Computerspiele in der Reha
Digitale Therapien für halbseitig Gelähmte
Reha-Therapien sind mühsam – denkt man. Anders sieht es bei den neu entwickelten digitalen Therapien aus, die halbseitig Gelähmten ein neues Leben ermöglichen können und nebenbei auch noch Spaß machen.
Frei im Raum schwebt ein rechteckiges Brett, in das gut erkennbar ein kleines Labyrinth eingearbeitet ist. Die hintere Kante des Bretts ist gegenüber der vorderen um nur wenige Grad nach unten geneigt, wodurch eine Kugel langsam entlang einer Passage hinunterrollt. Die Kugel stößt an eine Wand und bleibt dort für einen kurzen Moment ruhig liegen. Dann kippt das Brett plötzlich auf der horizontalen Achse leicht ab, und die Kugel beginnt langsam nach rechts zu rollen. Ganz am Ende dieser letzten Strecke ist ein kleines Loch im Boden eingelassen. Darüber schwebt eine schwarz-weiß karierte Zielflagge. Die Kugel rollt in einer kurvenförmigen Bahn direkt auf die Flagge zu und verschwindet schließlich im Loch. „Geschafft!", ruft Markus Zuchowski zufrieden. Er legt den kleinen fernbedienungsartigen Controller aus der linken Hand, mit dem er zuvor die Neigung des Bretts im Spiel gesteuert hat, und setzt anschließend vorsichtig die Virtual-Reality-Brille ab. Als sie sicher neben ihm auf dem Tisch liegt, blitzt ein leichtes Lächeln auf der rechten Hälfte seines Gesichts auf.
Leben nur durch Hilfe
Eine Stunde täglich trainiert der 42-Jährige aus dem badischen Malterdingen auf diese Weise, um die Nerven in seiner rechten Körperhälfte zu stimulieren. Dass er jemals so weit kommen würde, hätte vor einiger Zeit kaum jemand für möglich gehalten. Im Sommer 2017 erlitt Markus eine Stammhirnblutung. Äußerlich ähneln die Symptome denen eines Schlaganfalls: starke Schwindelgefühle, Verlust der Sehkraft, Kopfschmerzen, Lähmungen oder ein anhaltendes Taubheitsgefühl in manchen Körperteilen. Betroffene werden zumeist schon nach kurzer Zeit bewusstlos. Nur etwa 60 Prozent von ihnen schaffen es durch die ersten Wochen. Beinah hätte der Vorfall auch Markus das Leben gekostet. Monatelang lag er auf Intensivstationen, bis sich sein Zustand allmählich zu stabilisieren begann.
Markus hat überlebt. Doch sein Körper ist seit dem Vorfall nicht mehr derselbe. Der einst agile Mann ist heute auf einen speziellen Rollstuhl angewiesen. Ein Teil seines Gesichts sowie die komplette rechte Körperhälfte sind gelähmt. Dadurch ist die Bewältigung alltäglicher Aufgaben, wie zum Beispiel sich selbstständig anzuziehen und allein zu versorgen, ohne die permanente Hilfe Dritter nicht möglich.
Ein Betroffener pro Minute
So wie Markus ergeht es sehr vielen. Allein in Deutschland erhalten jährlich etwa 500.000 Menschen die Diagnose halbseitige Lähmung (Hemiparese). Das entspricht fast einem neuen Betroffenen pro Minute. Damit diese Menschen vielleicht eines Tages wieder wie gewohnt ihren Hobbys, ihrer Arbeit und einem selbstbestimmten Sozialleben nachgehen können, ist eine lang andauernde Intensiv-Reha notwendig.
Doch diese ist teuer. Viele Krankenkassen lehnen die Übernahme für die Kosten der aufwendigen und langjährigen Behandlungen ab, wenn Gutachten von Fachärzten und Sachbearbeitern zu der Einschätzung kommen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Genesung gering ist. Stattdessen werden betroffene Patienten oft in Frührente geschickt. So auch in Markus Zuchowskis Fall. Damit er dennoch die Therapien erhalten kann, mussten die benötigten Mittel in Höhe von 45.000 Euro privat aufgebracht werden. Um die tägliche Pflege, die Organisation der Arztbesuche und den Haushalt kümmert sich seitdem seine Verlobte.
Spiegelillusion als genialer Heilungsfaktor
Patienten, die unter Lähmungen oder Wahrnehmungsstörungen leiden, werden oft über viele Jahre hinweg von verschiedenen Therapeuten intensiv betreut. Bei der Behandlung wird heute immer häufiger auf die sogenannte Spiegeltherapie gesetzt. Diese Form der Therapie wurde bereits 1966 in Indien für die Behandlung von Phantomschmerzen bei Personen mit amputierten Gliedmaßen erfunden. Seit einigen Jahren gewinnt die kognitive Therapie auch in anderen Teilen der Welt an Bedeutung. Das Prinzip der Spiegeltherapie ist so einfach wie genial: Vor den Patienten wird im rechten Winkel zur Körpermitte ein Spiegel platziert. Die Rückseite des Spiegels verdeckt dabei die beeinträchtigte Körperhälfte der Patienten so, dass das Blickfeld nur auf die gesunde Körperhälfte ausgerichtet ist. Vor dem Spiegel führen die Patienten mit der gesunden Körperhälfte dann diverse Koordinationsübungen durch. Lassen sie sich bewusst und mit viel Konzentration auf die Illusion ein, so entsteht das Bild, die Übungen würden mit den beeinträchtigten Extremitäten durchgeführt.
Das Problem mit der Motivation
Die neuropsychologische Wirkung der Spiegeltherapie konnte bereits in zahlreichen Studien nachgewiesen werden. Wie genau die geschädigten Hirnregionen bei dem Verfahren stimuliert werden, ist derzeit noch Gegenstand der Forschung. Therapeuten sind sich jedoch einig, dass die Spiegeltherapie einen positiven Einfluss auf die Bewegungsfähigkeit von gelähmten Patienten hat und die Durchführung von alltäglichen Aktivitäten verbessern kann.
„Der wichtigste Faktor für einen erfolgreichen Wiedereinstieg in ein eigenständiges Leben ist allerdings ein konsequentes und intensives Training", sagt Sabine Lamprecht. Zusammen mit ihrem Mann leitet sie eines der bekanntesten Therapiezentren Deutschlands und ist Expertin für Neurorehabilitation. „Gerade am Anfang, wenn mit der Therapie begonnen wird, ist viel Geduld gefragt". Je nach Fall muss das Training mit dem Spiegel unter professioneller Anleitung eines Therapeuten über längere Zeit hinweg geübt werden. Später führen die Patienten die Übungen dann selbstständig fort. Ein weit verbreitetes Problem ist, dass Patienten den empfohlenen Trainingsplan ohne Betreuung selten regelmäßig einhalten. Die Übungen an sich sind nicht sonderlich motivierend.
Erfolg durch Spaß: Computerspielen als Therapie
Genau hier will ein junges Start-up aus Reutlingen mit einer neuen Technologie ansetzen. Das Entwickler-Team von Rehago hat erkannt, dass die richtige Motivation ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg ist und will daher Patienten spielerisch an die Spiegeltherapie heranführen. „Wir haben uns viele Lösungen angesehen, doch die meisten sind eher langweilig, demotivierend oder viel zu teuer", sagt Anika Ochsenfahrt, die das Unternehmen zusammen mit drei weiteren Kommilitonen 2018 an der Hochschule Reutlingen gegründet hat.
Rehago ist eine Software, die die Spiegeltherapie in die digitale Welt überträgt. Für die Behandlung setzen Patienten zunächst eine Art übergroße Augenmaske auf. Dabei handelt es sich um eine sogenannte VR-Brille (VR = virtuelle Realität), die es den Patienten erlaubt, in der Ich-Perspektive in ein virtuelles Wohnzimmer einzutreten und sich frei in alle Richtungen umzusehen. Um die Simulation so echt wie möglich zu gestalten, werden auch zwei Arme anatomisch korrekt dargestellt, sodass sie wie die eigenen aussehen. Aktuell lassen sich beide Arme mit Hilfe einer Art Fernbedienung steuern. Schon in Kürze wird aber eine neue Technologie verwendet werden, die Bewegung in der realen Welt erkennen kann und diese eins zu eins in der virtuellen Realität simuliert. Dadurch entsteht ein noch natürlicheres Gefühl bei der Durchführung der therapeutischen Übungen.
In der virtuellen Realität können Patienten frei aus einer Vielzahl von therapeutischen Spielen auswählen. Darunter Geschicklichkeitsspiele wie Kugel-Labyrinth, um die feinmotorische Kontrolle wiederzuerlangen, oder Spiele, die das Gedächtnis anregen, wie zum Beispiel Memory. „Durch Spaß am Spiel lässt sich die Trainingshäufigkeit signifikant erhöhen, was sich wiederum fördernd auf den Rehabilitationsverlauf auswirkt." Studien zum Einsatz von Spielen in der Therapie („Gamification”) haben wiederholt gezeigt, dass Patienten erheblich motivierter sind. Sie führen regelmäßiger ihre Therapiepläne durch und trauen sich eher, persönliche Leistungsgrenzen auszutesten.
Die Lösung des Kostenproblems
Teletherapeutische Technologien wie Rehago könnten auch dabei helfen, den Einsatz der begrenzten Ressourcen des deutschen Gesundheitssystems zu optimieren. Es ist weitgehend bekannt, dass viele Kliniken und Therapiezentren unter akutem Personalmangel leiden. Um Patienten wie Markus Zuchowski regelmäßig ein hochintensives Training zur optimalen Genesung anbieten zu können, reichen die stationären Kapazitäten oft nicht aus. Mit teletherapeutischen Systemen können Patienten nicht nur in Begleitung eines Therapeuten, sondern auch selbstständig und zeitunabhängig trainieren. Egal ob in der Klinik, im Pflegeheim oder von zu Hause aus. Ende 2019 hat die Bundesregierung das neue Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) und die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnungen (DiGAV) eingeführt. Damit ist eine wichtige Voraussetzung gegeben, digitale Behandlungsformen von den gesetzlichen Krankenversicherungen erstattet zu bekommen, wenn diese zuvor durch Ärzte und Therapeuten verordnet wurden. Für Patienten wie Markus Zuchowski, die bisher die Therapien selbst bezahlen mussten, ist das eine gute Nachricht.
Hinweis: Die Trainingssoftware Rehago hat im Mai die erste Hürde für eine Zulassung als medizintechnisches Produkt genommen und die wichtige CE-Kennzeichnung erhalten. Bereits im Lauf des Jahres kann sie voraussichtlich von Krankenkassen erstattet werden.
von Fritz Lietsch
Lifestyle | Gesundheit & Wellness, 31.08.2020
Dieser Artikel ist in forum 03/2020 - Digitalisierung und Marketing 4 Future erschienen.
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