Die Wegbereiter*innen
Früher belächelte „Müslis“, heute umworbene Pioniere
Ohne sie wäre der Regenwurm eine
seltene Tierart. Ohne sie könnten wir heute nicht so selbstverständlich
Bio-Lebensmittel einkaufen… Vor 40 Jahren haben sich mutige Menschen
aufgemacht und nach und nach eine neue Branche geschaffen. Heute sehen
sie auf eine große Erfolgsgeschichte zurück, aber sie und ihre
Nachfolger*innen stehen auch vor großen Herausforderungen. Das forum
stellt Pioniere vor und fragt nach der Zukunft der Bio-Branche.
In den 1970er Jahren machten sich an vielen
Stellen in Deutschland Menschen auf den Weg, um gesündere und ökologisch
verträgliche Lebensmittel auf den Markt zu bringen: Sie waren engagiert
und systemkritisch, handelten mutig und eigenverantwortlich. Viele von
ihnen beteiligten sich damals an den großen Protesten gegen Atomkraft,
Aufrüstung und Umweltzerstörung oder sie setzten sich für Frauenrechte
ein. Doch Protest alleine reichte ihnen nicht, sie begehrten auf, indem
sie es anders machen wollten. Sie wollten eine neue Landwirtschaft,
bessere Produkte, wollten sich von industriellen und technokratischen
Großstrukturen lösen, hierarchische Arbeitsbedingungen auflösen,
kollektiv und solidarisch leben und arbeiten.
Der Aufbruch der Ökos
Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle klein
anfingen. Sie übernahmen landwirtschaftliche Höfe und stellten sie auf
Bio um. Sie begannen Tiere artgerecht zu halten. Sie gründeten kleine
Bio-Läden. Da gab es das berühmte selbstgemischte Müsli, das
Kernprodukt, noch von Hand abgepackt, und auch die Rechnungen waren
handschriftlich verfasst. Für die legendären Energiebällchen brauchte
man ein gutes Gebiss. Was sie im Laden verkauften, suchten sich die
Händler selbst von den Bauern aus der Region zusammen. Entsprechend
überschaubar war das Angebot, entsprechend aufwändig und ineffizient
waren die Strukturen. „Naturkost war Programm, nicht Realität", so
beschreibt Ulrich Walter, der Gründer der Diepholzer Firma Lebensbaum,
die dürftige Ausstattung der Läden in den Anfangsjahren: Körner,
Flocken, Trockenfrüchte, dann auch Kerzen, Räucherstäbchen, Henna,
Umweltschutzpapier, Bücher und Broschüren. Viel mehr gab es nicht. Die
Regale waren selbstgezimmert oder aus Weinkisten zusammengestapelt. Was
man für die Ausstattung der Läden sonst noch brauchte, suchte man sich
irgendwo zusammen. Alles war so selbstgestrickt wie die Pullover, die
man trug. Hauptsache funktional, ansprechend musste es nicht sein. Oder
sagen wir lieber: Sie hatten ihre ganz eigene Ästhetik.
Strukturen entstanden
Gerade mal fünf Bio-Läden gab es Anfang der
1970er Jahre bundesweit. Bis Ende des Jahrzehnts stieg ihre Zahl auf
über 500. Die Pioniere erweiterten nun auch ihren Aktionsradius,
schlossen sich zu Anbauverbänden und Einkaufsgemeinschaften zusammen,
organisierten Lieferketten, über die sie Tee und Kaffee, Kakao, Gewürze,
Bananen und was sonst noch nicht in Deutschland wächst, einführten. Sie
gründeten eine Messe für ökologische Lebensmittel: 1983 fand im
hessischen Oberursel die erste „Müsli" statt, Vorläuferin der heute
hochprofessionellen und internationalen BioFach. Und sie gründeten
Unternehmen, in denen sie Rohstoffe weiterverarbeiteten oder über die
sie den Großhandel organisierten.
Ihr Geschäft sollte fair, die Waren sollten
ökologisch verantwortlich produziert sein. Aber sie wollten noch viel
mehr: Sie wollten die gängige Lebensweise verändern, die sie zu Recht
als ungesund kritisierten. Auch damit nicht genug. Manche wollten das
wirtschaftliche und politische System an den Stellen ändern, an denen
sie Zerstörung und Gedankenlosigkeit wähnten. Ihr Unternehmertum musste
mit dem Gemeinwohl zusammenpassen – ein transformatives Anliegen.
Widerstandskraft, Risikobereitschaft, Vision
Zu den Männern und (wenigen) Frauen der ersten
Stunden gehören zum Beispiel Michael Radau von Biosupermarkt, Götz Rehn
von Alnatura, Roswitha Weber von Biogarten, Stefan Voelkel von der
gleichnamigen Bio-Saftkelterei, Ulrich Walter von Lebensbaum, Barbara
Scheitz von der Andechser Molkerei, Volker Krause von der Bohlsener
Mühle und Joseph Wilhelm von Rapunzel. In der Naturkosmetikbranche sind
es unter anderem Ute Leube und Kurt Ludwig Nübling von Primavera Life
oder Hans Hansel von Lagona. Das sind nur die überregional bekannten
Größen. Regional und lokal gibt es noch viel mehr Pionier*innen. Ihre
lokale Verankerung macht die Stärke der Bewegung aus. So unterschiedlich
die Charaktere sicher sind, so einte sie in den Anfängen doch der
Wille, nicht nur Bestehendes zu kritisieren, sondern selbst anzupacken
und alternative Wege aufzuzeigen. Mit Widerstandskraft,
Risikobereitschaft und Visionen haben sie ihre Unternehmen über die
Jahrzehnte ökonomisch erfolgreich gemacht und dazu beigetragen, dass Bio
heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
40 Jahre und mehr ist das her. Inzwischen ist
Bio erwachsen geworden. Aus den nach Patschuli und Sauerteig riechenden
Bio-Läden sind professionell betriebene Bio-Supermärkte geworden, aus
kleinen Manufakturen hochmoderne Unternehmen und auch die Höfe werden
heute mit betriebswirtschaftlicher Effizienz geführt. Das Rebellische
ist nun nicht mehr am Äußeren erkenn- und erlebbar. Die Akteur*innen
sind Teil des Wirtschaftssystems und dennoch dabei, es von innen
aufzurollen und zu verändern.
Kontinuierliches Wachstum
Man kann das auch so sagen: Am Anfang wurden
die Bio-Pionier*innen belächelt, dann bekämpft. Jetzt sind sie begehrt.
Ihr Erfolg ist beeindruckend. Die Umsätze steigen kontinuierlich, in den
letzten Jahr zweistellig, 2018 lagen sie bei rund zwölf Milliarden
Euro. Der Marktanteil beträgt nun rund sechs Prozent, der Anteil der
landwirtschaftlichen Fläche, die die über 34.000 Betriebe ökologisch
bewirtschaften, wuchs 2020 auf 9,7 Prozent. Und die Prognosen für das
Wachstum sind weiterhin vielversprechend. Doch die Unternehmen sind nun
auch im Fokus von Investoren, schon einige haben an Konzerne verkauft.
Die Gründe sind unterschiedlich, viele Pionier*innen sind im
Rentenalter, nicht alle finden geeignete Nachfolger*innen. Der Erfolg
von Bio hat die zweite Welle in Gang gebracht: Auch die konventionellen
Lebensmittelunternehmen treten auf den Plan und strecken ihre Fühler
nach den Geschäftsfeldern und Unternehmen aus, die sie früher nicht mal
zur Kenntnis nahmen. Mancher Konzern versucht sich das fehlende
Bio-Segment dazuzukaufen. Um mit der neuen Konkurrenz mithalten zu
können, müssen die Bio-Unternehmen aber auch investieren, dafür brauchen
sie Kapital. Umstritten ist zudem, ob und wie stark sich die
Produzent*innen mit den Großen im Handel einlassen sollen. Bioland ist
eine Kooperation mit Lidl eingegangen. Viele sehen darin die
Möglichkeit, Bio stärker in den Mainstream zu pushen, andere warnen vor
Abhängigkeiten und Preisdruck.
Mit dem Wachstum hat sich die gesamte Branche
verändert. „Früher hatte man Mitstreiter in der Branche, heute sind wir
Konkurrenten. Der Markt ist umkämpft", sagt Franz Niehoff, der die erste
Rösterei für Bio-Kaffee im niedersächsischen Gronau aufbaute. „Früher
konnte man zu einem Kunden sagen: ‚Du, ich brauche drei Cent mehr für
das Kilo Kaffee‘, und wurde gefragt: ‚Ok, reicht Dir das?‘. Heute kriegt
man zur Antwort: ‚Geht nicht. Dann suchen wir uns halt einen anderen
Lieferanten?‘"
Herausforderungen und Schwächen
Es sind also eine ganze Reihe an
Herausforderungen, denen sich die Bio-Branche stellen muss. Manches
davon ist hausgemacht. So bemängeln etliche Akteur*innen in der Szene,
dass sich „die Bios" ruhig etwas selbstbewusster geben könnten und den
sozialen und ökologischen Mehrwert ihrer Arbeit besser kommunizieren
sollten. „Unsere Branche gibt sich immer noch nicht richtig zu erkennen.
Wir müssen noch viel mehr nach außen gehen und zeigen, wer wir sind und
wofür wir stehen", verlangt Roswitha Weber, Chefin vom
Handelsunternehmen Biogarten. Verlässt sich die Branche zu sehr auf die
derzeitigen stetigen Wachstumsraten und fühlt sich in ihrer Echokammer
ganz wohl, weil der Hall dort angenehm und vertraut ist? Es ist jedoch
die Dissonanz, die einen zwingt, die Dinge von einer anderen Seite zu
sehen. Auch wäre mehr politisches Einmischen der Branchenverbände
sinnvoll. Dafür müssten sie sich weiterentwickeln. So formuliert es zum
Beispiel die Bundestagsabgeordnete Renate Künast, die Anfang der 2000er
Jahre als Bundeslandwirtschaftsministerin die „Agrarwende" ausrief und
stark mithalf, Bio zum heutigen Erfolgsmodell zu machen. Natürlich fehlt
es noch an politischen Maßnahmen, um der Bio-Branche gegenüber der
konventionellen Land- und Lebensmittelwirtschaft gleiche
Ausgangsbedingungen zu verschaffen. Das reicht von den Anforderungen an
Klima- und Tierschutz, über die Vergabe von Geldmitteln bis hin zur
Anwendung des Verursacherprinzips. Dennoch gibt es etliche Themen, denen
sich die Branche in Zukunft stellen sollte. Fridays For Future fordert
einen neuen gesellschaftlichen Rahmen für Transformationen, für den
früher die Pionier*innen alleine standen; heute gehen dafür
Hunderttausende auf die Straße. Der Klimawandel stellt Geschäftsmodelle
auf den Prüfstand. Biodiversität, Regionalität, Plastikvermeidung werden
wichtiger und rücken die Agenda zurecht. Die Ansprüche an Bio steigen.
Und dann die Frage: Wie kann die Frontstellung zur konventionellen
Landwirtschaft aufgehoben werden? Gerade was das Thema Erzeugerpreise
angeht, gäbe es sicher Chancen zur Kooperation.
Wer folgt auf die Pioniere und Pionierinnen?
Wer folgt auf die Generation der
Pionier*innen? Welche neuen Akzente werden die Jüngeren setzen?
Natürlich arbeiten die Jüngeren digitaler. Sie gehen jedoch auch ganz
neue Wege, wie zum Beispiel die Landwirt*innen. „Einige spezialisieren
sich und arbeiten mit der mutterkuhbezogenen Kälberaufzucht, oder sie
produzieren Heumilch. Und sie finden Käufer, die das honorieren",
erzählt Ulrike Röder vom Terra Naturkosthandel in Berlin und langjährige
Geschäftsführerin des Bundesverband Naturkost Naturwaren. Die jungen
Landwirt*innen sind auch deutlich offener gegenüber kooperativen
Methoden, wie der Solidarischen Landwirtschaft (Solawi) oder der
Regionalwert AG. Sie verstehen es, sehr professionell und selbstbewusst
zu kommunizieren, scheuen nicht die Öffentlichkeit und gehen dabei
innovative Wege, wie zum Beispiel die Frankfurter Kooperative, die
Stadt, Land und Wirtschaft zusammenbringen will und neben dem
Mitgärtnern auch immer wieder Veranstaltungen anbietet.
„Mit den Jüngeren kommt neues Know-how in die
Branche", meint Michael Radau vom Superbiomarkt. Sie sind ökonomisch gut
ausgebildet und verbinden hohen ökologischen Anspruch mit technischer
Qualität. Ihre Motivation ist in der Regel weniger
gesellschaftspolitisch, sondern mehr wirtschaftlich geprägt, und sie
haben einen anderen Führungsstil. "Meine Art, wie ich früher das
Unternehmen geführt habe, finde ich heute falsch", so Roswitha Weber
selbstkritisch, „Menschen, die Verantwortung hätten übernehmen können
und wollen, sind nicht richtig zum Zuge gekommen."
Realistischer, kooperativer, weiblicher
Die Jüngeren scheinen nüchterner und
realistischer, als ihre Vorgänger*innen in diesem Alter waren. Aber
vielleicht sind sie auch nicht so konsequent und hartnäckig wie die
Gründergeneration, die sich gegen jede Menge Widerstände durchbeißen
musste? Aber sind sie deshalb weniger durchsetzungsstark? Wohl kaum. Und
wie steht es um die Utopien? Das Narrativ der Gründergeneration war ein
positives Zukunftsversprechen. Etwas, das uns heute in Zeiten von
Corona und Klimawandel schmerzlich fehlt. Das Bild einer nachhaltigen
Land- und Ernährungswirtschaft könnte jedoch eines mit großer
Ausstrahlungskraft sein. Ob die junge Generation auf ihre neue Weise
ähnlich mutig zupackt, wie es die Gründer und Gründerinnen in den 1970er
und 1980er Jahren taten, lässt sich derzeit noch nicht sagen.
Bio war männlich. Die heutige Kundschaft der
„Bios" ist indes überwiegend weiblich und die junge Klimabewegung ist es
ebenfalls. Das fällt bei jeder Fridays-For-Future-Demo ins Auge. Nicht
nur die Führungsfiguren sind junge Frauen. Auch die Mehrheit der
Demonstrantinnen und Demonstranten ist es. Und an vielen anderen
Stellen, ob in der Politik, der Wissenschaft, in Unternehmen und
Verbänden, führen oft Frauen das Wort, wenn es um Nachhaltigkeit geht.
Noch ist nicht auszumachen, ob sich das auch in der Bio-Branche
widerspiegeln wird.
Brücken im Generationenwechsel
Die Bio-Aktivist*innen haben Außerordentliches
geleistet. Sie haben es geschafft, dass Bio-Lebensmittel zu
gesellschaftlich anerkannten Produkten und ihre Unternehmen zu
angesehenen wirtschaftlichen Playern und teils Objekten der Begierde
wurden. Die Geschichten, die das forum über die Pionier*innen und ihre
Unternehmen erzählen wird, sind die Geschichten einer transformativen
Branche, die Geschichten von Weitblick, Mut und Geschick. Es sind aber
auch Geschichten als Brücken im Generationenwechsel. Der Ruf nach
„richtigem" Klimaschutz der jungen Friday-Aktivist*innen kennzeichnet
einen Generationenwechsel, der mehr ist als der unaufhaltsame Lauf der
Dinge. Er ist ein Symbol für den Wandel. Eines Wandels, der aus der
grundlegenden Transformation der Gesellschaft und ganzer Lebensentwürfe
besteht. Eines Wandels, der heute angemahnt und erzwungen werden muss,
um der Welt und kommenden Generationen den Klimakollaps zu ersparen.
Schon deshalb sollte man berichten, woher und mit welchen Beweggründen
vor 40 Jahren motivierte Menschen angetreten sind. Wir wissen aus
unseren eigenen Familien und unserer persönlichen Geschichte, wie
wichtig die Fragen an die Eltern und Großeltern sind, auch jene Fragen,
die wir uns nicht zu stellen trauen oder auf die wir keine
zufriedenstellenden Antworten bekommen. Es gibt keinen guten
Generationenwechsel, der stumm bleibt. Ob er gelingt, hängt von dem
Gespräch der Generationen ab.
Heike Leitschuh arbeitet seit Mitte der 1990er
Jahre als Autorin, Moderatorin und Beraterin für Nachhaltigkeit. Die
Schwerpunkte ihrer Arbeit sind nachhaltiges Wirtschaften, Postwachstum
und nachhaltige Lebensstile. Ihr neuestes Buch „Belächelt, Bekämpft,
Begehrt. Mit Bio-Pionier Ulrich Walter durch fünf Dekaden" erscheint im
Frühjahr 2021.
Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 01.03.2021
Dieser Artikel ist in forum 01/2021 - SOS – Rettet unsere Böden! erschienen.
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