Die Transformation des Einzelhandels
Der Supermarkt ohne Kunden
In München nehmen die Bürger ihr Essen nun selbst in die Hand. Nach dem Motto „Essen von unten" wurde in der bayrischen Landeshauptstadt der erste solidarische Mitmach-Supermarkt Deutschlands gegründet – nach erfolgreichem Vorbild aus dem Ausland.
Es ist kein gewöhnlicher Supermarkt, der im Juli in München Obergiesing eröffnet hat. Auf den gut 300 m2 Verkaufsfläche findet man alles, was man zum Leben braucht, von der Babywindel bis zur Zitrone – doch es ist ein Supermarkt ohne Kunden. Nur Mitglieder der FoodHub-Genossenschaft dürfen dort einkaufen. Und Mitglied wird, wer Genossenschaftsanteile in Höhe von mindestens 180 Euro erwirbt. Für Geringverdiener gibt es Rabatte.
Einfach, regional und nachhaltig
Der neue Markt soll es einfacher machen, nachhaltig zu konsumieren. Denn die Genossenschaft strebt danach, alles was möglich ist, regional und direkt von den Bauern, Handwerkern oder Herstellern zu bekommen. Der Rest wird durch einen Biogroßhändler ergänzt. Der Clou: Anders als in den gängigen Supermärkten gibt es auf alle Lebensmittel einen einheitlichen Aufschlag von 30 Prozent. So ist für jeden ersichtlich, was der Bauer oder Hersteller für sein Produkt bekommt. Die direkte Beziehung zu Bauern und Herstellern sowie der einheitliche Aufschlag rechnen sich am Ende auch für die Mitglieder, die in dem Supermarkt einkaufen. Mit Sonderangeboten vergleichbarer Bio-Märkte kann die Genossenschaft so zwar nicht mithalten, aber je nach Art des Einkaufs komme man bis zu 20 Prozent billiger weg als in herkömmlichen Supermärkten, schätzt Quentin Orain, Mitinitiator des Projekts.
New York, Paris und jetzt auch München
„Es hat mir ein Ort gefehlt, wo es alles gibt, von der Region, bio, verpackungsarm und mit vollem Sortiment. Genau die Sachen, die man eben im Alltag braucht", sagt der Franzose Orain. Dabei hat er Vorbilder. Denn ähnliche Märkte existieren bereits in New York und Paris. In New York funktioniert die „Park Slope Food Coop" seit fast 50 Jahren – mit 17.000 Mitgliedern. Orain hat selbst eine Zeitlang in der Pariser Kooperative „La Louve", die 8.000 Mitglieder hat, mitgearbeitet. So verstand er, was es braucht, um erfolgreich zu sein. Das Wichtigste, so sein Fazit, sei die enge Bindung der Projektteilnehmer an den Markt.
Keine Produkte ohne Mitarbeit
Die enge Bindung entsteht bei FoodHub automatisch mit der Pflicht der Mitglieder. Denn jedes Mitglied, das im Markt einkaufen will, muss drei Stunden Mitarbeit im Monat leisten. Das umfasst alles, vom Einräumen der Ware bis zu Verwaltungsaufgaben. Zusätzlich gibt es fest angestellte Kräfte. „Das Schöne ist einfach, dass wir wissen, wo die Sachen herkommen; man hat einen ganz anderen Bezug dazu", sagt Projektteilnehmerin Britta Bertsch begeistert.
Förderung freier Bauern
Auch Karl Schweisfurth, der Geschäftsführer der Herrmannsdorfer Landwerkstätten, zählt zu den Gründern des Projekts. Er sagt: „Landwirte stehen heute wenigen großen Lebensmittelhandelskonzernen gegenüber, die das Geschehen auf dem Lebensmittelmarkt bestimmen. Sie bestimmen, was sie zu welchem Preis kaufen, während der Bauer nur der Ablieferer ist und den Preis akzeptieren muss. Damit geben diese Konzerne letztendlich auch vor, wie unsere Landwirtschaft aussieht." Die Lösung: Unabhängige Bauern, die ihre eigenen Produkte frei vermarkten können. Mit der Gründung des FoodHubs wird diese Idee ein Stück weit verwirklicht: „Mit FoodHub können wir 40 Bauern einen Teil der bäuerlichen Existenz ermöglichen. Dass 40 Betriebe gut wirtschaften können und gut davon leben können, das ist doch schon mal was!", so Schweisfurth.
Hagelschäden als Erfolg
„Wow, hier bekomme ich ja ganz andere Sachen als im normalen Bio-Markt", staunt ein Anfang 20-jähriger, als er den Supermarkt betritt. Die Mitgliederzahl konnte seit der Eröffnung bis Mitte Oktober auf 1.100 erhöht werden und das Interesse ist weiterhin groß. Umsatz und Ergebnis lägen voll im Plan, teilt die Genossenschaft mit. Das Sortiment liegt bei 4.800 Artikeln. Besonders gut kommen bisher das frische Obst und Gemüse, vegane Produkte sowie selbst abgepackter Käse und Butter an. Auch die Nachfrage nach unverpackten Lebensmitteln ist groß, sodass die Genossenschaft das bisherige Angebot in naher Zukunft verdoppeln will.
Ein Renner im Juli und August waren im Laden die Zucchini des Partnerbetriebs Biogut Wallenburg. Diese hatten sichtbare Hagelschäden und kein anderer Supermarkt hätte sie deshalb abgenommen. Statt sie jedoch, wie sonst in solchen Fällen üblich, unterzupflügen, hat der Erzeuger einen fairen Preis gemacht und Foodhub seinen Mitgliedern einfach erklärt, woher die kleinen braunen Stellen an den Zucchini stammen. So wurde selbst die „besondere" Ernte ein voller Erfolg.
Das Konzept macht Schule
Die Idee des Mitmach-Supermarktes verbreitet sich in Deutschland langsam, aber sicher. Vorläufer sind die Einkaufsgenossenschaften für Obst und Gemüse, von denen es auch in München schon mehrere gibt. Zwar ist das FoodHub-Projekt mit seinem Vollsortiment-Supermarkt das erste dieser Art in der Bundesrepublik, doch auch in Berlin („Supercoop") und Köln („Köllektiv") wollen demnächst ähnliche Projekte starten. Karl Schweisfurth sagt: „Es tut sich in vielen Städten was. Wir sind deutschlandweit vernetzt und hören, wie unsere Eröffnung auch Motivation für andere ist, schnell nachzuziehen, weil sie gesehen haben, dass das geht."
Von Alrun Vogt
Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 01.12.2021
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig 04/2021 stellt sich grundlegenden Fragen zur Veränderung - Systemwandel - wie wird die große Transformation zur Realität? erschienen.
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