Lasst uns mehr verlangen
Ein Weckruf
Viele junge Menschen haben das Gefühl, einen riesigen Berg Probleme hinterlassen zu bekommen und bei Zukunftsfragen nicht mitreden zu dürfen. Unser Autor (29) hat ein paar Ideen, wie sich das ändern ließe. Ein Weckruf.
Neulich hatte ich wieder dieses Gefühl, dass viele Angehörige meiner Generation nicht nur so manche Vorlesung an der Uni verschlafen, sondern auch die aktive politische Beteiligung. Auch bei dieser Bundestagswahl haben von den unter 30-Jährigen wesentlich weniger gewählt als von den über 60-Jährigen. Die Themen Rente und innere Sicherheit drängten den Klimawandel und die Digitalisierung an den Rand der Debatten.
Vielleicht geht es ja manchen von uns einfach zu gut? Noch immer gibt es in Deutschland trotz Wohlstand große soziale Ungerechtigkeiten, etwa wenn Kinder aus armen Familien kaum die Möglichkeit haben, später ein besseres Leben als ihre Eltern zu führen. Umso wichtiger wäre es, dass sich die, die alle Vorzüge einer guten Bildung genießen, nicht dem Konsum hingeben und nur die Fragen der Übersättigten stellen: Was soll ich studieren? Welcher Strand ist denn jetzt wirklich nur für mich alleine da? Oh Gott, mein Kleiderschrank ist so voll. Weltreise oder Praktikum?
Auch aufgrund der Vorzüge, die die wohlhabenden Kinder der westlichen Industrienationen genießen, steckt die Menschheit in einer ernsten Krise. Diese Krise hat eine entscheidende ökologische Komponente. Die fortwährende Überschreitung der planetaren Grenzen stellt im Sinne der Generationengerechtigkeit wahrscheinlich das offensichtlichste und dramatischste Verbrechen dar. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir bis zum Ende des Jahrhunderts in einer bis zu sechs Grad wärmeren Welt leben müssen, beträgt Forschern der Earth League zufolge schon eins zu zehn, wenn jetzt keine Klimaschutzmaßnahmen ergriffen werden. Diese Welt wäre die Hölle im Vergleich zu den Zuständen, die wir (noch) genießen. Ex-Bundesentwicklungsminister Gerd Müller beschreibt für diesen Fall ein Szenario von 100 Millionen afrikanischen Klimaflüchtlingen. Wer dann kein Elon-Musk-Shuttle zum Mars geboardet hat, wird die Chance haben, eine Mischung aus Weltuntergangsfilmen wie „The Road", „Blade Runner" und „3 %" live mitzuerleben. Es gibt also keinen Grund für Gleichgültigkeit, keine Zeit für Sinnkrisen, weil es genug echte Probleme zu lösen gilt. Nur: Woran mangelt es uns, sie anzugehen? Sind wir zu schwach und zu faul? Fehlen uns die Werte? Sind wir durch grelle Marketingbotschaften zum grenzenlosen Konsum verdammt, der uns dazu zwingt, langsam erst die Lebensgrundlage unserer schwächeren Nachbarn und dann uns selbst zu verzehren? Ein Teil des Problems ist, dass wir in einer Kultur zunehmender Unehrlichkeit und Nachgiebigkeit von politischen Positionen leben. Oft gilt bei den Parteien: Keine Fehler zugeben, dem Wähler nicht zu viel zutrauen. Alles, was in mehr als zwei Sätzen erklärt werden muss, wird ausgeblendet. Jeder hat auf alles die einzig richtige Antwort, eine wirkliche Diskussion gibt es nicht.
In Anbetracht der Komplexität unserer Probleme führt das nicht weit. Politiker müssen den Diskurs bekräftigen, überparteilich gestalten, unabhängig argumentieren. Und es ist Zeit für Visionen – die wir uns aufgrund der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse erlauben müssen. Ich glaube, man sollte – bei allem Respekt vor Graswurzel-Initiativen und Petitionen-Schreibern – die Stimme der Zukunft, repräsentiert durch die junge Generation, im Kern der politischen Entscheidungslandschaft verankern: dem Parlament. Wie würden zum Beispiel Koalitionsverhandlungen verlaufen, wenn zehn Sitze an Vertreter der jungen Generation, eine Art „Jugendrat", vergeben wären? Diese wären von allen unter 30-Jährigen gewählt und würden Themen vertreten, die in einem wissenschaftlichen, basis-demokratischen Prozess erarbeitet wurden. Das wäre revolutionär, mal gar nicht deutsch und würde die politische Landschaft ein wenig neu ordnen. Na ja, zumindest weitaus interessanter machen. Im besten Fall würde es dazu führen, dass Politik nicht mehr an den wichtigsten Themen der Zukunft vorbei gemacht werden könnte. Vielleicht würde die Generation meines Sohnes in einem Land aufwachsen, das mutig und unerschrocken auf jedes Mitglied seiner Gesellschaft zugeht.
Ich glaube, wir brauchen einen solch revolutionären Schub, um uns für die Aufgaben, die vor uns liegen, bereit zu machen. Denn, und das ist eine von diesen Wahrheiten, die ungern ausgesprochen werden: Wir sind die erste Generation, die innerhalb kürzester Zeit die vielleicht schlimmste humanitäre Katastrophe, den weltweiten Hunger, beenden könnte. Wir sind die letzte Generation, die den ökologischen Kollaps unserer Erde verhindern kann. Dafür müssen wir jedoch wirklich etwas ändern und wirklich auf etwas verzichten. Likes und Hashtags reichen dafür nicht. Lasst uns meinetwegen weiterhin unseren Lebenslauf mit einem sozialen Jahr in Afrika schmücken, aber dann auch auf das mit Konfiktmaterialien vollgestopfte neueste Smartphone verzichten. Lasst uns etwas Besseres verlangen, auch von uns selbst. Es ist ja lässig, zu Hinterhof-Brew über den Wasser-Fußabdruck von Rindfeisch zu schwadronieren, aber dann lasst uns auch konsequent biologische Lebensmittel einkaufen. Wir sind die Betroffenen, aber wie tief geht unser Protest? Wie groß kann die Leidensfähigkeit einer Generation sein, die nie wirklich leiden musste? Unsere Großeltern überlebten die Kriege und begannen den Wiederaufbau. Unsere Eltern kämpften für Gleichberechtigung und die Wiedervereinigung.
Was werden wir hinterlassen?
Gesellschaft | Globalisierung, 01.03.2019
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2019 - Time to eat the dog erschienen.
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