Corona, Wissenschaft und Wirtschaftspolitik
Was lernen wir daraus für andere Krisen?
Die öffentliche Gesundheit wurde in den letzten Wochen blitzartig zum höchsten Gut – und einzelne wissenschaftliche Indikatoren zur obersten Regierungslinie. Was lernen wir daraus?

Dafür gibt es mehrere – mehr oder weniger überzeugende – Erklärungsansätze. Die beliebteste Erklärung, dass Corona unmittelbar die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen bedroht habe, gilt für Verkehrsunfälle, Luftverschmutzung und Hunger ebenso. Auch die Hitzewelle von 2003 hat zum Beispiel laut F.A.Z. zu 11.500 Hitzetoten in Frankreich geführt und zur Destruktionskraft von Wirbelsturm Katrina 2005 in New Orleans beigetragen, der in kurzer Zeit mehr als 100 Milliarden US-Dollar Schaden anrichtete. Das Argument sticht also nicht wirklich.
Was ist gefährlicher – Corona oder die Autoindustrie?
Eine zweite Erklärung liegt darin, dass mächtige Lobbys verhindert haben, was die Mehrheit der Menschen längst unterstützt: ebenso wirksame Maßnahmen gegen Treibhauseffekt, Artenverlust und Ungleichheit. Dass Angela Merkel das Coronavirus als größte Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg bezeichnet und gleichzeitig die Autoindustrie, die zu einer immensen Zahl von Verkehrstoten und Gesundheitsrisiken durch Luftverschmutzung führt, subventioniert. Oder das Beispiel Klimawandel: Während die Herzen der Bevölkerung der FFF-Jugend zuflogen und Greta Thunberg zum Medienstar avancierte, ist das Klimaschutzpäckchen der Bundesregierung mit freiem Auge kaum zu erkennen. Die dritte Erklärung liegt darin, dass uns die täglichen Opfer durch soziale und ökologische Ungleichgewichte nicht mit gleicher Penetranz vor die Nase gesetzt werden wie die Infizierten, Erkrankten, Hospitalisierten und Toten durch Corona. Bei gleich dramatischer medialer Inszenierung anderer Gefahren wäre die Bereitschaft der Bevölkerung, auf das tägliche Schnitzel zu verzichten, Fahrrad statt SUV zu fahren oder eine Vermögens- und Erbschaftssteuer zu akzeptieren vielleicht gleich hoch wie die Hinnahme der Freiheitseinschränkungen bis zur Beschneidung der Grundrechte.
Eine „science based" Entscheidungsgrundlage für die Politik wurde ja schon länger und auch für andere Probleme gefordert. Ein solcher Zugang ist im konkreten Fall der Wirtschaftswissenschaft jedoch auch problematisch, weil diese ihren Fokus auf vergleichsweise Irrelevantem hat. Ihre Aufmerksamkeit haftet primär an finanziellen Größen wie BIP-Wachstum, Leistungsbilanzen oder Aktienkursen – die uns beinahe als tägliches Brot von den Medien serviert werden, obwohl sie erwiesenermaßen keine Garanten für Lebensqualität, Gesundheit oder Glück sind. Die Lieblingsindikatoren der Wirtschaftswissenschaft weiterzuverfolgen würde somit nicht zum gewünschten Ergebnis, sondern seiner gezielten Verfehlung führen.
Im Unterschied dazu würde eine interdisziplinäre Herangehensweise – die Betrachtung aller Gefahren in einem Gesamtbild – helfen, die wesentlicheren Risiken von den unwesentlicheren zu unterscheiden; daraus könnten die wirklich relevanten politikleitenden Indikatoren abgeleitet werden.
Der Replikationsfaktor als Maß der Dinge?
Im Corona-Krisenmanagement war der berühmte Replikationsfaktor 1 oberste Regierungslinie. Dieser musste unterschritten werden, bevor an die Wiedergewährung der Grundrechte zu denken war. Ihm wurde sogar das BIP-Wachstum als höchstes Ziel geopfert – ein unerhörtes Ereignis seit dem 2. Weltkrieg. Ob dieser Indikator wirklich der relevanteste war, um die Gesundheit zu schützen, werden wir vermutlich erst in der Zukunft erfahren. Bei anderen Indikatoren haben wir schon heute mehr Gewissheit, und sie als Grundlage für Politikänderungen heranzuziehen wäre auch nicht mit der Einschränkung von Grundrechten verbunden.
Drei Beispiele seien hier ausgeführt.
- Das 1,5-Grad-Ziel. Man stelle sich der Übung halber der österreichischen Bundeskanzler oder irgendeine andere Regierungschefin vor, die mit gleicher Inbrunst der Bevölkerung mitteilt, dass „alle zusammenstehen müssen" (Sebastian Kurz), um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Alle Maßnahmen der Regierung seien auf die Erreichung dieses Ziels ausgerichtet.
- 1,7 globale Hektar ökologischer Fußabdruck je Mensch. Nach dem weithin anerkannten Konzept der ökologischen Belastung der Erde stellt der Planet aktuell jedem der acht Milliarden Menschen 1,7 „globale Hektar" Fußabdruck zur Verfügung. Das ist die in Landfläche umgerechnete ökologische Tragfähigkeit der Erde. Diese Fläche reicht aus, um die Grundbedürfnisse aller Menschen zu decken und gleichzeitig die globalen Ökosysteme im Gleichgewicht zu halten – vom Weltklima bis zur Artenvielfalt. Siereicht hingegen nicht aus, um die Konsumgewohnheiten einer Minderheit von rund einem Fünftel der Menschheit zu bedienen. Deren Überkonsum ist die Ursache, warum die Menschheit schon heute 1,5 Planeten „verbraucht" oder der berühmte „Welterschöpfungstag" in den wohlhabendsten Ländern wie Österreich oder Deutschland auf den Mai oder sogar April vorgerückt ist. Eine Zuteilung von 1,7 globalen Hektar Fußabdruck je Mensch und Jahr würde die Konsummöglichkeiten der Kaufkraftstärksten einschränken, wäre im Unterschied zu den Corona-Maßnahmen aber für niemanden gesundheitsschädlich oder lebensgefährlich. Im Gegenteil: Interdisziplinäre Studien zeigen, dass eine einseitige Ausrichtung des Lebensstils an materiellen Werten weniger glücklich und frei macht. Hingegen führen materielle Genügsamkeit und der Fokus auf gelingende Beziehungen, intakte Umwelt, Zeitwohlstand oder politische Beteiligung zu mehr Glück und Freiheit.
- Eine dritte Maßzahl könnte zur Begrenzung der Ungleichheit beitragen. Nach Untersuchungen der Experte*innen für öffentliche Gesundheit Richard Wilkinson und Kate Pickett führt exzessive Ungleichheit zu Erkrankungen an Leib und Seele, schlechter Ernährung, Drogensucht, höheren Selbstmordraten und sinkender Lebenserwartung.
Was hilft gegen die Dauerkrise?
Abhilfe schaffen könnten eine dreistufige Einkommensuntergrenze, zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle von zum Beispiel 1000 Euro monatlich netto; ein genereller Mindestlohn von zum Beispiel 1500 Euro netto sowie ein erhöhter Mindestlohn von zum Beispiel 2000 Euro monatlich netto für „systemrelevante" Berufe. Ergänzend könnte eine Einkommensobergrenze mit dem 10fachen des Mindestlohns festgelegt werden. Damit wären Jeff Bezos und Bill Gates immer noch Millionäre geworden, aber nicht Milliardäre. Psychologischen Studien zufolge wäre das ihrem persönlichen Lebensglück nicht abträglich, hingegen würde eine solche Grenze einen signifikanten Gewinn für die Demokratie und die Freiheit aller bedeuten.
Wie könnten gereifte Demokratien die nächsten Leitindikatoren finden? Die Gemeinwohl-Ökonomie schlägt „demokratische Konvente" vor, die zunächst wie Bürger*innenräte zusammengesetzt werden könnten. In diesen könnten die 20 Teilziele eines „Gemeinwohlprodukts" erarbeitet werden. Wird das Ergebnis in einer folgenden Volksabstimmung angenommen, löst es das BIP als höchstes wirtschaftspolitisches Ziel ab. Diese 20 Teilziele würden operationalisiert in gut messbare Indikatoren. Diese wären die neue – interdisziplinäre und ganzheitliche – Maßgabe für Politikentscheidungen; anstatt einen Indikator über alles zu stellen, würde das Gemeinwohlprodukt alle wesentlichen Probleme und Bedürfnisse gemeinsam in den Blick nehmen.
Für die Post-Corona-Ökonomie muss gelten: Sie muss ökologische und soziale Grenzen – für den Umweltverbrauch und die Ungleichheit – festlegen, innerhalb derer sich die Wirtschaftsfreiheit entfalten darf. Wirtschaftlicher Erfolg ist an Lebensqualitätsindikatoren, wie zum Beispiel – aber eben nicht ausschließlich – der körperlichen und seelischen Gesundheit zu messen. Eine Gemeinwohl-Ökonomie ist aus dieser Betrachtung eine Gleichgewichtsökonomie: Sie zielt auf die großen ökologischen, sozialen Gleichgewichte, anstatt die Welt durch obsessives Wachstum, Gewinnstreben und Maßlosigkeit aus den Fugen zu bringen.
Christian Felber ist Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie und der Genossenschaft für Gemeinwohl. Er unterrichtete an 7 Hochschulen und Universitäten und ist aktuell Affiliate Scholar am IASS Potsdam. 15 Buchpublikationen, darunter „Die Gemeinwohl-Ökonomie" und aktuell „This is not economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft".
Gesellschaft | Politik, 10.06.2020
Dieser Artikel ist in forum 02/2020 - die Corona-Sonderausgabe - Einfach zum Nachdenken... und Handeln erschienen.

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