"In welcher digitalen Welt wollen wir künftig leben?"

Die gesellschaftliche Debatte um die Ethik der Algorithmen hat gerade erst begonnen.

Dr. Axel Wehmeier, Chef der Gesundheitssparte Telekom Healthcare Solutions, über Potenziale und Herausforderungen von Big Data im Gesundheitssektor.

Dr. Axel Wehmeier, Chef der Gesundheitssparte Telekom Healthcare Solutions. Foto: TelekomDie Medizin weiß heute viel über einzelne Krankheiten und ihre Behandlung durch Medikamente oder Therapien. Wie allerdings das individuelle Zusammenspiel zwischen Behandlungsmethode und Patient genau funktioniert, darüber wissen wir wenig. Dabei ist jeder von uns genetisch betrachtet ein Unikat. Wir pflegen zudem individuelle Lifestyles, sind bewegungsfaul, laufen Halbmarathon, essen viel Fett oder Vitamine, rauchen, trinken Alkohol, sind abstinent. Kurz: Jeder Mensch ist und lebt einmalig. Daher schlägt eine Therapie bei einen Patienten problemlos an, beim nächsten aber mit unerwünschten Nebenwirkungen zu.

Versorgungsforschung braucht Daten
Die personalisierte Medizin wird das ändern: Sie wird noch wesentlich genauere Diagnosen liefern und weitaus mehr Patienten als heute eine auf sie zugeschnittene Behandlung ermöglichen. Voraussetzung dafür sind möglichst viele Informationen, die die Menschen der Versorgungsforschung für Analysen zur Verfügung stellen – es geht um Big Data. Vielen gilt das Thema als die nächste große Revolution in der Medizin, der britische Guardian sieht sogar „Chancen biblischen Ausmaßes".

Angst vor dem gläsernen Patienten
Nach wie vor ist das Thema aber bei vielen Patienten und Ärzten angstbesetzt. Schon wenn Analysetools aus Suchmaschinen-Eingaben zu Hustensaft und Händewaschen den Verbreitungsgrad einer Grippewelle errechnen, verursacht das vielen Unwohlsein. Grauen verbreitet spätestens die Vorstellung von einer „Robotermedizin", bei der künftig Computer Patientendaten analysieren und dann Therapievorschläge machen. Die Angst vor einem digital erfassten Patienten und dem damit einhergehenden Risiko eines unbefugtem Zugriffs auf die medizinischen Daten ist groß. Der gläserne Patient ist das ultimative Schreckensszenario des digitalen Gesundheitswesens.

Gesundheit ist das höchste Gut
Mit Bedenken allein kommen wir aber auch nicht weiter. Das ganze Dilemma wird überdeutlich bei den rund vier Millionen Menschen in Deutschland, die an einer der 8.000 heute bekannten seltenen Krankheiten leiden. Alle eint die schwierige Suche nach Diagnosen, Ärzten und Therapien. Im Extremfall gibt es von einer Krankheit weltweit ein paar Dutzend Fälle, die Daten dazu liegen verstreut auf einzelnen Krankenhaus-Servern. Ärztlicher Rat ist da ebenso rar wie die Krankheit selbst. Wer kann es Patienten da verdenken, dass sie ganze Krankengeschichten als E-Mail-Anhang versenden?  Hauptsache jemand hilft. Das erinnert uns daran: Gesundheit ist das höchste Gut. Daher dürfen uns Ängste beim Schutz der Gesundheit nicht aufhalten.

Wir müssen viel mehr als bisher erklären
Trotzdem müssen wir die Sorgen der Menschen Ernst nehmen. Gesundheitsdaten müssen selbstverständlich bestmöglich geschützt werden. Technische Vorkehrungen allein reichen aber nicht. Selbst wenn wir den medizinischen Fortschritt nicht aufhalten können, so wird der erwartete Nutzen etwa von Datenanalysen verzögert kommen, wenn wir die Patienten auf dem Weg ins digitale Gesundheitswesen nicht abholen. Wir müssen viel mehr als bisher erklären: Was ist der Nutzen solcher Analysen? Sie dürfen nicht Selbstzweck sein.

Transparenz schaffen
Zudem müssen wir Transparenz schaffen, was mit den Daten gemacht wird. Welche Daten werden wie lange gespeichert? Wo und wie werden diese gespeichert? Wer hat Zugriff auf die Daten und welche Auswertungen werden gemacht? Wie ist der Zugriff durch unbefugte Dritte, etwa Arbeitgeber, abgesichert? Gerade hier sind die Unternehmen gefordert. Noch nie zuvor konnten wir Daten so gut höchstsicher verschlüsseln und schützen wie heute. Der Satz muss auch morgen noch gelten. Und damit der Austausch von Daten überhaupt möglich ist, müssen die Systeme interoperabel sein. Lösungen hierfür gibt es bereits.

Risiko von Cyberattacken
Auch die Politik hat noch Hausaufgaben: Der gegenwärtige Rechtsrahmen in Deutschland hinkt den technologischen Möglichkeiten weit hinterher. Das Strafrecht geht in § 203 StGB („Arztgeheimnis") rigoros mit der Weitergabe von Daten um. Es verbietet sie schlicht – alledings nur für private Anbieter. Dass aber ein Krankenhaus in naher Zukunft ohne externe nicht-medizinische Dienstleister nicht mehr in der Lage ist, seine IT sicher zu betreiben, diese Option kennen weder StGB noch die Spezialgesetze. Die heutige Regelung erhöht jedenfalls im Ergebnis das Risiko von Cyberattacken auf unsere sensibelsten Daten.

Die Latte liegt hoch
Unterdessen geht die Entwicklung weiter. Kurz vor dem Jahreswechsel hat die EU-Kommission einen Bericht mit zehn Empfehlungen zum Aufbau und Umgang mit Big Data im Gesundheitswesen vorgestellt. Die Latte liegt nun zwar hoch, aber zumindest haben wir damit Leitplanken. Auch die Patienten signalisieren Zustimmung. Nach einer Umfrage der  Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) würden 71 Prozent der Deutschen ihre Daten zur Verfügung zu stellen, wenn sie damit zur Prävention oder zur Entwicklung besserer Therapiemöglichkeiten beitrügen.

Datenanalysen mit hohem Potenzial
Das Potenzial von Datenanalysen wird immer stärker in der medizinischen Praxis genutzt. Wissenschaftler unterstützen zum Beispiel die Erforschung seltener Krankheiten mit elektronischen Registern. Auf diese Weise können betroffene Patienten länderübergreifend erfasst und für klinische Studien gewonnen werden, um neue Therapien auf den Weg zu bringen. Das bietet zumindest die Chance, einige hundert Fälle zu finden, selbst wenn es im eigenen Land höchstens ein Dutzend davon gibt. Die Anfänge von Big Data sind manchmal klein aber sie passieren.

Enormer Erkenntnisgewinn
An anderer Stelle ist das große Potenzial der Technik noch deutlicher erkennbar, wie das Computerspiel „Sea Hero Quest" bei der Alzheimerforschung zeigt. Oder Firmen wie "sistemas genomicos" in Spanien oder "bio.logis" in Frankfurt. Diese bieten Patienten Auswertungen zu deren persönlichem Genom an. Das Volumen für eine Analyse ist enorm: Ein vollständiges Genom liegt bei 1 TB an Rohdaten. Enorm ist auch der mögliche Erkenntnisgewinn – etwa zu erblich veranlagten Krankheiten und deren Behandlung.

Wie gehen wir mit diesem Wissen um?
Wie weit darf Big Data jedoch gehen? Das ist keine Frage allein für Juristen und Datenschützer sondern auch eine zutiefst ethische. Wollen wir wissen, ob wir mit einem Partner nach Lage der Gene Kinder bekommen können oder eine tödliche Krankheit erblich vorprogrammiert ist? Wie gehen wir mit diesem Wissen um? Mit wem teilen wir es? Bleibt die digitale Medizin in großen Teilen wie heute reichen Privatzahlern vorbehalten oder kommt sie auch für den Kassenpatienten? Nutzen wir die Chancen der Digitalisierung konsequent und ungebremst, einfach weil wir es können oder ziehen wir eine Grenze? Wo soll diese liegen und wer zieht sie? Allein der Patient oder darf man den Patienten gerade bei den Kernfragen des Lebens nicht allein lassen?

In welcher digitalen Welt wollen wir leben?
Die gesellschaftliche Debatte um die Ethik der Algorithmen hat gerade erst begonnen. Am Ende müssen wir uns alle – jeder für sich – fragen, in welcher digitalen Welt wir künftig leben wollen. Wer Antworten für die Zukunft sucht, wird oft in der Vergangenheit fündig. Big Data ist für den medizinischen Fortschritt so wichtig wie Röntgenaufnahmen und Mikroskopie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Nur mit dem Mikroskop konnte der Pathologe Rudolf Virchow die Zelle als Ort der Erkrankung ausmachen und endgültig die alte Vorstellung von den Körpersäften ablösen. Ohne dies wäre Krebs heute noch Schwindsucht.

Nachdem Axel Wehmeier sein Studium der Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre an der University of Texas und an der Kölner Universität absolviert hatte, arbeitete er als Referent Pricing bei der Deutschen Telekom AG. Von 2002 an widmete er sich als Leiter des Bereiches Regulatory and Principle sowie Projektleiter Novelle Telekommunikationsgesetz zunächst der Regulierungsökonomie, dem Konzernpricing sowie den Regulierungsstrategien und -grundsätzen des Unternehmens, ehe er 2004 die Leitung des Operating Office des CEO von T-Mobile übernahm. Zuletzt, von Dezember 2006 bis Juni 2010, leitete er das Aufsichtsratsbüro und den Stab von René Obermann, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Telekom AG. Im Juni 2010 wechselte er als Leiter des strategischen Geschäftsfelds Vernetztes Gesundheitswesen zu T-Systems und verantwortet hier seit 2014 als Sprecher der Geschäftsführung die Telekom Healthcare Solutions.


Quelle: Deutsche Telekom AG

Gesellschaft | Megatrends, 11.01.2017

     
        
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