagen haben, deren Leistungsangebot am knappsten ist.
Ganz neu ist das nicht. Schon in der Antike und im Mittelalter konnten besonders talentierte Maler, Bildhauer oder Architekten Traumhonorare erzielen. Das aber war eine andere Welt. Praktisch gewendet: In den 1990er Jahren sah sich die kommunistische Führung Chinas veranlasst, im Zuge der Einführung marktwirtschaftlicher Wirtschaftsformen Anleihen bei westlichen Sozialsystemen zu nehmen. Benötigen vielleicht wir heute aufgrund der tiefgreifenden Veränderungen des Faktors Arbeit eine Reform unseres Sozialsystems? Die Debatte hierüber hat ja bereits begonnen. Aber noch verläuft sie in historisch ausgetretenen Bahnen. Dann heißt es, es könne und dürfe nicht sein, dass ein Rentenversicherter nach 40jähriger Versicherungsdauer keine bessere Altersversorgung habe als derjenige, der die gesetzliche Grundsicherung bezieht. Doch, das kann und darf sein, solange in völliger Verkennung der veränderten Rolle der Erwerbsarbeit Arbeit und soziale Sicherheit weiterhin wie siamesische Zwillinge behandelt werden. Mit Blick auf die Zukunft gehören sie getrennt.
Bleibt der bislang ungelöste Konflikt zwischen Arbeit, namentlich Erwerbsarbeit, und dem für jede Gesellschaft sensibelsten Thema, ihre Bevölkerungsentwicklung. Fakt ist, dass mit Zunahme der Arbeitsintensität im Zuge der industriellen Revolution die Geburtenfreudigkeit abgenommen hat. Mittlerweile ist sie in fast allen entwickelten Ländern auf ein Niveau gesunken, auf dem sich die Bevölkerung nicht mehr zahlenmäßig ersetzt. Die Bevölkerung Deutschlands beispielsweise ersetzt sich seit annähernd einem halben Jahrhundert zu nur noch zwei Dritteln aus der Zahl ihrer Kinder. Die Folgen sind absehbar und zunehmend spürbar. Gewiss ist hierfür der Faktor Arbeit nicht allein ursächlich. Doch selbst wenn sich die effektiv erbrachte Arbeitsmenge pro Kopf und pro Erwerbstätigem in den zurückliegenden hundert Jahren mehr als halbiert hat, sind früh industrialisierte Länder wie Deutschland nach wie vor extrem arbeitszentriert. Das beginnt in den Lehrprogrammen der Kindergärten und Schulen, setzt sich fort an Ausbildungsplätzen und in Universitäten und endet beim Cocktail- und Nachbarschaftsplausch. Überall definieren sich die Menschen in ihrer und durch ihre Arbeit. Diese bestimmt ihren gesellschaftlichen Status und ihr Selbstverständnis. Ob sie darüber hinaus auch noch Mütter oder Väter sind, sich um zuwendungsbedürftige Angehörige oder um das gemeine Wohl kümmern, zählt demgegenüber wenig.
Ich verkenne nicht, dass sich in neuerer Zeit hier einiges geändert hat. Doch obwohl die Gesellschaft Bemerkenswertes leistet, um den Konflikt zwischen Arbeit auf der einen und Familie und Kinder auf der anderen Seite zu entschärften, sind viele noch immer der Meinung, es geschehe nicht genug. Erwartet wird weithin eine mehr oder minder vollständige Vergesellschaftung der Bevölkerungsreproduktion. Frauen und Männer sollen sich möglichst ungestört auf ihre Erwerbstätigkeit fokussieren können. Im Prinzip ist das möglich. Aber ist das auch wünschenswert? Zukunftsfähig ist ein solches Arbeits- und Gesellschaftsmodell nämlich nur dann, wenn sich die Gesellschaft fundamentaler kultureller Veränderungen unterzieht. Will sie das? Soll sie das wollen? Die Frage nach der Zukunft der Arbeit mündet damit fast zwangsläufig in die Frage nach der Zukunft unserer Kultur. Vor diesem Hintergrund verblassen alle Betrachtungen der Globalisierung, Digitalisierung und was der "-sierungen" mehr sein mögen. Im Kern ist die Frage nach der Zukunft der Arbeit nämlich die Frage nach dem Menschen- und Gesellschaftsbild, das verwirklicht werden soll. Hierüber gilt es Klarheit zu gewinnen: Was wollen wir?
Prof. Dr. Reinhard Miegel ist seit 2007 Vorsitzender des Vorstands des Denkwerks Zukunft - Stiftung kulturelle Erneuerung.
Wirtschaft | Führung & Personal, 01.08.2016
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2016 - Zukunft der Arbeit erschienen.
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