Ressourcenkreisläufe im Bausektor schließen
Zeit zum Umdenken
Die Potenziale einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft im Bausektor sind erheblich. Um sie zu erschließen,
ist aber ein Umdenken und (Um-)Handeln bei allen Beteiligten erforderlich, und der gesamte Lebenszyklus
eines Gebäudes muss in den Blick genommen werden.
Der Bausektor hat einen enormen Einfluss auf unsere
Umwelt, unsere Gesellschaft und den Klimawandel. Mit
fast 50 Prozent ist das Bauwesen der größte Ressourcenverbraucher und ist für den Verbrauch von 40 Prozent der
Energie und 16 Prozent des Wassers zuständig, ebenso wie
für 60 Prozent der Abfälle. Darüber hinaus resultieren rund
40 Prozent des weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen
aus der Gebäudeherstellung und -nutzung. Das war aber
nicht immer so.
Von der Vergangenheit lernen
Während in früheren Zeiten Gebäude aus Materialien aus
der Region und nachwachsenden Baustoffen errichtet
wurden, hat sich im Zuge der Industrialisierung und Internationalisierung beispielsweise der Beton als Standardbauweise etabliert, und es wurden mehr und mehr neue
Baustoffe – insbesondere Verbundbaustoffe – entwickelt,
die den immer höheren technischen Eigenschaften und
Standards gerecht werden müssen. Gebäude von „früher"
gingen 1:1 in die natürlichen Ressourcenkreisläufe zurück;
heute wird fast jedes Material beim Abriss eines Gebäudes
aufgrund seiner Sortenunreinheit als „Abfall" deklariert und
landet auf der Deponie, in der thermischen Verwertung, in
der Bodenverfüllung oder als Downcycling im Straßenbau.
Im Zuge der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert
gingen viele alte Handwerkstechniken und Wissen der Baumeister komplett verloren; dies versucht man heute mithilfe
technischer Maßnahmen neu zu definieren – allerdings nicht
immer mit Erfolg. Aufgrund der Ressourcenknappheit und
im Sinne des nachhaltigen Bauens ist es daher dringend erforderlich, im Bauwesen von der Vergangenheit zu lernen,
um die Ressourcenkreisläufe wieder zu schließen.
Umdenken und (Um-)Handeln unbedingt erforderlich
Um nachhaltiges und ressourceneffizientes Bauen zu fördern,
sind ein gesellschaftlicher Wandel und eine Veränderung des
Bausektors dringend erforderlich. Hierfür ist ein Umdenken
unumgänglich, sowohl bei den Bauherren, bei den ausführenden Firmen, bei den Produkteherstellern, bei den Architekten
und Fachplanern, als auch bei den Gesetzesgebern. Dies gilt
nicht nur für ökologische Themen: nachhaltiges und ressourceneffizientes Bauen bedeutet auch soziale Verantwortung.
Neben der Verwendung von „gesunden" Baumaterialien ist
eine Eindämmung der Schwarzarbeit und der Kinderarbeit
dringend notwendig. Hierfür werden ganzheitliche Ansätze
benötigt, bei denen ökologische, ökonomische und soziale
Aspekte gleichberechtigt im Bauwesen umgesetzt und in
die Prozessabläufe wie Planung, Ausschreibung, Vergabe,
Baustellenabläufe und Betrieb von Gebäuden integriert
werden. Folglich gilt es, die Prozesse im Bauwesen über den
kompletten Lebenszyklus von Gebäuden zu ändern.
Dazu ein Beispiel: Im Bereich der Energieeffizienz ist man im
Neubau aktuell mit den steigenden Anforderungen und Verschärfungen der Energieeinsparverordnung (EnEV) und dem
GebäudeEnergieGesetz (GEG), das ab 1. November 2020 in
Kraft getreten ist, grundsätzlich auf einem guten Weg (Abbildung 1). Während zukünftig Gebäude als Niedrigst-, Null- oder
Plusenergiegebäude kaum mehr Energie verbrauchen werden,
steigt die Wohnfläche pro Person aber kontinuierlich an (Abbildung 2). In den 60er Jahren standen jedem Bürger durchschnittlich etwa 20 qm Wohnfläche zur Verfügung; im Jahr 2014 waren
es bereits 45 qm. Hier zeigt sich nun die Problematik: auf Basis
der Anforderungen der Energieeinsparverordnung sinkt zwar
unser Energieverbrauch (Kilowattstunden pro Quadratmeter),
bezieht man diesen aber nicht auf die Quadratmeter sondern
auf die nutzende Person, so bleibt der Energieverbrauch pro
Kopf seit den 70er Jahren unverändert. Es ist sogar ein stetiges Ansteigen des Energieverbrauchs pro Person erkennbar.
Folglich ist ein Umdenken und (Um-)Handeln unbedingt erforderlich. Im Bausektor gilt es daher, effizienter („besser"),
suffizienter („weniger") und konsistenter („anders") zu agieren.
Effizienter, suffizienter, konsistenter
Ein wichtiger Ansatz für ein effizientes, suffizientes und
konsistentes Handeln ist die 2000-Watt-Gesellschaft aus
der Schweiz. Im Fokus steht der Nutzer: Jeder Mensch
sollte dauerhaft maximal eine Leistung von 2.000 Watt
von der Natur beanspruchen, damit die Klimaerwärmung
auf 2 Kelvin begrenzt werden kann (2.000 Watt pro Person
entspricht einem Primärenergiebedarf von 17.500 Kilowattstunden pro Jahr). Die Methode umfasst die Bereiche
Wohnen, Mobilität, Ernährung, Konsum und Infrastruktur.
2011 lag der durchschnittliche Energiebedarf weltweit bei
rund 2500 Watt. Doch sind die Unterschiede zwischen den
Ländern enorm: Während es in den Entwicklungsländern
einige hundert Watt sind, haben Industrieländer einen sechs
bis sieben Mal höheren Verbrauch als die angestrebten 2000
Watt. Das Modell der 2000-Watt-Gesellschaft strebt eine
global gerechte Verteilung des Energieverbrauchs an. Hier
ist dringender Handlungsbedarf erforderlich – insbesondere
im Bauwesen.
Siegel bieten Orientierung
Zur Umsetzung dieser Nachhaltigkeitsanforderungen wurden auf internationaler Ebene verschiedene Gütesiegel zur
Bewertung der Nachhaltigkeit von Gebäuden entwickelt.
Diese bauen auf den Nachhaltigkeitszielen (Sustainable
Development Goals) der UN auf. International haben sich
seit den 90er Jahren zahlreiche Bewertungssysteme wie
LEED (USA), BREEAM (Großbritannien) oder DGNB und BNB
(Deutschland) etabliert. Während die DGNB vorwiegend
privatwirtschaftliche Bauvorhaben zertifiziert, hat das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) mit
dem Bewertungssystem BNB einen Leitfaden für öffentliche
Bauten und Bundesbauten entwickelt. Mit rund 60 Kriterien
wurden diese Gütesiegel speziell für Nichtwohngebäude
entwickelt. Schwerpunkte der Bewertung stellen folgende
Nachhaltigkeitsaspekte dar:
- Ökologische Qualität: Energie, Ökobilanz (LCA), Wasser, Materialien, Fläche etc.
- Ökonomische Qualität: Wirtschaftlichkeit, Lebenszykluskosten (LCC), Drittverwendung etc.
- Soziokulturelle und funktionale Qualität: Komfort, Gesundheit, Nutzer, Barrierefreiheit, Zugänglichkeit, Architektur etc.
- Technische Qualität: Brandschutz, Schallschutz, Gebäudehülle, Rückbau, Reinigung etc.
- Prozessqualität: Vorplanung, integrale Planung, Ausschreibung, Baustelle, Inbetriebnahme etc.
- Standortqualität: Mikrostandort, Risiken, Transport, nutzerspezifische Einrichtungen etc.
Bei kleineren Bauten wie beispielsweise Wohnungsbauten
zeigte es sich, dass die genannten Zertifizierungssysteme sehr
komplex und kostenintensiv sind. Hier galt es, einfache und
leicht anwendbare Werkzeuge zu entwickeln. Aus diesem
Grund wurde das Bewertungssystem Nachhaltige Kleinwohnhausbauten (BNK) auf den Markt gebracht, das mit 19
Kriterien die Nachhaltigkeit von Wohnungsbauten abbildet
und vom Bau-Institut für Ressourceneffizientes und Nachhaltiges Bauen (BiRN) geprüft wird.
Lebenszyklus eines Gebäudes betrachten
Mit der Einführung der Nachhaltigkeitsgütesiegel im Bausektor wurde eine wichtige Lücke geschlossen, nämlich
das Planen, Konstruieren und Betreiben von Gebäuden
im kompletten Lebenszyklus. Während bei aktuellen Bauvorhaben der Betrieb etwa die Hälfte bis zwei Drittel des
Gesamtenergieverbrauchs und der CO2
-Emissionen über
den gesamten Lebenszyklus ausmacht, werden zukünftig
mit der Umsetzung von Niedrigenergie- und Plusenergiehäusern die Heizenergie und der Nutzerstrom in Richtung
„0" gehen. Der Anteil der „Grauen Energie" der Baukonstruktion wird aber eine zunehmend wichtigere Rolle spielen.
Folglich werden Werkzeuge benötigt, mit denen die „Graue
Energie" über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes
abgebildet werden kann, nämlich für die Herstellungsphase,
die Errichtungsphase, die Nutzungsphase inklusive Instandhaltung, Instandsetzung und Modernisierung und schließlich
die Phase am Ende des Lebenszyklus (Rückbau, Recycling/
Wiederverwendung und Entsorgung).
Die Ökobilanzierung (LCA) ist hierbei ein geeignetes Berechnungsinstrument, mit dem nicht nur die CO2
-Emissionen,
sondern auch die Primärenergie („Graue Energie") und weitere Teilindikatoren wie Versauerungspotenzial, Ozonschichtbildungspotenzial etc. von Materialien, Konstruktionen und
ganzen Gebäuden im Verlauf ihres Lebenswegs dargestellt
werden können. Zudem lassen sich mit Hilfe von Ökobilanzen
die Massenbilanzen und der Anteil verbauter Materialien
eines Gebäudes aufzeigen und Vergleiche zwischen verschiedenen Konstruktionen oder Bauweisen ableiten (Abbildung 3). Neben den Umweltwirkungen können auch die
Kosten über den gesamten Lebenszyklus mit sogenannten
Lebenszykluskostenberechnungen (LCC) ermittelt werden.
Zu nennen sind die Kosten für den Neubau ebenso wie die
Kosten für den Betrieb, die Reinigung, die Instandsetzung und
Wartung. Über einen Betrachtungszeitraum von 50 Jahren
können mithilfe eines Barwerts bereits im Planungsprozess
unterschiedliche Konzepte in Bezug auf die Lebenszykluskosten miteinander verglichen werden. Rückbaukosten werden
aufgrund mangelnder valider Werte noch nicht mit einberechnet. Diese Lücke gilt es zukünftig zu schließen.
Schließen der Kreislaufströme immer wichtiger
Folglich wird das Thema „Circular Ecomy", d.h. das Schließen
der Kreislaufströme im Bausektor, immer wichtiger. Neue
Ansätze wie Urban Mining (die Stadt als Rohstofflager),
Recycling, Sekundärnutzung von Baustoffen, Baustoffdatenbanken oder Cradle to Cradle spielen hierbei eine wichtige
Rolle. Insbesondere Cradle to Cradle (C2C) ist ein Ansatz für
eine durchgängige und konsequente Kreislaufwirtschaft. C2C
bedeutet „von Wiege zu Wiege" oder „vom Ursprung zum
Ursprung".
C2C-Produkte werden entweder als „biologische Nährstoffe" in biologische Kreisläufe zurückgeführt oder als „technische Nährstoffe" kontinuierlich in den technischen Kreisläufen gehalten. Mit der C2C-Zertifizierung werden die fünf Kriterien Materialgesundheit, Kreislauffähigkeit, erneuerbare Energien, verantwortungsvoller Umgang mit Wasser sowie soziale Gerechtigkeit bewertet. Während diese Methoden bereits in verschiedenen Branchen wie beispielsweise der Textilbranche angewandt werden, müssen die Ansätze noch für den Bausektor übersetzt werden. Hierbei muss speziell dem Rückbau von Gebäuden und Bauprodukten besonderes Augenmerk gelten.
Forschungsprojekte wie die „Weiterentwicklung ausgewählter Kriterien des Bewertungssystems Nachhaltiger Kleinwohnhausbau (BNK)" der Forschungsinitiative ZukunftBau
(BBSR) oder „Rural Mining – Entwicklung eines Leitfadens
zum Rückbau und Recycling von Einfamilienhäusern in
Holzfertigbauweise" des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung (BMBF) bieten hierbei eine fundierte Ausgangslage, um zukünftig Aussagen über den Rückbau und
die mögliche Weiternutzung der rückgebauten Materialien
bieten zu können. Anhand des Kriteriums „Rückbau- und
Recyclingfähigkeit" des BNK-Gütesiegels wurden bei zehn
Pilotprojekten (Einfamilienwohnhäuser) die Anwendbarkeit
bereits existierender Werkzeuge zur Bestimmung des theoretischen Rückbaus der Gebäude geprüft und Rückbaukonzepte
für diese entwickelt. Im Projekt „Rural Mining" wurde mit
dem Rückbau- und Wiederaufbau von drei Wohnhäusern
in Holzfertigbauweise die mögliche Sekundärnutzung von
ganzen Gebäuden und einzelnen Bauteilen aufgezeigt und
die technischen und rechtlichen Grundlagen erarbeitet.
Zudem wurde eine detaillierte Analyse des selektiven Rückbaus von vergleichbaren Bestandskonstruktionen im Labor
durchgeführt. Diese zeigte auf, dass die potenziellen Verwertungswege einer Kreislaufwirtschaft lange noch nicht
ausgenutzt werden.
Aufgrund mangelnder sortenreiner Trennbarkeit und der
aktuellen Gesetzeslage würden bei den im Labor untersuchten Bauteilen in Holzbauweise aktuell etwa 95 Prozent
der rückgebauten Materialien als „Müll" deklariert werden
und auf der Deponie bzw. in der thermischen Verwertung
landen. Die Potenziale einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft sind jedoch erheblich (Abbildung 4): So könnte die
Wiederverwertung, das Recycling und das Downcycling der
rückgebauten Materialien theoretisch auf etwa 88 Prozent
erhöht und die thermische Verwertung und Deponierung auf
12 Prozent reduziert werden. Doch auch hier ist Umdenken
und (Um-)Handeln erforderlich. Solange die Kosten für neue
Bauprodukte wesentlich geringer sind als für Recycling- und
Sekundärprodukte, keine gesetzlichen Regelungen für eine
Kreislaufwirtschaft in Kraft treten und unsere Gesellschaft
die Wertschöpfungskette missachtet, solange stehen wir mit
dem nachhaltigen Bauen noch ganz am Anfang!
Prof. Dr.-ing. Natalie Essig ist Professorin an der Hochschule München, Fakultät für Architektur,
Fachgebiet Baukonstruktion und Bauklimatik. Die Architektin ist
zudem Gesellschafterin und Prokuristin der ESSIGPLAN GmbH und
der BiRN GmbH.
Quelle: BAUM e.V. - Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften
Technik | Green Building, 01.12.2020
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