Den Alltag durchkreuzen
Christoph Quarch plädiert für einen Relaunch veralteter Rituale
Einen Beitrag von Christoph Quarch zur Situation der Kulturschaffenden in der Corona-Krise lesen Sie in
forum Nachhaltig Wirtschaften 4/2020 im Brennpunkt Events. |
Der Dezember beginnt und vor uns liegt – überraschender Weise – eine Reihe von Fest- und Feiertagen. Für viele verbinden sich damit liebgewonnene Rituale: von den Kinderschuhen vor der Tür am Nikolausabend über die das Weihnachtsshopping am verkaufsoffenen Sonntag bis zum Adventskaffee bei Kerzenschein. Dieses Jahr ist alles anders – vielleicht eine Gelegenheit, über den Sinn und Wert solcher Rituale nachzudenken – gerade in Zeiten der Pandemie.
Fragen wir doch mal unseren Philosophen: Herr Quarch, was sind eigentlich Rituale – und warum halten viele Menschen gerne daran fest?
Rituale sind der Versuch, die alltägliche Geschäftigkeit zu unterbrechen, um zur Besinnung zu kommen und sich der Sinndimension des Lebens zuzuwenden. Man kann sich das so vorstellen: Normalerweise wuseln wir mit Hochgeschwindigkeit in der Horizontalen: Wir verfolgen Ziele, befriedigen Bedürfnisse, verwirklichen Pläne – immer vorwärts, immer voran. Ein Ritual durchkreuzt diese horizontale Dynamik mit einer vertikalen Linie. Es lenkt den Blick nach oben oder unten: zu dem, was uns wirklich wichtig ist und in der Tiefe angeht – das, was man früher das Heilige oder Gott nannte. Nicht zufällig haben alle Rituale einen religiösen Ursprung.
Aber von diesem religiösen Ursprung ist nicht mehr viel übrig, wenn es heute um Weihnachtsgänse, Geschenke oder Shopping geht.
Richtig. Was in der Vorweihnachtszeit an Ritualen gepflegt wird, ist – um im Bild zu bleiben – komplett in der horizontalen Dynamik gefangen und entsprechend flach. Man trifft sich vielleicht noch mit einer Freundin zum Adventskaffee, aber man plaudert dabei über die neuesten Schnäppchen oder den Tratsch von gestern. Es geht nicht mehr darum, sich auf das zu besinnen, was einen in der Tiefe des Herzens beschäftigt. Das heißt: die meisten Rituale sind tote Rituale, die nichts mehr bedeuten und die man eigentlich abschaffen könnte – und wohl auch würde, wenn man sie nicht ökonomisch nutzbar gemacht hätte.
Aber sehen sie das nicht ein bisschen zu negativ? Es gibt ja doch auch ernste Rituale. Denken Sie nur an die Kirchen, die sich zu Weihnachten wieder füllen werden – dieses Jahr vielleicht sogar ganz besonders, wenn man doch sonst kaum noch Veranstaltungen beiwohnen darf.
Kommen Sie mir nicht mit den Kirchen. Offen gestanden erlebe ich die Rituale dort genauso leblos wie die säkularisierten Rituale der Vorweihnachtszeit. Wirklich in der Tiefe berührt davon sind die Allerwenigsten. Meine Kinder weigern sich seit der Konfirmation zur Kirche zu gehen. Sie sagen: Was die da machen, sagt mir nichts. Und genau das ist das Vernichtendste, was man über ein Ritual – egal welches – sagen kann: Es hat nichts mehr zu sagen, ist verstummt, zu einer bloßen Konvention erstarrt. Aber das ist schrecklich, weil wir ohne Rituale überhaupt nicht mehr zu Besinnung kommen und unser Leben immer mehr verflacht.
Hätten Sie eine Idee, was man da machen kann? Neue Rituale erfinden?
Neue Rituale erfinden ist schwierig. Das wirkt meistens gewollt und ist entsprechend flach. Besser ist es, erstarrte Rituale neu zu beleben, indem man ihre ursprüngliche Bedeutung zeitgemäß umsetzt. Beispiel Adventskaffee: Ursprünglich diente der Advent, um zur Ruhe zu kommen und sich auf die Geburt Christi einzustimmen. Da kann man nun sagen: Zur Ruhe kommen ist gut – aber Geburt Christi – hm, schwierig. Was soll das? Offenbar etwas, das den Christen früher wichtig war. Was ist uns wichtig? Wofür sind wir dankbar? Jetzt, da das Jahr zur Neige geht? Nehmen wir uns doch mal für diese Fragen Zeit: am Sonntag. Kerze anzünden, 20 Minuten Gespräch mit Partner, Kindern oder Freunden – analog oder per Zoom – zur Frage: Hey, wofür sind wir dankbar dieses Jahr? Und schon macht das Ritual wieder Sinn.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
Hören Sie ihn persönlich im SWR-Podcast Frühstücks-Quarch. Lesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
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