Solingen - eine kollektive Erosion des Vertrauens?
Christoph Quarch überlegt, wie den Menschen das Sicherheitsgefühl zurückgegeben werden kann
Bei einem Stadtfest sticht ein Mann mit dem Messer um sich, tötet drei Passanten und verletzt neun weitere schwer. Mit dem Anschlag von Solingen ist der islamistische Terror nach Deutschland zurückgekehrt. Viele Menschen sind verunsichert und fragen, wie man sich vor dieser Form des Terrorismus schützen kann. Gar nicht, sagen Sicherheitsexperten und verweisen darauf, dass es schier unmöglich ist, Taten wie diese bei großen Menschenversammlungen zu verhindern. Die Politik muss gleichwohl reagieren: Verschärfung des Waffengesetzes, vermehrte Personenkontrollen, schnellere Abschiebung potenzieller Gefährder. Die Liste der Maßnahmen ist lang. Aber werden sie reichen, den Menschen wieder ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln? Darüber reden wir mit dem Philosophen und Autor Christoph Quarch.
Herr Quarch, was brauchen Menschen, um sich sicher zu fühlen?
Das ist schwer zu sagen, weil das Sicherheitsgefühl etwas sehr Subjektives ist. Ich kenne das aus der eigenen Familie: Dem einen macht es nichts aus, über eine Hängebrücke zu gehen, der andere kriegt Schweißausbrüche. Nicht anders wird es sein, wenn Menschen künftig zum Stadtfest gehen: Manche denken permanent daran, was alles passieren könnte, andere bewegen sich so, als sei nie etwas gewesen – und müssen sich womöglich den Vorwurf anhören, die Gefahr zu verdrängen. Aber das ist nicht der springende Punkt. Sicher fühlt sich nicht, wer verdrängt, sondern wer vertraut. Normalerweise sind wir mit einem großen Urvertrauen ausgestattet. Wer es sich bewahrt, wird relativ angstfrei durchs Leben gehen. Wenn es aber zerrüttet ist, breitet sich Verunsicherung aus. Das ist ein echtes Problem, denn verletztes Vertrauen lässt sich nicht leicht reparieren. Es muss heilen, und das braucht Zeit. Die Herausforderung, vor der wir aktuell stehen, ist eine kollektive Erosion des Vertrauens.
Wollen Sie damit sagen, dass Maßnahmen wie eine Verschärfung des Waffenrechtes oder schnellere Abschiebungen nicht dazu taugen, den Menschen das Sicherheitsgefühl zurückzugeben?
Diese Sofortmaßnahmen sind sinnvoll, weil sie Mittel gegen das Gefühl der Ohnmacht sind, das sich bei vielen Menschen einstellt. Sie vermitteln den Eindruck: Die Politik lässt uns nicht allein, die tun was. Für mich fällt das unter die Rubrik: Vertrauensbildende Maßnahmen. Dazu gehören auch Einlasskontrollen, Leibesvisitationen, Überwachungskameras und dergleichen. Furchtsame Menschen fühlen sich sicherer, wenn solche Maßnahmen ergriffen werden. Darauf sollte man nicht verzichten, aber man sollte auch nicht glauben, dass allein dadurch das verletzte Urvertrauen wiederhergestellt werden kann. Dafür braucht es etwas anderes, und zwar menschliche Nähe und Verbundenheit. Am sichersten fühlen wir uns in der Umgebung von Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen und denen wir vertrauen.
Aber genau da liegt doch das das Problem: Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Gefühl der Zugehörigkeit schwindet. Die Menschen ziehen sich in ihre Bubbles zurück, reden nicht mehr miteinander. Da bleibt doch dann nichts anderes als Kontrolle und Überwachung.
Ich habe ja auch gar nichts dagegen, nur sollte es nicht dabeibleiben. Denn wenn wir nur auf Kontrolle und Überwachung setzen, bekommen wir Verhältnisse wie in den USA: Immer mehr Security, Stacheldraht, Mauern und dergleichen. Irgendwann werden die Menschen sich bewaffnen wollen – und wenn sie erst mal Waffen haben, wird es kaum möglich sein, sie ihnen wieder abzunehmen. All das führt nur zu einer immer größeren Atomisierung der Gesellschaft, bis wir irgendwann den Krieg aller gegen aller haben, von dem Thomas Hobbes einst sprach. Was wir brauchen, ist aber das genaue Gegenteil: Mehr Zusammenhalt, mehr Gemeinsinn. Die probate Antwort auf Terror ist nicht die Flucht in die eigenen vier Wände, sondern das Zusammenrücken auf dem Marktplatz.
Aber wie soll das gehen, wenn die Menschen Angst davor haben, auf den Marktplatz zu gehen?
Dafür braucht es eine langfristige Strategie und einen langen Atem. Das Wichtigste ist meines Erachtens, dass wir die Bubbles der Parallelgesellschaften sprengen. Wenn Flüchtlinge oder Rechtsradikale immer nur unter sich bleiben, ist die Gefahr groß, dass sie sich in ihren Milieus radikalisieren. Wenn man das gesellschaftliche Grundvertrauen heilen will, muss man sie möglichst früh da herausholen. Deshalb votiere ich für einen verpflichtenden Bürgerdienst, den sowohl Einheimische als auch Zugewanderte verrichten müssen und bei dem sie die Werte und Spielregeln unserer Gesellschaft miteinander verinnerlichen. Verteidigung in Zeiten des Terrorismus lässt sich nicht nur militärisch organisieren, sondern sie beginnt damit, die Gesellschaft wieder auf das verlässliche Fundament gemeinsamen Tuns zu stellen.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 26.08.2024
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