Countdown für Planet B - Leila Dreggers Plädoyer für einen Aufbruch ins utopische Denken
2 - Spirituelle Basisdemokratie: Die Kraft des Ewigen in der Politik
Es gibt keinen Planet B, sagt die Klima-Streik-Bewegung. Nein? Dann wird es höchste Zeit. Welche Veränderung reicht aus, um einen echten Systemwechsel einzuleiten? Die Corona-Krise hat uns gezeigt, wie viel Veränderung in kurzer Zeit möglich ist. Wir laden ein zu einem Countdown des utopischen Denkens! Alle zwei Wochen stellen wir - ganz unsystematisch - einen Kernfaktor des Systemwechsels vor. Wenn ihr wollt, bleibt es kein Märchen.
2 - Spirituelle Basisdemokratie
Die Kraft des Ewigen in der Politik
Wieso reagieren politische Instanzen nicht ausreichend und nicht richtig angesichts der Klimakrise? Oder der vielen anderen Krisen?
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2 - Spirituelle Basisdemokratie
Die Kraft des Ewigen in der Politik
Wieso reagieren politische Instanzen nicht ausreichend und nicht richtig angesichts der Klimakrise? Oder der vielen anderen Krisen? Weil sie nicht können. Eingequetscht zwischen kurzfristiger Wählergunst und Idealen, Sachzwängen und Notlügen, Budgetfragen und Lobbyinteressen, Parteitreue und Profilierungssucht schaffen es die Besten gerade mal, bis zur nächsten Legislaturperiode zu denken - kaum aber an die nächsten sieben Generationen. Nicht (nur) die Politiker, sondern das politische System ist den Krisen nicht gewachsen. Wir brauchen einen anderen Faktor in der Politik. Mehr BürgerInnenbeteiligung gehört sicher dazu, reicht aber nicht. Denn auch jeder Bürger entwickelt ein aufgeblasenes Ego, sobald es um Eigeninteressen geht. Es muss in der Politik etwas geben, das über die Eigeninteressen hinausgeht. Etwas, das uns allen gleich wichtig ist. Wie wäre es, wenn die Zukunft eine Stimme in unseren Parlamenten hätte? Oder besser noch: das Ewige.
In Urvölkern sprach das Ewige aus dem Mund des Schamanen, es wurde in Träumen oder Visionen gesehen, und es fand Gehör in jedem Palaver. Es war kein Gesetz über allem anderen, aber es hatte eine wichtige Stimme, die einbezogen wurde. Solange es Basisdemokratie in Stammesgemeinschaften gab, funktionierte das gut. Dann aber kippte die Geschichte, es entstanden Hierarchien, Schamanen und Priester wurden entweder selbst machtgeil oder zu Marionetten der Macht. Das Heilige wurde ein perfides Machtinstrument. Es war also eine wichtige Errungenschaft in der Geschichte von Planet A, Staat und Kirche zu trennen. Irgendwann saßen nur noch Berufspolitiker am Verhandlungstisch. Betroffene - Kinder, Hausfrauen, Alte, Minderheiten, Fremde - wurden ebenso wenig gehört, wie Tiere, Pflanzen, Ökosysteme und - das Ewige.
Auf Planet B werden politische Entscheidungen wieder auf eine ganzheitliche Basis gestellt.
Das Ewige wird nicht mehr von Priestern, Dogmen oder anderen Machtfaktoren vertreten. Das Ewige zeigt sich in der inneren Stimme, der Intuition und dem Gewissen von Einzelnen, die es einander vertrauensvoll mitteilen. Es wird ebenso in die Debatten einziehen, wie Sachfragen, Strategien und faktische Notwendigkeiten. So wird die parlamentarische Demokratie ersetzt durch eine Art spiritueller Räterepublik auf der Grundlage von Basisdemokratie.
Als Vorbild dafür dienen geschichtliche Matriarchate wie die Mosuo in China oder Stammeskulturen wie die Iroquoi oder Lakota auf dem amerikanischen Kontinent. Soviel wir darüber wissen oder rekonstruieren können, wurden in den Stämmen alle Dinge, die alle angingen, von allen besprochen. Frauen und Männer hatten Stimmrecht, auch Kinder wurden unter bestimmten Umständen gehört, wenn das Thema sie betraf. Die Entscheidungsfindung dauerte oft lang, denn sie musste errungen, erarbeitet werden, damit sie einen Wert hatte, den alle verteidigen würden. Eine Abstimmung mit Mehrheitsentscheidung in wichtigen Dingen war nicht tragbar, denn eine unterlegene Minderheit wäre immer eine mögliche Bruchstelle im Zusammenhalt des sozialen Gefüges gewesen. Es mussten Lösungen gefunden werden, mit denen alle leben konnten. Geschah das nicht, musste sich der Stamm teilen und ein Teil wegziehen. Auch das geschah - in Frieden, es gehörte zur Entwicklung kultureller Vielfalt und führte nicht zu Krieg. Aber zuvor versuchte man alles, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Kreativität, Flexibilität und ein grundsätzliches Vertrauen ineinander waren notwendige Qualitäten für den politischen Entscheidungsprozess.
Bei besonders kontroversen Diskussionen halfen spirituelle Techniken, wie sie auch heute noch in Gemeinschaften angewandt werden: Man unterbricht die Debatte, geht gemeinsam in die Stille, stimmt sich auf das Thema ein und bittet innerlich um die Lösung. Meistens kommen nach einigen Minuten der inneren Einkehr alle auf dieselbe Lösung.Der Vorteil war: Eine so intensiv errungene Entscheidung hatte einen Wert. Die ganze Bevölkerung stand dahinter und würde sie verteidigen – so wie die Frauen der Chipko aus Indien ihre Bäume verteidigten, indem sie sie umarmten.
Bei den Mosuo, den Iroquoi und wahrscheinlich auch anderen ursprünglichen Stammeskulturen gingen dann Vertreter des Stammes zum nächsthöheren, überregionalen Gremium mit der Aufgabe, ihre Entscheidung dort zu vertreten. Sie waren keine Politiker, sie hatten ein bindendes Mandat an die Entscheidung ihres Dorfes. Oft mussten sie wieder zurück, wenn die Entscheidung nicht ganz mit den Entscheidungen der anderen Dörfer übereinstimmte, dann musste nachverhandelt werden. Viel Hin und Her war notwendig, um sehr wichtige Zukunftsentscheidungen zu treffen. Aber wenn die Entscheidung einmal getroffen war, dann stand sie auch. Keine Frau, kein Kind, kein Mann würde später sagen: Was gehen mich diese Politiker und Parlamente an! Nein, es war ihre Entscheidung, zu der sie fühlbar und aktiv beigetragen hatten.
Die Gemeinsamkeit war immer größer als das Trennende
Und auf jeder Ebene, in jedem Gremium war das "Ewige" präsent. Einige nannten es die Große Mutter, andere den Großen Geist oder das Kontinuum allen Lebens. Es erinnerte sie stets daran: Alle Entscheidungsgremien aller Ebenen und Regionen hatten etwas sehr Wichtiges gemeinsam. Und die Gemeinsamkeit war immer größer als das Trennende. Das relativierte die Konflikte. Alles, was wichtig war, wurde im Angesicht dieses Ewigen verhandelt, von ihm gut geheißen und gesegnet. Ohne etwas, das uns gemeinsam heilig ist, fehlt uns letztlich eine Richtung und Grundlage für die politischen Entscheidungen. Vernunft und Sachverstand sind wichtig, reichen aber letztlich nicht. Wir brauchen Werte, und wir müssen sie sehen und fühlen und uns an ihnen ausrichten können.
Bei dem Wort heilig denken die meisten an etwas, zu dem sie als Kinder beten und dem sie sich unterordnen mussten. Aber denken wir einmal an die Sioux von Standing Rock. Sie sprachen davon, das "Heilige" zu verteidigen, als sie ihre Flüsse und ihre Begräbnisstätten vor dem Bau einer Pipeline schützen wollten. "Defend the Sacred". Stellen wir uns vor, das Heilige ist nicht mit Macht und Unterdrückung verbunden, sondern es ist sehr lebendig. Heilig ist ganz einfach das, was wir am meisten lieben. Das Leben. Das Meer und die Wälder, unsere Geliebten, Kinder, Eltern. Die Erde selbst.
Damit ihre Stimme gehört wird, entwickelte die großartige Tiefenökologin Joana Macy die "Konferenz allen Lebens": Bei einer Debatte werden nicht nur Menscheninteressen vertreten, sondern auch die Interessen von Tieren, Pflanzen, Flüssen etc. Menschen schlüpfen wie in einem magischen Theater in deren Rollen und treten für deren Interessen ein. Eine Konferenz des Lebens kann sehr emotional zugehen; es ist nicht mehr ganz so einfach, eine neue Landebahn zu bauen, wenn man sich dem Schmerz der unter ihr begrabenen Bäume und Bäche einmal ausgesetzt hat.
Die spirituelle Räterepublik von Planet B bezieht all diese Erfahrungen mit ein und findet neue Techniken der Abstimmung und Konsensfindung. Die Erfahrungen aus der Soziokratie sind da sehr wertvoll. Jede Entscheidung wird auf den Ebenen getroffen, wo sie sich auswirkt. Jede Person entscheidet selbst, wie viel Verantwortung sie aktiv tragen und wie viel Entscheidungsrecht sie demnach auch haben möchte. Das Ergebnis ist eine weitgehend dezentrale, regional orientierte Politik von unten, aber verbunden mit etwas, das über allem steht. Es ist der gemeinsame Wille für die Ganzheit des Lebens.
Leila Dregger ist Diplom-Agraringenieurin und langjährige Journalistin. Mit den Schwerpunktthemen Frieden, Ökologie, Gemeinschaft, Frauen arbeitet sie seit 25 Jahren für Presse und Rundfunk sowie als Drehbuchautorin und Regisseurin für Theater und Film. Sie war Herausgeberin der Zeitschrift „Die weibliche Stimme – für eine Politik des Herzens", Pressesprecherin des Hauses der Demokratie in Berlin und lebt heute überwiegend in Tamera in Portugal.
www.tamera.org
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