Die Technik und das Wunderbare
Der aktuelle Kommentar von Gero Jenner
Jede Zeit, jedes Volk lebt von Ideen, für die es sich begeistert, für die es sich zu leben lohnt. Unsere Epoche lebt seit etwa zweihundert Jahren von der Leitidee, dass der Mensch aus eigener intellektueller Kraft die Welt nicht nur vollständig zu erkennen, sondern sie auch perfekt zu beherrschen vermag. Der deutsche Philosoph Max Scheler drückte es 1926 auf folgende Weise aus: „Es ist … ein neuer Wille zur Herrschaft über die Natur … in schärfstem Gegensatz zur liebevollen Hingabe an sie …, der jetzt das Primat in allem erkennenden Verhalten gewinnt."
Die heutigen Menschen sind überzeugt davon, immer neue, immer erstaunlichere Apparate zu erzeugen, die ihr Leben nicht nur erleichtern, es sicherer und bequemer machen, sondern mehr und mehr auch ihren Lebensinhalt bilden; die Beschäftigung mit ihnen erfüllt das tägliche Leben. Das trifft gewiss auf das Auto zu, gilt aber in besonderem Maße für die jeweils jüngsten Erzeugnisse der Technik wie Computer und Handy. Die Digitalisierung aller automatisierbaren Vorgänge ist nur der vorläufig letzte Trumpf auf diesem scheinbar unaufhaltsamen Weg technologischen Fortschritts. Der mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter soll nach Meinung der Enthusiasten den Menschen nicht nur nachahmen, sondern ihn überhaupt ersetzen.
Die Selbstbetörung durch das technisch Wunderbare
Man könnte sagen, dass sich in unserer Zeit das Wunderbare in den neuesten Apparaten verkörpert sowie in dem wissenschaftlichen Denken, das ihnen zugrunde liegt. Apparate beherrschen nicht nur jene, die sie als Konsumenten passiv nutzen, sondern bestimmen auch das Leben einer wachsenden Zahl von Menschen, die als Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler aktiv für ihre Hervorbringung verantwortlich sind.
Die Selbstbetörung durch das technisch Wunderbare ist an ihrer Maßlosigkeit zu erkennen. Das bloße Mittel zum Zweck wird schließlich zum eigentlichen Zweck verdreht: zum Selbst- und zum Lebenszweck. Seit Erfindung von Hacke und Pflug sind Apparate sinnvoll, wenn sie das Leben erleichtern und dabei helfen, uns größere Freiheit für eine schönere, eine geistige Welt zu erschaffen. Behält man dieses letzte Ziel im Auge, bekommt Technik einen für den Menschen heilsamen Sinn. In dem Augenblick aber, wo die Berauschung durch den technologischen Fortschritt diesen in einen Erlösungswahn und eine Obsession verkehrt, werden Technik und Wissenschaft zu einer Bedrohung: Sie wenden sich gegen den Menschen. Dieses Stadium haben wir inzwischen erreicht.
Die Antithese zum techno-wissenschaftlichen Weltbild
Der Schatten zum vorherrschenden wissenschaftlichen Weltverständnis wird in erster Linie durch Religion, Schönheit, Geschichte und kritische Philosophie repräsentiert.
Dass Religion der Schatten des wissenschaftlichen Weltbildes ist – ihre radikale Antithese –, ist eine gut bekannte Tatsache der Geschichte. Das Weltbild der Wissenschaften ist eine Schöpfung der Aufklärung, und diese hatte das neue rationale Denken und Wissen von vornherein in einen schroffen Gegensatz nicht nur zum irrationalen Aberglauben, sondern zu allem Glauben gesetzt, weil dieser durch Experiment und Beweis nicht zu erhärten ist. Mit anderen Worten: das neue Weltbild entwickelte sich im Kampf mit der Religion.
Eine radikale Antithese zum techno-wissenschaftlichen Weltbild bildet, wie zuvor bereits angedeutet, auch die Kunst, die nicht nur auf völlig anderen Voraussetzungen beruht, sondern auch ganz andere Ziele verfolgt. Denn anders als das Gesetzeswissen von Technik und Wissenschaft entspringt Kunst menschlicher Freiheit und Wahl. So ist es nicht verwunderlich, dass sie im wissenschaftlichen Weltbild keine Heimat hat. Weil Schönheit immer weniger zählt, werden Landschaften in Agrarwüsten, Wälder in Nutzhölzer verwandelt, überall weicht Schönheit dem Nutzen und dem Profit. Und dieselbe Missachtung des menschlichen Bedürfnisses nach Schönheit gilt ebenso für unsere Wohnstätten und Städte. Im besten Fall erfüllen diese die Forderung nach Nützlichkeit, weil sie Stätten der Produktion und Aufbewahrungsorte für Menschen sind.
Bloßer Nutzen und bloße Schönheit sind unversöhnliche Rivalen: Je mehr Wissenschaft und Technik während der letzten drei Jahrhunderte im Vormarsch waren, umso stärker haben sie die Kunst an den Rand unseres Lebens und aus unseren Landschaften und Städten gedrängt. Schönheit ist in Theorie und Praxis eine radikale Antithese zu bloßer Nützlichkeit.
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen
Der kritischen Philosophie liegt es fern, die Leistungen der Wissenschaft und die ihr zugrundeliegenden Voraussetzungen des Denkens zu schmälern oder gar zu verkennen. Die europäische Aufklärung ist eine der größten geistigen Umbrüche in der Geschichte des Menschen. Richtig und sinnvoll eingesetzt, könnte die Wissenschaft ein Paradies auf Erden verwirklichen.
Allerdings fügt eine kritische Philosophie dieser Feststellung sogleich einen relativierenden Nachsatz hinzu. Auch die Religion hätte, richtig verstanden und sinnvoll eingesetzt, das Paradies auf Erden hervorbringen können. Hätte Christen die Feindesliebe des Neuen Testaments wörtlich verstanden, dann würde es keine Kriege mehr geben. Und das wäre sicher eine größere Annäherung an das Paradies gewesen als alle Erfindungen von Wissenschaft und Technik zusammen…
Wenn es stimmt, dass wir unsere Theorien an ihren Früchten erkennen und messen sollen, dann müsste unsere erste Frage doch lauten: was bieten uns Religion, Schönheit, Geschichte und kritische Philosophie – und was bieten uns Wissenschaft und Technik? Ist das nicht die alles entscheidende Frage?
Gero Jenner: Studium der Philosophie, Indologie und Sinologie, ist ein deutsch-österreichischer Autor und Publizist, dessen Veröffentlichungen sich auf Wissenschaft (Philosophie, Wirtschaft, Sprachwissenschaft) und Literatur erstrecken.
Technik | Wissenschaft & Forschung, 17.10.2021
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