SuperGärten
Eine Vision für das Ernährungssystem
SuperGärten, eine Kombination aus Supermarkt und (peri-)urbaner Landwirtschaft, könnte die Nahrungsmittelversorgung schrittweise transformieren – ökologisch nachhaltig, sozial und ökonomisch gerecht.
Die Supermärkte, sie stehen. Als zuverlässige Partner in der Krise, mit Masken und Plexiglasscheiben, Einkaufswagenpflicht und Desinfektionsmitteln stemmten sie die Nachfrage nach Lebensmitteln während COVID-19. Doch hinter den Regalreihen bröckelt das Ernährungssystem: Schlachtereien als gnadenlose Industriebetriebe und eine Erntemaschinerie die ohne Saisonarbeiter aus Polen, Rumänien oder Marokko bei der Gurken-, Spargel- und Tomatenernte zusammenbricht.
Doch die Probleme des Ernährungssystems gehen weiter als Gurkenlieferkette, Futtermittelimporte und Billigfleisch. Zwei Drittel der Erwachsenen sind übergewichtig, jeder Fünfte sogar adipös. Das erhöht das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes Typ 2 zu erkranken. Wir essen zu wenig Obst und Gemüse, zu viel Fleisch und einfache Kohlenhydrate. Und dann ist da noch der Punkt ‚Ernährung und Umwelt‘: Was wir essen, beeinflusst auch die Gesundheit unseres Planeten – und damit letztendlich auch die unsere. Verpackungsmüll in Fischmägen, Methangas aus Kuhmägen und Nitrateintrag ins Grundwasser erodieren unsere Lebens(mittel)grundlage. Kurzum: Es wird Zeit darüber nachzudenken, was uns wirklich nährt…
Wie kommt es, dass wir essen, was wir essen?
90 Prozent der Bevölkerung Bevölkerung kaufen Lebensmittel regelmäßig im Supermarkt ein. Beeinflusst von einem ausgeklügelten System aus Marketing, Preis, Platzierung und Produktdesign entscheidet sich (nicht allein wir), was und wie wir essen: Die Entscheidungsarchitektur des Supermarkts steuert somit unseren Zugang zu und Umgang mit Lebensmitteln.
Hier setzt die Vision „SuperGärten" an, eine Kombination aus Supermarkt und (peri-)urbaner Landwirtschaft. Das Pilotprojekt in Berlin-Brandenburg will zeigen, wie man die Bevölkerung umweltfreundlich, sozial und ökonomisch gerecht mit Lebensmitteln versorgen kann, die ökologisch in der Region produziert und verarbeitet werden.
Ein Feuerwerk an Ideen
SuperGärten arbeiten mit Kreislaufwirtschaft, vermeiden Verpackungsmüll, erhöhen die Biodiversität, sind klimafreundlich, stärken den ländlichen Raum, sind Orte des Miteinanders und sorgen für Ernährungsgerechtigkeit. Dass sich das nach eierlegender Wollmilchsau anhört, liegt am Konzept. Dieses besteht aus 30 kompatiblen Modulen bzw. Geschäftsmodellen, von denen jedes für sich genommen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Mehrwert schafft. Sie gliedern sich in die vier Kategorien Produktion, Klima, Kulinarik und Wirtschaft.
Die Produktions-Module
Sie bilden das Herzstück des SuperGarten-Systems. Dort wachsen Pflanzen in Gewächshaus-, Agroforst- und Permakultur-Modulen, Fisch und Gemüse werden in Aquaponik- und Hydroponik-Anlagen produziert; Honig kommt von Bienenstöcken auf dem Dach, Futter finden die Bienen auf extra dafür angelegten Blühflächen. SuperGärten legen besonderen Wert auf regionale Vielfalt, die Wiederentdeckung alter Sorten und neuer Kreuzungen. Da sich die Vegetationsperioden in unseren Breiten bis 2050 um einen Monat verlängern, wird dies den ganzjährigen Anbau vieler heimischer Kulturen – und in den Sommermonaten auch (sub)tropischer Pflanzen wie Kiwi und Banane ermöglichen.
Die Klima-Module
Sie binden CO2 und kühlen die Stadt, z.B. durch Dachgärten und Fassadenbegrünung durch Obstbäume sowie essbare Hecken. Auch eine direkte Nutzung erneuerbarer Energien lässt sich an vielen Supermarkt-Standorten mit geringem Aufwand umsetzen. Neuartige Bioreaktor-Fassaden produzieren Algen, die für Energiegewinnung und Verzehr eingesetzt werden können. Auch technisch relativ simple Systeme machen SuperGärten klimafreundlich: etwa Keller zur Kühlung von Lebensmitteln, die Wärmerückgewinnung von Kühlanlagen oder einfach eine Pergola für angenehmes Mikroklima im Gastrobereich.
Die Kulinarik-Module
Sie vermitteln Praxiswissen zu Lebensmitteln und versetzen Menschen jedes Alters und Hintergrunds in die Lage, aktiv zum Ernährungssystem beizutragen. Bildschirme im Verkaufsbereich zeigen kurze Videoloops vom Anbau über die Zubereitung bis hin zur Kompostierung. So werden bekannte Marketingmechanismen genutzt, um Ernährungsbildung effektiv zu vermitteln. Kulinarik-Module schaffen eine aktive Gemeinschaft rund um Lebensmittel und Ernährung. Wer seine Apfelernte teilt oder einen Kochworkshop für Teenager an der öffentlichen Zubereitungstheke anbietet, erhält Beitragspunkte und kann auch damit Lebensmittel erstehen.
Die Wirtschafts-Module
Das Beitragspunkte-System gehört zu den Wirtschafts-Modulen. Diese koordinieren alle ökonomischen Aktivitäten sowie die Geld-, Material- und Werteströme. Dies umfasst auch die Finanzierung und Nutzung der Lastenrad-Flotte, Lieferservices für Kunden und Tauschringe. Koordiniert wird das Ganze über einen digitalen Marktplatz. Dieser bündelt auch das Angebot landwirtschaftlicher Betriebe aus der Modellregion Brandenburg und schafft Absatzsicherheit durch die zuverlässige Vermarktung in SuperGärten.
Von der Vision zur Realität
Diese Vision kann nur dann Realität werden, wenn sich Organisationen aus Zivilgesellschaft, Forschung, dem Non-Profit-Sektor und Sozialunternehmen zusammentun. Theoretisch und wissenschaftlich berechnet ist die regionale Versorgung mit ökologischen Lebensmitteln im Großraum Berlin möglich (s.u.). Ein weiterer Vorteil: Die meisten Module existieren bereits. Die Plattform mundraub.org beispielsweise organisiert die Ernte öffentlicher Obstbäume, Ackerdemia e.V. und die AckerCompany GmbH zeigen, wie Ernährungsbildung für Kinder und Erwachsene geht. Die Stadtbienen e.V. produzieren Honig in der Stadt. Das Forschungsprojekt Roof Water-Farm der Technischen Universität Berlin erforscht, wie Aquaponik und Hydroponik in städtische Infrastrukturen integriert werden können. Der modulare Aufbau des SuperGarten Systems schärft den Blick für bereits existierende Teilstücke einer nachhaltigen Zukunftswirtschaft – und er ermöglicht es Supermärkten, sich durch die Implementierung einzelner Module schrittweise in einen SuperGarten zu transformieren. Damit die ‚Wirtschaft nach Corona‘ nachhaltig gedeiht, brauchen wir eine Vision, mit der wir bereits JETZT sehen können wie der Weg in die Zukunft aussehen kann. Wir haben schon mal begonnen: Aus der Krise entstandene Erntehilfe-Plattformen wie „Das Land hilft" sehen wir als Vorstufe zum vorgestellten Marktplatz-Modul!
Städte als Selbstversorger Nicht zuletzt Corona hat die Debatte über die Widerstandsfähigkeit und Stoffströme urbaner Ernährungssysteme erneut entfacht: der ökologische Fußabdruck des Nahrungsmittelkonsums, Selbstversorgung als Mittel der Ernährungssicherheit und die Regionalisierung zur Verkürzung der Lieferketten. In jüngster Zeit haben Großstadtregionen deshalb eine Ernährungspolitik eingeschlagen, die darauf abzielt, lokale Ernährungssysteme zu fördern. Die Forschung konzentriert sich daher auf die Beziehung zwischen der städtischen Nahrungsmittelnachfrage und der Flächennutzung in den Metropolen. So untersuchte eine 2019 im Fachmagazin City, Culture and Society erschienene Studie von ForscherInnen des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung, ob sich die vier Metropolregionen Berlin, Rotterdam, Mailand und London selbst versorgen könnten. Das Ergebnis: Nur die Region Berlin-Brandenburg bietet genügend landwirtschaftlich nutzbare Fläche für die regionale Selbstversorgung – sogar mit Bio-Lebensmitteln und trotz geringer Bodenqualität, während alle anderen Metropolregionen in fruchtbaren Auengebieten liegen. Der Flächenbedarf der Region liegt bei insgesamt rund 12.,500 km2. Zum Vergleich: Der Bedarf von 7.580 km2 der dicht besiedelten Region Rotterdam übersteigt die mögliche regionale Produktion um das Vierfache. |
Alice Bischof promoviert an der Universität Wageningen in den Niederlanden zum Thema „Geschäftsmodelle und Werte-Logiken der urbanen Landwirtschaft". Das Konzept SuperGärten entwickelt sie seit Ende 2019 mit einem internationalen Team aus Forschung und Praxis. Sie ist stellvertretende Vorsitzende und Mitgründerin der NGO Städte ohne Hunger Deutschland e.V., welche zukunftsweisende Modelle der urbanen Landwirtschaft fördert und weiterentwickelt.
Dr. Emiel F.M. Wubben ist assoziierter Professor in Strategic Management an der Universität Wageningen. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem biobasierten Geschäftsmodellen der Kreislaufwirtschaft, des Gartenbaus und der urbanen Landwirtschaft. Neben seinen Lehrtätigkeiten leitet er die Teilnahme der Universität Wageningen am EU-Projekt EdiCitNet (Edible City Solutions) im Bereich Stakeholder-Analyse und Entwicklung von Geschäftsmodellen für städtische Ernährungsinitiativen.
Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 08.09.2020
Dieser Artikel ist in forum 03/2020 - Digitalisierung und Marketing 4 Future erschienen.
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