Die Flüchtlingskrise und ihre Lösungen

Nur mit neuen und tiefgreifenden Maßnahmen können wir langfristig die Flüchtlingswellen eindämmen und menschlich handeln.

Seit April 2015 ist der EU-Deal mit der Türkei in Kraft. In Absprache mit der EU hat die Türkei ihre Grenzen geschlossen. Schutzsuchende ohne Aussicht auf Asyl wurden aus Griechenland in die Türkei deportiert, denn sie gelten als illegal eingereist. Das allein ist schon grotesk: Was sind das für Gesetze, die Überleben illegal machen? Die Flüchtlinge haben alles verloren, sie haben auf der Flucht vor Armut, Verfolgung und Krieg tausende Kilometern hinter sich gebracht, vielfach zu Fuß, über verschneite Bergpässe, in Lastwagenladungen versteckt, über das Meer in untauglichen Schlauchbooten bei Eiseskälte und Sturm. Sie haben Strapazen überlebt, die viele andere zu Tode gebracht haben. Seit vielen Monaten werden sie auf Lesbos und anderen Inseln interniert und warten auf ihre Abschiebung. Rund 50.000 Flüchtlinge mit Aussicht auf Asyl - meistens aus Syrien und Afghanistan - warten seither unter alarmierenden Zuständen in griechischen Flüchtlingslagern, und es passiert - nichts. Nur wenige 1000 kamen in ihren Asylprozessen voran. Griechenland ächzt mit 25 % Arbeitslosigkeit sowieso schon unter der Wirtschaftskrise.
 
Der EU-Deal mit der Türkei
Er war auch schon vor dem Putsch unmenschlich und widerspricht dem Völkerrecht. Die Türkei mit ihren Angriffen gegen die Kurden und ihrer Abschiebung syrischer Flüchtlingen in Kriegsgebiete ist kein sicheres Herkunftsland. Der Deal dient nicht dem Schutz von Flüchtlingen, sondern dem Schutz vor Flüchtlingen. Europa hat dichtgemacht. Wer hoffte, dass mit den Grenzschließungen in Europa und dem Waffenstillstand in Syrien die Flüchtlingskrise zu Ende ging, hat sich getäuscht: Sie wurde nur aus unserem unmittelbaren Blickfeld entfernt.
 
Wo bleibt der Aufschrei Europas? Millionen gingen in Südeuropa auf die Straßen, als es um ihre Jobs und Sicherungen ging. Außer in Barcelona – wo 15,000 Menschen gegen den Türkei-Deal protestieren – blieb es still auf Europas Straßen. Mit dem Türkei-Pakt warf die Europäische Union ihr letztes humanes Feigenblatt ab. Alle wissen, dass dies ein Verbrechen an der Menschlichkeit ist, aber sie lassen es geschehen. Der Türkei-Deal markierte eine historische Wegmarke in Richtung eines totalitären Europas. Schritt für Schritt wird die westliche Demokratie, deren Grundlage die Garantie der Menschenrechte darstellte, in ein menschenverachtendes Gewaltregime verwandelt. Wenn wir diesen Umgang mit Flüchtlingen erlauben, dürfen wir uns in Zukunft nicht wundern, wenn auch uns elementare Rechte verweigert werden. Alle EU-Bürger machen sich zu Mittätern an diesem Unrecht, wenn sie weiterhin nichtstuend zusehen, denn wo Unrecht Gesetz ist, wird Widerstand Pflicht.
 
Wir können es schaffen, aber nur…
Ein wohlhabender Kontinent von 500 Millionen Einwohnern muss in der Lage sein, 1, 2 oder auch 10 oder 15 Millionen Neuankömmlinge in seiner Mitte aufzunehmen, ohne seine Identität zu verlieren. Die Propaganda macht uns glauben, Flüchtlinge und der IS seien die Bedrohung Europas. Gleichzeitig zeigte die Entlarvung der Panama-Papiere und jetzt Football-Leaks, dass es nicht die Kriegsflüchtlinge sind, die uns bedrohen, sondern die Steuerflüchtlinge. Sogar der Papst sagte: Solange wir internationale Waffenexporte und globalen Ölhandel zulassen, werden wir Kriege haben, und damit auch Flüchtlinge. Es gibt keine Lösung für die Flüchtlingskrise außer der Behebung der Fluchtursachen. Das allerdings geht nur durch einen fundamentalen Systemwechsel, denn die Flüchtlinge sind eine direkte Folge unseres auf Krieg und Ausbeutung basierenden Wirtschaftssystems. Der Wohlstand und die Macht auf der einen Seite der Welt werden erkauft durch das Leid auf der anderen. Den Systemwechsel von der Globalisierung des Unrechts in eine Globalisierung der Menschlichkeit brauchen nicht nur die Flüchtlinge, sondern wir auch die, die heute noch glauben, an sicheren Orten ewigen Wohlstands zu leben. Um einen Systemwechsel einzuleiten, brauchen wir dezentrale Modelle an einigen Orten der Erde, die zeigen, wie Menschen gut und sicher leben können – nachhaltig, ohne Ausbeutung, ohne Abhängigkeit vom globalen Handel. Davon sind wir noch weit entfernt. Die Flüchtlingskrise ist – ebenso wie der Klimawandel und die ökonomische Krise – ein Symptom für die Krise der Menschheit. Laut einer NASA-Studie wird unsere gesamte industrielle Zivilisation innerhalb der nächsten 20-30 Jahren zusammenbrechen – aufgrund der ökologischen und sozialen Katastrophen, die wir selbst geschaffen haben. An vielen Orten herrschen bereits heute apokalyptische Zustände. Es gibt laut UN bereits heute 60 Millionen Flüchtlinge weltweit; und es werden nicht weniger, sondern mehr werden, viel mehr.
 
Die Deportierten: Das könnten wir sein! Auch die 50.000 Menschen, die in griechischen Camps aushalten, ungewollt, ohne Perspektive, ohne Hoffnung, ohne Schutz: Das könnten wir sein! Jetzt ist es an der Zeit, unser Willkommen zu erneuern – nicht nur aus Wohltätigkeit, sondern um gemeinsam die zerstörerischen Mechanismen unserer Zivilisation zu verändern. Jetzt ist es an der Zeit, das Willkommen, das unser Herz aussprechen möchte, mit einer Strategie zu verbinden, die für alle zu einem Gewinn und einem Neustart wird.
 
Gründe zur Hoffnung
Es gibt hoffnungsvolle Modellprojekte. Eines davon ist Riace in Italien: Das kalabrische Dörfchen mit 2000 Einwohnern, dessen soziales Leben und Ökonomie 1998 am Boden lag, weil die Jugend wegzog und die Betriebe eingingen, nahm damals über 200 gestrandete Flüchtlinge auf. Mit ihrer Initiative Città Futura (Stadt der Zukunft) blüht das Dorf auf. Heute leben rund 500 Asylbewerber aus Afrika, Asien und Kurdistan als Nachbarn mit Einheimischen zusammen und übernehmen soziale und ökologische Aufgaben im Dorf, die Kinder gehen zur Schule. Neue Handwerksbetriebe wurden eröffnet. Wim Wenders, der darüber einen Film drehte, sagte: "Die wahre Utopie ist nicht der Fall der Berliner Mauer, sondern das Zusammenleben der Menschen in Riace." Sicher ging das nicht ohne Reibung und Konflikte, aber es ging, und beide Seiten profitieren davon. Sterbende Dörfer und Landflucht gibt es in ganz Europa. Tausende solcher Orte könnten jetzt revitalisiert werden in Kooperation mit Flüchtlingen, die nur zu bereit sind, neu anzufangen und sich eine neue Heimat aufzubauen – wenn das soziale und ökologische Wissen dafür vorhanden ist.
 
Die portugiesische Regierung warb aktiv um Flüchtlinge mit landwirtschaftlichen Kenntnissen, um den bevölkerungsarmen und von Wüstenbildung bedrohten Alentejo zu regenerieren. Stellen wir uns vor, mehrere Länder kommen auf diese Idee. Stellen wir uns vor, ihre Vorhaben werden verbunden mit Ausbildungsmöglichkeiten in ökologischem Hightech und dezentraler Energieautonomie, mit dem Aufbau einer ökologisch und sozial verträglichen Kleinindustrie und der Schaffung von Arbeitsplätzen, dezentral, in vielen abgelegenen Regionen! Stellen wir uns vor, dass traditionelles und modernes Wissen über ökologische Rekultivierung und soziale Nachhaltigkeit hier integriert, angewendet und gelehrt wird! Sterbende Regionen können sich tatsächlich in blühende Landschaften verwandeln.
 
Dafür braucht es überzeugende Modellprojekte oder "Blaupausen", wie das Hilfsnetzwerk Blueprint sie erarbeitet: Es sind Entwicklungshelfer, ökologische Visionäre, Menschen mit Gemeinschaftswissen, Aktivisten, Experten für Energieautonomie und natürliches Bauen, die in der ganzen Welt helfend unterwegs sind und jetzt ihre Arbeit und ihr Wissen zu ganzheitlichen Beispielprojekten zusammenfügen. In Portugal und in Griechenland arbeiten sie mit dem Projekt HOME an einem integrativen Lebens- und Ausbildungsmodell für das Zusammenleben von Flüchtlingen und Einheimischen, für nachhaltiges Bauen und Wirtschaften. Das Blueprint-Team und viele andere professionelle und freiwillige Helfer aus aller Welt sind bereit, die ersten Modelle für Integration und gemeinsame Revitalisierung zu begleiten.
 
Eine Utopie? Unbezahlbar?
Unbezahlbar ist langfristig der Türkei-Deal, finanziell, rechtlich und menschlich. Aber dezentrale Nachhaltigkeits-Modelle werden sich nach kurzer Zeit selbst tragen, ihr Langzeiteffekt wird allen dienen – den Flüchtlingen, den Einheimischen und der Natur.
 
Leila Dregger ist Diplom-Agraringenieurin und langjährige Journalistin. Mit den Schwerpunktthemen Frieden, Ökologie, Gemeinschaft, Frauen arbeitet sie seit 25 Jahren für Presse und Rundfunk sowie als Drehbuchautorin und Regisseurin für Theater und Film. Sie war Herausgeberin der Zeitschrift „Die weibliche Stimme – für eine Politik des Herzens", Pressesprecherin des Hauses der Demokratie in Berlin und lebt heute überwiegend in Tamera in Portugal. Sie lehrt konstruktiven Journalismus für Berufsanfänger sowie in Krisenregionen und ist Autorin mehrerer Bücher.
 
Über die Ursachen von Flucht insbesondere auch die Dimensionen der „Klimaflucht" informiert Sie forum Nachhaltig Wirtschaften 4/2016

Gesellschaft | Migration & Integration, 12.12.2016

     
        
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