Warum gibt es so viele Ichlinge?
Die Corona-Krise könnte uns lehren, dass das Wir wichtiger ist als das Ich
Die Corona-Krise bringt es für alle sichtbar ans Tageslicht: Wir sind eine gespaltene Gesellschaft. Während die einen Vorräte horten, als gäbe es kein Morgen, und damit die Krise verschärfen, sorgen sich andere um die Schwachen und Alten und gründen Hilfsinitiativen.
Warum gibt es so viele Ichlinge? Wie lässt sich solidarisches Handeln stärken? Diese Fragen stellt die Frankfurter Autorin Heike Leitschuh in Ihrem Buch „Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip". Das Ergebnis ihrer umfangreichen Recherche: Das inzwischen tief verwurzelte neoliberale Denken ist auch in die Herzen der Menschen eingesickert und dabei, das gesellschaftliche Klima zu vergiften. Dieser Befund ist ein Alarmsignal für alle, die sich für Nachhaltigkeit engagieren, denn dafür braucht es Solidarität, Empathie, Respekt und Achtsamkeit.
Das Interview führte Fritz Lietsch.
Sind die Hamsterkäufe nicht verständlich? Die Menschen haben Angst. Und Ängste fördern irrationales Handeln...
Psychologisch erklärbar sind sie schon, denn wir werden in der Krise stark von Ängsten geleitet. Doch Angst ist bekanntlich ein ganz schlechter Ratgeber. Wir haben aber die Möglichkeit, unsere rationale Seite sprechen zu lassen und den Ängsten entgegenzuwirken. Gerade Kund*innen, die im Biosupermarkt einkaufen, unterstelle ich, dass sie nachdenken, dass sie verantwortlich handeln. Doch auch da sind die Regale leergefegt. Dabei müsste allen klar sein: Wenn ich mir zu viel nehme, kriegen andere weniger, oder nix. Gerade die Schwächsten, die z.B. über die Tafeln versorgt werden, haben nun das Nachsehen. Das ist doch haarsträubend! Also: Die Ichlinge sind leider überall.
Was war der Anlass für Ihr Buch über den Egoismus?
Seit einigen Jahren beobachte ich, wie sich die Kultur des Miteinanders verändert. Besonders im öffentlichen Bereich, also auf der Straße, in Bus und Bahn, oder in den Geschäften: Mir fällt auf, dass ruppiges, gedanken- und auch respektloses Verhalten zunimmt. Die Kassiererin im Supermarkt bekommt werde ein Guten Tag, noch Danke oder Auf Wiedersehen. Viele Kunden nehmen nicht mal das Handy vom Ohr beim Bezahlen. In der Bahn drängeln Leute ohne Rücksicht aneinander vorbei, im Straßenverkehr beharren alle auf ihrem Recht und gefährden dabei andere. Als ich dann hörte, dass Leute sogar gewalttätig werden, weil sie in den Notaufnahmen nicht schnell genug dran kommen oder weil Züge verspätet sind, und dass immer häufiger Rettungskräfte bei ihrer Arbeit behindert oder sogar attackiert werden, dachte ich: Da läuft doch was gewaltig schief. Dem wollte ich auf den Grund gehen.
Das heißt?
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich habe kein Buch über Sitten und Anstand geschrieben, obwohl ich Anstand wesentlich umfassender definiere als nur über die Fragen, wie benehme ich mich am Tisch, wie ziehe ich mich an etc. Mir geht es um die Kultur des Miteinanders, die meines Erachtens leidet, wenn immer mehr Zeitgenossen vor allem ihre eigenen Interessen im Blick haben und andere Menschen als Hindernis ansehen. Beispiel: Mir haben Rettungskräfte erzählt, dass zunehmend mehr Menschen keinerlei Hemmung haben, einen Rettungswagen für absolute Kleinigkeiten, wie einen Zeckenbiss, ein verletzter Finger, Kopfschmerzen oder ähnliches zu rufen. Die Folge ist, dass die Sanitäter*innen und Ärtz*innen bei wirklich schweren Fällen nicht rechtzeitig ankommen können. Ähnliches erleben wir jetzt mit Corona: Viel zu viele Menschen wollen sich testen lassen und überlasten damit jetzt schon das Gesundheitssystem an vielen Stellen. Oder nehmen Sie den Fall des Rentners, der in einer Essener Bank vor den Geldautomaten kollabierte: Vier Personen sind über ihn hinweggestiegen, erst ein fünfter Kunde half. Die Ausrede der anderen: Habe ihn für einen Penner gehalten, hatte keine Zeit et cetera. Der alte Mann starb. Immer wieder kommt es vor, dass Schaulustige Polizei und Feuerwehr bei einem Unfall aktiv behindern, weil sie das Geschehen filmen wollen. Bahnbedienstete werden immer häufiger von Fahrgästen angegriffen, beleidigt, bespuckt, geschlagen. Die Frustrationstoleranz nimmt aber, dafür steigt die Aggressivität. Auf Sportplätzen benehmen sich Eltern, die ihre Kinder anfeuern, oft völlig unflätig. An vielen Stellen sehe ich eine Einstellung des Ich zuerst!, die keine Rücksicht auf andere nimmt.
Woran liegt das?
Ja, was ist bloß mit den Menschen los? Meine Antwort lautet: Seit fast 30 Jahren haben wir hier im Land eine Grundhaltung in Politik und Wirtschaft, die die Bürger*innen darauf trimmt, ihr Ego in den Vordergrund zu stellen. Das Individuum steht an erster Stelle, die Gemeinschaft zählt nicht mehr. Der Staat ist vielen nur lästig. Alle stehen mit allen in Konkurrenz. Also muss ich mein Leben soweit optimieren, dass ich im täglichen Kampf gut bestehe, in allen Bereichen, selbst bei der Partnerwahl. Alles muss sich rechnen, alles wird einer Kosten-Nutzung-Rechnung unterzogen. Stimmt das, was bei dieser Rechnung rauskommt, für mich nicht, dann kann ich das nicht akzeptieren. In so einem Umfeld ist es nur logisch, wenn viele Bürger zu „Ichlingen" werden.
Sie sprechen vom Neoliberalismus?
Ja. Alles wird kommerzialisiert, dereguliert. Die Idee des Neoliberalismus ist ja, dass größtmögliche Freiheit für die Wirtschaft, größtmöglichen Nutzen für alle bringt. Das stimmt aber nicht. Freiheit ohne Regeln nützt nur den Starken. Die Schwachen bleiben auf der Strecke. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn wir uns die Reichtums- und Armutsverteilung anschauen. Auch wenn es mittlerweile Gegentendenzen gibt und so manchem klar wird, welche Schäden der Neoliberalismus anrichtet: Die Auswirkungen der letzten 30 Jahren kann man nicht auf Knopfdruck abstellen. Leider hat sich Vieles schon in den Herzen und Hirnen festgesetzt und sie vergiftet. Zum Beispiel meinen inzwischen viele, dass die Schwachen selbst Schuld sind an ihrer Lage. Deshalb schwindet die Solidarität. Das erlebe ich in meiner Heimat Frankfurt gegenüber den Obdachlosen und Bettlern – die ja immer mehr werden. Denn immer mehr geraten in einem unbarmherzigen Kapitalismus unter die Räder. Gerade die kulturellen Wirkungen werden jetzt also erst richtig sichtbar – quasi als Kollateralschaden des Wirtschaftsliberalismus.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage sicher nicht, dass alle Menschen Egoisten sind, aber dennoch beschäftigen sich viele aufgrund der Ordnung, die sie umgibt, so sehr mit sich selbst, dass sie so handeln, als seien sie Egoisten. Der Riss geht durch uns hindurch: Wir können hilfsbereit sein, aber auch unsympathische Ichlinge. Ich muss mich vor Corona schützen. Ich muss jetzt von A nach B. Ich muss jetzt meinen Job machen. Ich muss jetzt dieses und jenes Produkt kaufen. Ich will, dass mein Kind das wichtigste in der Kita ist. Ich muss jetzt als Erste an der Kasse sein. Ich, ich, ich.
Hinzu kommen die Ängste, die in der neoliberalen Ordnung entstanden sind. Angst nicht gut genug zu sein. Angst nicht mithalten zu können. Angst seinen Job zu verlieren. Angst auf der sozialen Leiter abzustürzen usw. Der Neoliberalismus, aber auch das Unmenschliche und Unüberschaubare in der Globalisierung verängstigt Menschen kolossal. Das ist auch der Nährboden für die AFD. Das ist der tiefere Grund für unsolidarisches Verhalten jetzt in der Corona-Krise.
Welche Rolle spielen die Kommunikationsmedien?
Gute Frage! Zweidrittel aller Menschen im öffentlichen Raum sind mit ihrem Smartphone beschäftigt. Sogar Liebespaare sitzen sich im Restaurant gegenüber, jeder in sein Gerät vertieft. Das verändert uns: Achtsamkeit und Empathie leiden unter diesem übermäßigen Konsum der digitalen Medien, die Bereitschaft zum Gespräch und zur Kooperation lässt nach. Wir könnten sogar verlernen, die Gestik und Mimik anderer richtig zu deuten, wenn wir nicht mehr aufmerksam face to face kommunizieren.
Sie sprechen über Bürgerinnen und Bürger. Aber was ist mit den Entscheidungsträgern?
Viele Politiker*innen leben den Bürger*innen nichts Gutes vor. Die ganze Palette an schlechten Eigenschaften können wir immer wieder bei den sogenannten Eliten beobachten. Auch da sehen wir Personen, die immer nur auf das eigene Vorwärtskommen achten. Sie machen gravierende Fehler, sind aber nicht bereit, für ihr Fehlverhalten geradezustehen. Manager*innen, die fatale Weichenstellungen vornehmen, werden mit Millionen Euro abgefunden. Politiker*innen haben mit zur sozialen Ungleichheit in unserer Gesellschaft beigetragen, müssen sich nicht jedoch verantworten. Superreiche hinterziehen Steuern und verprassen ihr Geld. Keine Spur von Gemeinwohlorientierung. Normale Bürger*innen beobachten dieses Verhalten und sagen sich: Wenn die sich nicht an Regeln halten, muss ich es auch nicht.
Der Umgang von Politikern miteinander, gerade im Parlament, lässt bisweilen auch zu wünschen übrig. So sagte mal Ex-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla zu seinem Parteikollegen Wolfgang Bosbach: „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen"
Auch in den Parlamenten fehlt es oft an Respekt. Natürlich soll man sich in einem Parlament auch streiten. Debatten müssen geführt werden, durchaus auch heftig. Es geht ja um was. Aber eine gewisse Form muss man doch wahren. Wenn man seine politische Gegner*innen verachtet und als Idioten hinstellt, dann ist das alles andere als ein gutes Vorbild – gerade dann nicht, wenn man die Diskussionskultur im Netz beklagt. Mit der AfD verschärft sich der Ton nochmal. Auf keinen Fall aber dürfen die Rechtspopulisten die Kultur bestimmen. Respekt gegenüber den Respektlosen! Das ist schwer, aber nur so kann man den kulturellen Abwärtstrend in der Debattenkultur stoppen.
Sind Sie nicht zu pessimistisch? Es gibt sich doch viele Menschen, die sich für die Gesellschaft engagieren! Gerade jetzt bei Corona.
Völlig richtig. Viele Menschen engagieren sich jetzt für andere. In meinem Stadtteil gibt es eine Gruppe junger Leute, die privat Hilfe für Alte und Kranke organisieren. Das ist super. Außerdem gibt es jede Menge Initiativen, die sich für eine nachhaltigere, also auch sozial solidarischere Gesellschaft einsetzen. Ihre Zeitschrift berichtet ja darüber. Das sehe ich alles, und wir müssten darüber viel mehr reden. Aber mir geht es mit meinem Buch darum, einen schleichenden kulturellen Wandel zu benennen, den wir nicht ignorieren dürfen.
Wie lässt sich die Situation verändern?
An zwei Stellen muss angesetzt werden. Beim Individuum und der Politik. Von der Politik erwarte ich, dass sie konsequent überprüft, was sie falsch gemacht hat und falsch macht. Welche Weichen hat sie gestellt, die mit aller Konsequenz nur noch das Ich fördern, während das Wir verliert? Ich erwarte weiter von der Politik, dass sie auch den ganzen Bereich der Deregulierung von öffentlicher Daseinsvorsorge, Wasserversorgung, Öffentlicher Verkehr usw. rückgängig macht. Mittlerweile stehen unsere Krankenhäuser in Konkurrenz zueinander. Da geht es vor allem um ökonomische Interessen. Das ist doch komplett absurd und gefährlich obendrein. Corona zeigt uns nun, wie falsch es ist, Krankenhäuser wie Unternehmen zu führen. Außerdem muss die Regierung sich dringend für eine gerechtere Besteuerung einsetzen und alle Steuerschlupflöcher schließen, die Finanzmärkte konsequent regulieren. Es muss verhindert werden, dass immer noch mehr Millionäre entstehen. Und die Reichen müssen einfach mehr zahlen. Wer reich ist, kann auch mehr für das Gemeinwesen tun. Eigentum verpflichtet! So steht es im Grundgesetz.
Und ich würde dringend raten, genauer hinzusehen, wo überall in der Gesellschaft - gerade junge - Menschen an alternativen Konzepten für ein Leben und Wirtschaften jenseits von Wachstum und Neoliberalismus arbeiten. Aus diesen vielen kleinen Pflänzchen kann was Großes entstehen. Wenn man sie unterstützt.
Was sollen die Bürgerinnen und Bürger tun?
Von denen erwarte ich, dass sie sich über ihr eigenes Verhalten Gedanken machen. Sie sollten sich fragen, wie verbringe ich meinen Tag? Lebe ich verantwortungsvoll? Warum meine ich, nicht auf Flugreisen, Kreuzfahrten, SUVs, Wohnmobile, große Wohnungen verzichten zu können? Habe ich noch Zeit, um mich mal um meinen Nachbarn zu kümmern? Kann ich irgendwo helfen, wenn Hilfe benötigt wird? Oder bin ich dauernd nur mit mir, mit Geldverdienen, mit meinen Konsum und meinem Smartphone beschäftigt? Wie erziehe ich meine Kinder, was lebe ich ihnen vor? Alle können etwas ändern, niemand ist ohnmächtig und auch der kleinste Schritt ist sinnvoll.
Komischerweise können wir jetzt wegen Corona problemlos auf so Vieles verzichten. Ich habe die große Hoffnung, dass diese Krise uns lehrt, dass wir nur in der Gemeinschaft gut leben können, dass der Neoliberalismus uns in die Irre geführt hat. Wenn wir Glück haben, wird unsere Gesellschaft danach eine andere sein. Vielleicht gelingt es uns, auch für die Nachhaltigkeit und den Klimaschutz eine Kultur des Weniger beizubehalten. Und vielleicht lernt die Regierung, dass die Menschen durchaus zu weitreichenden Veränderungen bereit sind – die wir auch brauchen, um die Klimawandel in Grenzen zu halten.
Und: Wir sollten mehr Zivilcourage zeigen, wir sollten uns für unsere Überzeugungen wieder streiten und auch dafür auf die Straße gehen!
Heike Leitschuh (Jg. 1958) arbeitet seit 25 Jahren als Autorin, Moderatorin und Beraterin für Nachhaltigkeit. Sie hat mehrere Bücher geschrieben und ist Mitherausgeberin des ‚Jahrbuch Ökologie‘. U.a. moderiert sie Dialogprozesse und beschäftigt sich vor allem mit den Fragen der Postwachstumsgesellschaft und nachhaltiger Lebensstile.
Ihr Buch „Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip" ist im Frankfurter Westendverlag erschienen, 256 Seiten, 19 €, ISBN: 978-3-86489-228-8.
Wirtschaft | Verantwortung jetzt!, 30.03.2020
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