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Agrarökologie ist der Schlüssel zu nachhaltiger Entwicklung: Sie stärkt die Rechte von Frauen und beseitigt Abhängigkeiten von multinationalen Konzernen.
Seit jeher hat die Landwirtschaft die Gesellschaft und das Lebensumfeld des Menschen maßgeblich geprägt. Die Geschichte der Landwirtschaft war gleichzeitig immer eine Geschichte von Abhängigkeiten und extremer Ausbeutung – ein Trend, der sich auch nach dem Zeitalter des klassischen Kolonialismus fortsetzt: Multinationale Agrar- und Lebensmittelkonzerne haben eine enorme Marktmacht erreicht. Dies führt zu neuen Abhängigkeiten, sozialen Verwerfungen und Umweltproblemen. Wollen wir also Nahrungssicherheit und Armutsbekämpfung, Umwelt- und Klimaschutz und nicht zuletzt soziale Gerechtigkeit und die Gleichstellung der Frau erreichen, müssen wir bei der Landwirtschaft ansetzen.
Kein Land, keine Rechte, aber viele Pflichten
Trotz großer Fortschritte haben Frauen, besonders – aber nicht nur – im globalen Süden, oft eine schwächere gesellschaftliche Stellung, leiden überproportional unter Ungleichheiten und werden Opfer struktureller, geschlechtsspezifischer Diskriminierung oder gar Gewalt. Sie verdienen gemeinhin weniger und haben weniger soziale, wirtschaftliche oder politische Macht als Männer. Ihre reproduktiven Rechte sind oft ebenso eingeschränkt wie die Möglichkeit des Landbesitzes, der Erbschaft und monetärer oder ideeller Anerkennung ihrer Leistungen. Dabei tragen Frauen und Mädchen maßgeblich zur landwirtschaftlichen Produktion bei: Schätzungen zufolge liegt der zeitliche Anteil der von Frauen getätigten Arbeit in der Landwirtschaft je nach Region und Agrarprodukt zwischen 30 und 80 Prozent. Im indischen Bundesstaat Rajasthan verbringen junge Frauen zwischen 14 und 19 Jahren etwa 60 Prozent ihrer Zeit mit Aufgaben in der Landwirtschaft. Ökonomisch profitieren sie von dieser Arbeit in der Regel jedoch nicht, und zusätzlich liegen die Versorgung von Kindern und alten Menschen sowie fast alle häuslichen Tätigkeiten ebenfalls bei den weiblichen Familienmitgliedern.
In vielen traditionellen Gesellschaften wurden die ohnehin schon marginalisierten Frauen durch die Einführung industrieller Landwirtschaft weiter geschwächt. Ressourcen-intensive Anbaumethoden, die viel Wasser, Pestizide, Düngemittel und nicht zuletzt gentechnisch verändertes Saatgut einsetzen, gleichzeitig aber extrem krisenanfällig sind, bringen die bäuerliche Bevölkerung in eine starke (finanzielle) Abhängigkeit von den großen Saatgut- und Agro-Chemiekonzernen. Aus dieser Schuldenfalle kann sie sich kaum selbst befreien. Eine selbstbestimmte, an die Umwelt und die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung angepasste Landwirtschaft ist nicht mehr möglich. Dies bringt Familien und ganze Gemeinden in eine äußerst prekäre Lage. Dies wird in einigen Ländern wie beispielsweise Indien mit einer signifikant höheren Suizidrate in Verbindung gebracht. Am stärksten betroffen von der Elendsfalle sind dabei meist die Frauen. Nicht zuletzt verursachen chemische Pestizide, Düngemittel und übermäßiger Antibiotikaeinsatz schwere Gesundheitsprobleme, z.B. erleiden dadurch mehr Frauen Fehlgeburten oder Komplikationen bei der Schwangerschaft.
Hinzu kommt, dass die industrielle Landwirtschaft die natürlichen Ressourcen ohne Rücksicht auf zukünftige Generationen ausbeutet: Böden werden ausgelaugt und so weit beschädigt, dass sie verwüsten und ganze Landstriche unbewohnbar werden – dies trägt nachweislich zum Klimawandel bei, denn Humus speichert Kohlenstoff (vgl. forum Nachhaltig Wirtschaften Ausgabe 4/2017). Biodiversität und Artenvielfalt werden zugrunde gerichtet, das Grundwasser vergiftet und Menschen können sich keine dauerhaft lebenswürdige oder gar sinnstiftende Existenz aufbauen. Dem gegenüber steht eine kleine Anzahl westlicher Konzerne, die enorme Gewinne einfährt, sowie eine (übersättigte) Konsumgesellschaft, die eine große Warenvielfalt und niedrige Preise erwartet, sich aber oft nicht der Konsequenzen ihres Konsumverhaltens im Klaren ist.
Agrarökologie stärkt Mensch, Natur – und besonders Frauen
Auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung, die wir mit der Agenda 2030 und den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen anstreben, nimmt Landwirtschaft eine Schlüsselrolle ein. Analog zur „Energiewende" gilt es deshalb, eine „Agrar- und Ernährungswende" einzuleiten, hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen. Agrarökologie ist hier das Konzept der Stunde: Die UNO-Welternährungsorganisation bezeichnet Agrarökologie als die landwirtschaftliche Methode, die die Interaktion zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen und der Umwelt optimiert und dabei soziale Aspekte berücksichtigt, die auf nachhaltige und gerechte Ernährungssysteme hinarbeiten. Agrarökologie geht also über „ein bisschen Öko zum Wohlfühlen" weit hinaus: Sie ist ein wegweisender Ansatz, der sich von der rein profitorientierten Agro-Industrie abwendet und der Landwirtschaft eine zentrale Stellung im Gefüge aus Mensch und Umwelt zukommen lässt.
Future Policy Award – der „Polit-Oscar"
Der „Polit-Oscar" der Stiftung World Future Council, der Future Policy Award (FPA), zeichnet Gesetze aus, die bessere Lebensbedingungen für heutige und zukünftige Generationen fördern. Jedes Jahr wählt die Stiftung ein Politikfeld aus, in dem innovative Lösungen besonders wichtig sind. Ziel des Awards ist es, gute Gesetze weltweit bekannt zu machen, um die Schaffung gerechter, nachhaltiger und friedvoller Gesellschaften zu unterstützen. Der FPA ist der erste Preis, der Gesetze auf internationaler Ebene auszeichnet. Dieses Jahr wurden die weltbesten Lösungen, Gesetze und Programme zur Förderung von Agrarökologie und nachhaltigen Ernährungssystemen ausgezeichnet. Das „100 Prozent-Bio"-Gesetz aus Sikkim, Indien, hat sich gegen 51 nominierte Gesetze aus 25 Ländern durchgesetzt und wurde mit dem Future Policy Award in Gold ausgezeichnet. Gesetze aus Brasilien, Dänemark und Ecuador erhielten Silber. Der Preis wurde in diesem Jahr in Kooperation mit der UNO-Ernährungsorganisation (FAO) und IFOAM – Organics International verliehen. Siehe dazu auch den Beitrag über Sikkim hier. |
Wie können nun agrarökologische Methoden Frauenrechte stärken und helfen, Gleichberechtigung zu erreichen? Das Konzept der Agrarökologie sieht vor, soziale Aspekte in die Landwirtschaft zu integrieren. Das heißt, dass die bedeutende Rolle der Frauen in der Landwirtschaft viel mehr gewürdigt wird als bisher, dass sie Zugang zu Land und Ausbildung sowie eine bessere Bezahlung bekommen. Die agrarökologische Landwirtschaft mit ihren niedrigeren Einstiegs- und Produktionskosten ist eine Möglichkeit für Frauen, selbstständig und selbstbestimmt zu arbeiten. Frauen bekommen Zugang zu lokalen Märkten, können ihr Wissen ausbauen und weitergeben, sich zusammenschließen und vernetzen und sich so aus Abhängigkeit und Besitzlosigkeit befreien. Ihre stärkere wirtschaftliche Rolle bedeutet mehr Teilhabe und Mitsprache. Eine Agro-Industrie, die Profit-Interessen über das Wohl von Mensch und Natur stellt, nimmt den Menschen das Recht, gesund und selbstbestimmt zu leben. Indem wir durch Agrarökologie die bäuerliche Bevölkerung im Allgemeinen und Frauen im Besonderen stärken, können wir eine gerechtere Welt schaffen. Umgekehrt tragen Frauen, die ökonomisch autark und in ihrer Familienplanung selbstbestimmt sind, maßgeblich dazu bei, Wirtschaft und Gesellschaften zu stabilisieren.
Träumerei? Nein, erprobte und preisgekrönte Erfolgsstorys
Die Hamburger Stiftung World Future Council, welche sich zum Ziel gesetzt hat, zukünftigen Generationen einen intakten Planeten mit gesunden Gesellschaften zu übergeben, hat in diesem Jahr ihren „Polit-Oscar" ganz dem Thema Agrarökologie gewidmet: Sie hat die besten Gesetze und politischen Maßnahmen identifiziert, die Agrarökologie stärken und auf diese Weise die nachhaltige Entwicklung langfristig fördern. Insgesamt wurden 8 Gesetze, etwa aus Indien, Dänemark oder Los Angeles, mit dem Future Policy Award (siehe Kasten unten) ausgezeichnet, über 50 Gesetze aus allen Kontinenten waren zuvor von internationalen Experten nominiert worden. Silber-Gewinner Quito (Ecuador) hat beispielsweise Mikrounternehmertum gefördert und 21.000 Menschen (84 Prozent von ihnen Frauen) in der ökologischen Produktion geschult. Gold-Gewinner Sikkim, ein Bundesstaat Indiens, hat sogar auf 100 Prozent Bio umgestellt und verzichtet vollständig auf Pestizide. Die Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger hat sich seitdem drastisch verbessert, die Wirtschaft wurde angekurbelt und der Tourismus boomt. Wer nun also sagt, Agrarökologie sei naive Träumerei und man möge doch der kapitalistischen Realität ins Auge sehen, wird durch die erfolgreichen Gesetze, die mit dem Future Policy Award ausgezeichnet wurden, eines Besseren belehrt.
Der Mensch ist, was er isst
Es wird Zeit, dass wir uns dessen bewusster werden, was wir essen. Mit der Förderung von Agrarökologie fördern wir ein ganzes Paket von Nachhaltigkeitszielen, von Armutsbekämpfung über Erhaltung von Biodiversität bis hin zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit. Unsere Landwirtschaft sollte geprägt sein von Respekt und Weitsicht gegenüber den Menschen, die unsere Nahrung anbauen und der Erde, der dieses Essen entspringt.
Miriam Petersen ist Leiterin der Kommunikationsabteilung bei der Stiftung World Future Council. In ihrem kulturwissenschaftlichen Studium hat sie sich mit der Rolle der Frau in Politik, Geschichte und Literatur befasst.
Kino-Tipp: „Unser Saatgut"
Wenige Dinge auf unserer Erde sind so kostbar und lebensnotwendig wie Saatgut. Doch diese wertvollste aller Ressourcen ist bedroht: Mehr als 90 Prozent aller Saatgutsorten sind bereits verschwunden. Vandana Shiva, Ratsmitglied des World Future Council, spricht in dem Dokumentarfilm über ihre Arbeit – und die Bedrohung durch internationale Saatgutkonzerte. „Unser Saatgut" von Taggart Siegel und Jon Betz läuft seit Oktober in unseren Kinos. |
Lifestyle | Essen & Trinken, 01.12.2018
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2018 - Frauen bewegen die Welt erschienen.
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