Entrepreneurship hinter Gittern

Gefangene werden zu Unternehmern

Vom Drogen- zum Brötchendealer: Das Leonhard-Programm bildet seit sieben Jahren Strafgefangene ­erfolgreich zu zukünftigen Unternehmern aus. Das Interesse aus Wirtschaft und Politik ist groß – macht das Modell bald bundesweit Schule?

Bernward und Maren Jopen riefen 2010 das Leonhard-Projekt ins Leben. Der Name stammt vom heiligen Leonhard, dem Schutzpatron der Gefangenen. © Leonhard-ProgrammIch bin auf dem Weg ins Gefängnis! Ein mulmiges Gefühl. Mein Ziel: die Stadelheimer Straße 12 in München, ein von hohen Mauern umgebenes Gebäude, Stacheldraht, Wachtürme, Suchscheinwerfer. Es geht ein paar Treppenstufen hinunter in einen Vorraum, der von doppelten Panzerglasscheiben eingegrenzt ist. Am Ende des Raumes: eine vergitterte Tür. Dahinter Personenkontrolle, Metalldetektor und Abgabe meines Ausweises sowie aller persönlichen Gegenstände. Es läuft alles glatt und nach der Kontrollschleuse befinde ich mich im Innenhof der Justizvollzugsanstalt (JVA) München, die ich zu einem ganz besonderen Anlass besuche: Bei einer feierlichen Abschlussveranstaltung werden heute 15 Häftlinge entlassen – vorerst allerdings nur aus dem Leonhard-Programm, einem Unternehmertraining für Gefangene. Aber das ist, wie ich später von den Häftlingen erfahren werde, eine gute Vorbereitung für die wirkliche Entlassung in die Freiheit.

Von Houston nach Landsberg am Lech
Nach drei weiteren Sicherheitsschleusen erreiche ich den Festsaal, in dem die Entlassungsfeier stattfindet. Bernward Jopen, der das Entrepreneurship Projekt mit seiner Tochter ins Leben gerufen hat, ist sichtlich stolz und empfängt die Gäste. Auch wenn es bereits der elfte Kurs ist, den er heute abschließt: Es ist immer noch ein ganz besonderes Gefühl für ihn. Jopen ist promovierter Elektroingenieur und kann auf eine lange Karriere bei IBM sowie als Gründer und Geschäftsführer verschiedener Unternehmen zurückblicken. Er ist ein erfolgreicher, neugieriger „Serial Entrepreneur", ein Vollblutunternehmer und hat 2003 auch das Gründerzentrum „UnternehmerTUM" an der Technischen Universität München ins Leben gerufen.

Im Jahr 2009 erfährt er über einem Zeitungsartikel vom Prison Entrepreneurship Program, einem Projekt in den USA, das Häftlinge zu Unternehmern ausbildet. Gegründet wurde es von der jungen Berkeley-Absolventin Kathleen Hoke. Begeistert reist Jopen nach Houston, Texas, um sich vor Ort inspirieren zu lassen – und kehrt mit dem Vorhaben zurück, die Idee nach Deutschland zu bringen. Jopen stellt das Projekt seiner Tochter Maren vor. Er erzählt ihr von der Inspiration durch Kathleen Hoke, hält ihr den Zeitungsartikel über das Projekt in Texas unter die Nase und schon fängt sie Feuer.

Vater und Tochter setzen das Vorhaben nun eigenständig um, Maren Jopen gibt ihren Job im Marketing eines Unternehmens auf und gründet mit dem Vater im Jahr 2010 das Leonhard-Programm. Der Name stammt vom heiligen Leonhard, dem Schutzpatron der Gefangenen.

Ihr Pilotprojekt starten die Jopens im bayerischen Landsberg am Lech, die Vorbehalte von allen Seiten sind erst einmal groß, die anfänglichen Hürden enorm. Aufgeben kommt für die Jopens jedoch nicht in Frage. Nachdem sie wegen Umbauarbeiten nicht in Landsberg bleiben können, versuchen sie es an anderer Stelle noch einmal, in der Landeshauptstadt München. Dort funktioniert ihre Idee, auch dank Unterstützung des Justizministeriums, auf Anhieb viel besser. Seit mittlerweile fünf Jahren wird das Projekt nun in der JVA Stadelheim in München erfolgreich durchgeführt.

Vom Haftbefehl zum Businessplan
20 Wochen lang pauken die Teilnehmer des Leonhard-Programms, bis sie ihre Businesspläne vorstellen können – und so ihrem Ziel ein Stück näher kommen: der Selbständigkeit in Freiheit. © Leonhard-ProgrammGenau dort sitzen wir nun in einem großen Saal mit hohen Decken und Stuck. Die Atmosphäre könnte im Vergleich zur angespannten Einlasskontrolle nicht unterschiedlicher sein – die Stimmung ist gelöst, es wird immer wieder gescherzt. Im Publikum sitzt eine bunte Mischung aus Unternehmensberatern, Studenten, Politikern. Auch ein Musiker, eine Yoga-Lehrerin und eine Choreografin sind dabei – sie alle sitzen neben den 16 Häftlingen, die als angehende Unternehmer ihre Businesspläne vorstellen. In Kurzfassung haben sie diese auf Plakate gedruckt. Es werden kritische Fragen gestellt, es wird diskutiert. Wenn man die Gitter vor den hohen Fenstern ausblendet, könnte man auch in einem Hochschul- oder Weiterbildungsseminar sitzen. Doch vor uns stehen keine Studenten, sondern verurteilte Verbrecher. Und ebenso unterschiedlich wie die Vorgeschichten der 23 bis 58 Jahre alten Teilnehmer sind auch ihre Projekte: Die Bandbreite reicht von einem digitalen Backshop über eine Agentur für MPU-Schulungen und einen Installateur von Photovoltaik-Anlagen in Argentinien bis hin zu einem Social Business, das Straßenkinder in Nigeria unterstützen möchte. Als Gewinner des Businessplan-Wettbewerbes wurde schließlich ein Unternehmenskonzept für individuelle Küchenentwürfe mit 3D-Visualisierung gekürt. Der Publikumssieger möchte ein Unternehmen starten, das individuell gefertigte PC-Möbel herstellt.

Bewerbungstraining und Yoga-Kurse
20 Wochen lang heißt es für die Teilnehmer des Kurses pauken und die Schulbank drücken – dabei reift ihr Vorhaben von der Geschäftsidee bis hin zum Businessplan. Unterstützt werden sie vom fünfköpfigen Leonhard-Team und einem Kreis von ehrenamtlichen Ausbildern. Als Mentoren aus der Wirtschaft greifen sie den Teilnehmern unter die Arme, helfen bei der Kontaktvermittlung zu Unternehmen oder geben Ratschläge für Bewerbungsgespräche. Für die Ausarbeitung ihres Businessplans haben die Häftlinge zwar einen Laptop zur Verfügung – aber keinen Internetzugang. Studierende der Münchener Hochschulen führen als freiwillige Businessplan-Berater Recherchen für sie durch und geben zwischenzeitlich Feedback zur Machbarkeit. Das Programm ist zweigleisig aufgebaut: Neben Businessplan-Workshops und Bewerbungstrainings, die die angehenden Unternehmer auf die Selbständigkeit nach der Haft vorbereiten oder ihnen eine Anstellung erleichtern sollen, wird ein weiterer Aspekt gefördert: die Persönlichkeitsentwicklung.

Hier ist ein ganz besonderer Effekt des Programms: Die Häftlinge erkennen ihre Schwächen und Stärken und lernen im Team an ihrem Verhalten zu arbeiten. Die Jopens sind davon überzeugt, dass die Teilnehmer des Programms über unternehmerisches Talent verfügen, das aber bislang fehlgeleitet oder nicht genutzt wurde. Den Häftlingen soll vermittelt werden, dass es bei unternehmerischer Tätigkeit auf mehr ankommt, als um die bloße Frage „Wie kann ich schnell Geld verdienen?" Dazu wird auf Methoden zurückgegriffen, die innerhalb von Gefängnismauern wohl selten Anwendung finden. Neben gängigen Ansätzen wie der „Gewaltfreien Kommunikation" nehmen die Häftlinge so auch an Gedächtnistrainings, Yoga-Workshops oder Meditation teil – Angebote, die nach anfänglichen Vorbehalten gut angenommen werden: Das Leonhard-Programm ist das einzige im Gefängnis, das wirklich auf eine Resozialisierung abzielt, wie uns ein Häftling erklärt. Das liegt vor allem am Persönlichkeitstraining. Dass die Dozenten die Kursteilnehmer und deren Persönlichkeiten während des fünfmonatigen Kurses genau kennenlernen, zeigt sich bei der Übergabe der Abschlusszeugnisse. Zu jedem der 16 Kandidaten wird eine persönliche Widmung vorgelesen, mit Beschreibung der Charakterzüge und Anekdoten aus der Haftzeit. Dabei werden auch kleine Schwächen nicht ausgeklammert, denn aus Fehlern soll man ja auch lernen können.

Hohes Potenzial, wenig Bewerber
Grundsätzlich kann sich für das Programm jeder der etwa 10.400 männlichen Häftlinge in Bayern bewerben. Für Frauen bietet Leonhard derzeit keine Plätze an, da männliche Häftlinge mit 92 Prozent den weitaus größeren Anteil der Strafgefangenen in Bayern ausmachen und damit ein größerer Bedarf besteht. Ausgeschlossen sind zudem Sexualstraftäter und notorische Serienbetrüger, denn diese bringen Herausforderungen mit sich, die von den ehrenamtlichen Mentoren nicht zu bewältigen wären. Abgesehen von diesen Einschränkungen kann sich jeder Häftling bewerben, dessen Resthaftdauer ab Beginn des Programmes nicht mehr als zwölf Monate beträgt. In einem umfangreichen Bewerbungsprozess werden die Kandidaten hinsichtlich Motivation und Verantwortungsbereitschaft geprüft. Trotz der hohen Zahl an potenziellen Kandidaten und der besonderen Chance für Häftlinge halten sich die Bewerbungen laut Maren Jopen allerdings in Grenzen: „Wir haben Plakate in den bayerischen Gefängnissen aufgehängt, aber diese werden zu wenig beachtet. Die Häftlinge erkennen leider erst das Potenzial des Programms, wenn sie tatsächlich daran teilnehmen." Um das zu ändern, schickt Leonhard mittlerweile Absolventen des Programms als Botschafter in die Gefängnisse, denn Erfahrungen aus erster Hand sind offensichtlich überzeugender als Plakate.

Rückfallquote der Absolventen liegt weit unter Durchschnitt
Die Fortbildung kostet für jeden Häftling 9.500 Euro. Einen Großteil davon, etwa 80 Prozent, trägt die Arbeitsagentur, den Rest decken Spenden. Das war nicht immer so: Die ersten eineinhalb Jahre hat sich das Projekt nur durch eigenes Engagement, Spenden und Bußgeld-Zuweisungen finanziert. Das sparsame Wirtschaften hat sich ausgezahlt: Heute rechnet sich das Projekt. Laut einer Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München bekommt die Gesellschaft für jeden Euro, den sie in das Leonhard-Programm investiert, nach drei Jahren umgerechnet 1,70 Euro zurück. Denn die Erfolgsquote ist hoch: Etwa 60 Prozent der Absolventen finden nach durchschnittlich 26 Tagen eine Beschäftigung oder beginnen ein Studium. Etwa ein Drittel wagen den Sprung in die Selbstständigkeit. „Unser Ziel ist nicht, dass jeder Teilnehmer sein eigenes Unternehmen gründet. Uns geht es um die Vermittlung von unternehmerischem Wissen, denn durch eine Beschäftigung nach der Haft sinkt die Rückfallquote." Dieses Konzept hat Erfolg: nur 12 Prozent der Leonhard-Teilnehmer werden nach der Haft rückfällig – der bundesweite Durchschnitt liegt bei 46 Prozent.

Betreuung auch nach der Haft
Der Grund für die hohe bundesweite Rückfallquote ist häufig eine schlechte Wohnsituation. Ein Eintrag bei der Schufa oder im Führungszeugnis stehen einem Mietvertrag im Weg – oft kommen die Häftlinge daher über kurz oder lang bei Freunden oder alten Bekannten unter. Landen die Häftlinge nach ihrer Freilassung wieder in einem ähnlichen Umfeld wie vor der Haft, ist das Potenzial für eine erneute Straftat hoch. Das Leonhard-Programm unterstützt die Absolventen daher auch nach Abschluss des Programmes – bei der Umsetzung ihrer Geschäftsideen, bei der Suche nach einer Anstellung oder eben nach einer Wohnung. In zwei eigenen Übergangshäusern haben die Absolventen die Möglichkeit, direkt nach der Haft für einige Zeit zu wohnen. Auch beim wohl größten Problem gibt es Hilfestellung, nämlich bei der Finanzierung der Geschäftsideen. Da dieses Vorhaben schon für Nicht-Häftlinge schwierig ist, hilft Leonhard den Absolventen bei Gesprächen mit Banken oder der Suche nach Business Angels.

Bundesweite Umsetzung geplant
Hilfe für den Neustart
Das Leonhard-Programm lebt durch die vielfältige Unterstützung vieler Menschen und Unternehmen. Ob als Mentor, Arbeitgeber oder in Form von finanzieller Unterstützung, mehr Informationen finden Sie unter www.leonhard.eu/mithelfen.
 
Kontakt
Leonhard gemeinnützige GmbH Unternehmertum für Gefangene
Dr. Bernward Jopen und Maren Jopen, Geschäftsführer
Bussardstr. 5, 82166 Gräfelfing
Telefon: 089 / 85 67 03 64
Unter den Gästen in der Stadelheimer Straße ist auch eine Delegation aus Stuttgart. Denn im Nachbarbundesland gibt es bereits Gespräche, das Projekt ebenfalls umzusetzen. „Wir möchten den Strafvollzug in Baden-Württemberg modernisieren und sehen hier dazu eine gute Möglichkeit", sagt Jürgen Filius, Landtagsabgeordneter der Grünen. Die Jopens haben aber noch größere Ziele: Leonhard beginnt dieses Jahr die schrittweise Ausweitung der Initiative auf andere Regionen und Bundesländer. Die Management-Beratung Oliver Wyman hat bei der Konzeption und Pilotierung des bundesweiten Rollouts im Rahmen eines Pro-bono-Projekts unterstützt. Die hohe Erfolgsquote spricht für das Potenzial des Ansatzes, der Häftlingen deutschlandweit den richtigen Weg aufzeigen könnte.

„Für mich war der Kurs der Impuls: Du hast wirklich eine zweite Chance", erklärt mir einer der Absolventen, kurz bevor ich wieder in die Freiheit entlassen werde und versichert selbstbewusst, „ich werde ab sofort hier in der JVA für das Leonhard-Programm werben und es nach meiner Entlassung als Sponsor unterstützen".
Von Sebastian Henkes

Wirtschaft | Führung & Personal, 30.09.2017
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2017 - Tierische Geschäfte erschienen.
     
        
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