Die Wissenschaft stellt keine Warum-Fragen
Der Philosoph Christoph Quarch sieht den Höhenflug des Charité Chef-Virologen Drosten mit Skepsis
Erst der deutsche Radiopreis für den besten Podcast, jetzt das Bundesverdienstkreuz: Charité-Chef Virologe Christian Drosten ist der Mann der Stunde. Die vielen Fans von Deutschlands oberstem Corona-Erklärer wird das freuen. Unser Philosoph Christoph Quarch hingegen sieht Drostens Höhenflug mit Skepsis.
Herr Quarch, sind Sie neidisch oder was stört Sie an den Auszeichnungen Ihres Podcast-Kollegen?
Neidisch bin ich keineswegs. Herr Drosten macht einen guten Job. Nicht er stört mich, sondern die an seiner Popularität erkennbar einseitige Fokussierung des öffentlichen Corona-Diskurses auf Wissenschaft und Technik. Ich erkenne darin eine Wissenschaftsgläubigkeit, von der ich meine, dass sie uns als Gesellschaft auf Dauer nicht gut tut. Nicht, dass ich etwas gegen Wissenschaftler oder die Wissenschaft hätte. Aber die weit verbreitete Auffassung, dass wir uns bei unserem Umgang mit der Pandemie allein auf die Wissenschaft verlassen könnten, erscheint mir problematisch.
Warum nicht?
Die Wissenschaften sind großartig, wenn es darum geht, die Welt zu ergründen, Naturgesetze zu erforschen, Zusammenhänge herzustellen, um auf diese Weise Vorhersagen treffen zu können – zum Beispiel über den Verlauf einer Pandemie. Auf diese Weise versorgt sie die Gesellschaft und ihre Verantwortlichen mit wichtigen Informationen. Was sie aber nicht tut – und was auch gar nicht ihre Aufgabe ist – das ist: Interpretations- und Deutungsangebote zu unterbreiten, was diese Pandemie für uns als Gesellschaft und Individuen bedeutet. Anders gesagt: Die Wissenschaft stellt keine Warum-Fragen. Das überlässt sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach anderen. Wenn diese anderen im gesellschaftlichen Diskurs aber nicht zu Wort kommen, dann besteht die Gefahr, dass wir den Herausforderungen dieser Krise nicht gewachsen sind.
Wo liegt das Problem?
In einem Aufsatz im Guardian hat der Besteller-Autor Juval Noah Harari deutlich gemacht, dass für Wissenschaftler alle Probleme letztlich technische Probleme sind, die durch mehr Wissen und bessere Technik gelöst werden können. Genauso gehen wir mit Covid um: Wir versprechen uns die Rettung von neuen Medikamenten oder Impfstoffen – in Verbindung mit ökonomischen Maßnahmen. Wir fragen aber nicht: Was geht die Krise uns an? Welchen Sinn können wir dem Ganzen abgewinnen? Was können wir für unser persönliches und gesellschaftliches Leben daraus lernen? Warum passiert das? Über solche philosophischen Fragen wird in Deutschland viel zu wenig diskutiert. Die Wissenschaft kann man dafür nicht tadeln, wohl aber diejenigen, die den öffentlichen Diskurs organisieren und Radiopreise verleihen; und auch diejenigen, die das Land repräsentieren und Orden verleihen, statt politische Visionen für die Postcorona-Zeit zu entwickeln.
Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Ist die nüchterne Wissenschaft, die bei den Fakten bleibt, nicht vielleicht doch wichtiger als Spekulationen darüber, welchen Sinn wir der Pandemie abgewinnen können?
Man darf Wissenschaft und Philosophie nicht gegeneinander ausspielen. Sie gehören zusammen, weil wir Menschen einerseits Informationen brauchen, andererseits aber auch Deutungen. Wir können ohne Sinn nicht leben. Wir sind Wesen, die nach dem Warum fragen. Wir wollen verstehen, was los ist, um uns angemessen verhalten zu können. So sind wir nun mal gestrickt. Wenn im öffentlichen Diskurs immer nur über das Wie und Was diskutiert, dabei aber nie um das Warum gerungen wird, drängen gleichsam von unten Verschwörungstheorien in dieses Vakuum und untergraben den gesellschaftlichen Zusammenhang. So skurril es klingt: Je wissenschaftsfokussierter eine Gesellschaft, desto anfälliger ist sie für Esoterik und Verschwörungstheorien. Deshalb wäre es vielleicht doch an der Zeit, gelegentlich auch einmal die Geistesarbeiter im Lande zu würdigen.
Lesen Sie zum Thema auch #VerantwortungJetzt! Die Krise als Chance für den Wandel.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
Hören Sie ihn persönlich im SWR-Podcast Frühstücks-Quarch. Lesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Migration & Integration, 29.09.2020
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