Der globale Countdown*
Lernen wir aus den Fehlern der ersten Globalisierungswelle?
Die Welt rückt zusammen. Gleichzeitig spaltet sie sich immer weiter auf. Das Paradox der Globalisierung ist nichts Neues, doch ihre Entwicklung beschleunigt sich rasant. Verunsicherung und Zukunftsangst machen sich breit und schüren die Suche nach Sündenböcken und den Hang zum Extremismus. Dabei sind die Voraussetzungen gegeben, keinen Globalisierungspoker zu veranstalten und das Gewinnmaximum herauszupressen, sondern die Welt an den Errungenschaften der Menschheit endlich teilhaben zu lassen.
Fast 100 Jahre ist es her, da erschien in England eine außergewöhnliche Streitschrift. Der Publizist Norman Angell wandte sich frontal gegen den militaristischen Zeitgeist seiner Epoche. Europas Großmächte waren in einen teuren Rüstungswettlauf verstrickt und heizten mit der Propaganda vom Kampf der Nationen um Ressourcen die Stimmung an. Doch Angell hielt dagegen. Die Vorstellung, in der modernen Welt ließe sich mittels kriegerischer Gewalt der Status eines Landes sichern oder gar mehren, sei "eine große Illusion". Anders als die Pazifisten seiner Zeit argumentierte der Selfmade-Gelehrte nicht moralisch, sondern ökonomisch. "In der wirtschaftlich zivilisierten Welt beruht der Wohlstand auf sicherem Kredit und kommerziellen Verträgen", schrieb er, "- eine Folge der internationalen Arbeitsteilung und der großartig entwickelten Kommunikation". Diese Grundlage werde aber zusammenbrechen und dem Eroberer selbst schaden, wenn er mit der Beschlagnahme aller Werte drohe. Ökonomisch ergebe Krieg keinen Sinn mehr, analysierte Angell, der 1933 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde. Der "Angellismus" fand viele Anhänger, vornehmlich unter Geschäftsleuten. Vom Vorstand der BASF über Hugo Stinnes, den Gründer von RWE, bis zum Chef der weltweit tätigen Bank Warburg reichte die Riege der damaligen Global Player, die versuchten, der Regierung von Kaiser Wilhelm ihre Kriegspläne auszureden. Doch ihre Warnungen verhallten wie jene des Denkers Angell ungehört. Die Stimmung und den Zeitgeist prägten vielmehr die Junker und Großgrundbesitzer, Bauern und Landarbeiter. Sie waren die Verlierer jenes dynamischen Prozesses der Globalisierung, der schon damals das Leben der Menschen mit aller Macht veränderte.
Globalisierung zur Gründerzeit
Die Revolution im Transportwesen schwemmte Millionen Tonnen billiges Getreide aus den USA und Russland auf die europäischen Märkte, die Einkünfte der Agrarier brachen ein, ihre Güter verloren drastisch an Wert. Im Bruch mit der wirtschaftsliberalen Tradition der Gründerzeit verschanzte die Regierung von Kaiser Wilhelm darum ihre "Grüne Front" hinter hohen Zollmauern; die meisten anderen europäischen Länder folgten dem deutschen Beispiel. Der protektionistische Rückfall vermochte jedoch das nahende Ende der ländlichen Gesellschaft nicht aufzuhalten und der radikale Wandel verbreitete Angst und Unsicherheit. Dieser Widerstand gegen die Globalisierung jener Zeit war es, der den Boden für das nationalistische Streben nach Autarkie bereitete, das den Kriegstreibern in die Hände arbeitete. Vier Jahre nach Angells Aufschrei gegen die "große Illusion" stürzten Europas Großmächte schließlich die halbe Menschheit in einen Abgrund der Gewalt. Und es kam, wie von Angell vorhergesagt: Nach dem Ersten Weltkrieg waren alle ärmer - die Sieger wie die Besiegten. Mehr noch: Der Krieg läutete zudem eine radikale Abkehr von der weltwirtschaftlichen Integration ein. Das vordem stabile, beinahe global gültige Währungs- und Handelssystem, basierend auf dem britischen Goldstandard, verschwand für immer. Eine vergleichbare internationale Wirtschafts- und Währungsordnung entstand erst wieder nach 1945 und das auch nur auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs. Erst 1973, 60 Jahre später, erreichte der Welthandel erneut das Niveau von 1913. Noch ein Jahrzehnt länger dauerte es, bis schließlich alle Industriestaaten auch auf die Kontrollen beim Handel mit Kapital und Währungen verzichteten - ein Abenteuer, das viele Regierungen schon wieder bereuen.
Wer gewinnt die nächste Runde?
Heute, ein Jahrhundert nach dem Scheitern der ersten Globalisierung, steht die Menschheit vor einer verblüffend ähnlichen Konstellation. So wie sich damals die Agrargesellschaft in Europa auflöste, geschieht es heute in vielen Entwicklungsländern und zugleich verschwinden in den reichen Ländern die Milieus der lebenslang beschäftigten Arbeiter und Angestellten. Ob in Japan oder USA, in China oder Deutschland: in allen von der globalen Verschmelzung erfassten Gesellschaften vertieft sich die Spaltung in Gewinner und Verlierer. Und wieder suchen viele die Schuld beim Ausland und bei bösen Kräften. Neue Feindbilder, vom aggressiven chinesischen Staatskapitalisten bis zum verschwörerischen Moslem, haben Konjunktur. Die globale Integration trifft weltweit auf umso stärkere Abwehr, je intensiver sie voranschreitet. Islamisten gewinnen im Mittleren Osten und in Südasien an Boden, der christliche Fundamentalismus in Amerika, Neonazis und Rechtspopulisten in Europa. Parallel dazu reagieren immer mehr Regierungen auf die neue anti-globalistische Stimmung mit geostrategischen Plänen zur militärischen Sicherung einer eigenen Ressourcenbasis.
Kann es also wieder passieren? Scheitert die Globalisierung erneut?
Eigentlich spricht alles dagegen. Denn nie zuvor waren die Völker und Nationen der Menschheit einander so nah. Schon mehr als ein Viertel aller weltweit produzierten Waren und Dienstleistungen werden international gehandelt, der Austausch ist doppelt so intensiv wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das gigantische Handelsvolumen organisieren rund 77.000 transnationale Unternehmen mit mehr als einer Dreiviertelmillion ausländischer Tochtergesellschaften. Ihre Produktions- und Verwertungsketten erstrecken sich über alle Kontinente. Wer immer irgendwo auf der Welt einen Supermarkt oder ein Kaufhaus betritt, um ein Produkt zu erwerben, tritt damit in Verbindung mit Tausenden von Menschen rund um die Erde. Noch enger binden die Kapitalmärkte die Menschheit aneinander. Angells Argument von der Abhängigkeit durch Verflechtung wiegt heute um ein Vielfaches schwerer: Im Jahr 2005 wurden bereits Aktien, Anleihen und Kredite im Wert von sechs Billionen Dollar grenzüberschreitend gehandelt. Das entsprach mehr als dem doppelten Wert aller in Deutschland jährlich produzierten Waren und bereitgestellten Dienstleistungen. Gleichzeitig ist die Menschheit so reich wie nie zuvor. Im Durchschnitt erzielt jeder Erdenbürger ein Einkommen von rund 10.000 Dollar im Jahr, genug, dass niemand mehr verhungern, verdursten oder mangels medizinischer Grundversorgung sterben müsste. Oder, wie es Jean Ziegler, der kämpferische Schweizer Soziologe und UN-Beauftragte für das Recht auf Nahrung, ausdrückte: "Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist der objektive Mangel besiegt und die Utopie des gemeinsamen Glückes wäre materiell möglich."
Weltfrieden zwischen Theorie und Praxis
So hat die Globalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue, faszinierende Dimension erreicht, die noch vor einer Generation undenkbar erschien. Alle politischen und wissenschaftlichen Beschreibungen des neuen Weltsystems gipfeln stets in einem Wort: Interdependenz. Die gegenseitige Abhängigkeit aller Staaten und Ökonomien wächst fortwährend an. All das eröffnet die Chance, die Geißeln der Menschheit - Hunger, Vertreibung und Krieg - auf Dauer zu besiegen. Die Pax globalis wäre möglich. Doch so großartig diese Perspektive erscheint, so gewaltig sind die Gefahren, die dem entgegenstehen. Das neue Weltsystem ist extrem instabil: Die Vereinigten Staaten sind in einer Schuldenspirale gefangen, deren Dimension ohne Beispiel ist. Die US-Ökonomie benötigt täglich zwei Milliarden Dollar Auslandskapital vornehmlich aus China und den Ölexportländern, um den Konsum ihrer Bürger und die Ausgaben ihrer Regierung zu finanzieren. Dieses Ungleichgewicht ist ein Sprengsatz am Fundament der Weltwirtschaft, weil die Kapitalströme abhängig sind von einem anarchischen und störanfälligen Finanzsystem, dessen Akteure sich der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen haben.
Zudem schürt eine bizarre Ungleichverteilung von Einkommen und Kapital die Wut der Globalisierungsverlierer. Die Schere zwischen Kapitalgewinnen und Lohneinkommen öffnet sich seit gut 20 Jahren. Mittlerweile verfügt nur ein Prozent der Menschheit über 40 Prozent des gesamten Anlagevermögens, während immer größere Teile der Bevölkerung mit schrumpfenden Löhnen und wachsender Unsicherheit leben müssen. Gleichzeitig sprengt die globale Ausdehnung der Verbraucherklasse die ökologische Tragfähigkeit des Planeten. Ein Viertel der Menschheit beansprucht drei Viertel der verfügbaren Ressourcen für sich und zwingt damit den übrigen viereinhalb Milliarden Menschen eine Form von globaler Apartheid auf. Die alte Verheißung der Entwicklungspolitik "wie im Westen, so auf Erden" kann sich niemals erfüllen, aber sie heizt den Wettkampf um den Zugang zu Öl, Süßwasser und fruchtbaren Böden ständig an. Unvermeidlich müssen die Wohlstandsländer einen neuen, nachhaltigen Lebensstil entwickeln, wenn sie ihren Frieden erhalten wollen. Dazu zwingt sie schließlich auch der bereits in Gang gesetzte Klimawandel. Er ist die Summe aller Fehler einer veralteten Wirtschaftsweise, die auf dem Verbrauch fossiler Rohstoffe basiert. Das bedroht bis zur Mitte des Jahrhunderts eine halbe Milliarde Menschen mit Hunger, Durst und Vertreibung.
Globale Kooperation oder globalisierte Katastrophen
Die heraufziehenden Krisen kann kein Land allein bewältigen. Wer immer nationale oder militärische Auswege propagiert, verfolgt irrationale Scheinlösungen. Selbst wenn die Verantwortlichen bereit wären, viele hundert Millionen Opfer in Kauf zu nehmen, sie könnten ihre Nationen nicht vor den Konsequenzen schützen. Die Alternative lautet: globale Kooperation oder globalisierte Katastrophen. Vielen politischen und wirtschaftlichen Führern in aller Welt ist das auch längst klar. Von der Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommen wird die vordem nur von Theoretikern diskutierte "global governance" zum ebenso faszinierenden wie beschwerlichen Tagesgeschäft in Regierungskabinetten und Vorstandsetagen. Die Anzeichen dafür durchziehen längst den politischen Alltag. Die Zahl der multilateralen Abkommen mit häufig mehr als hundert teilnehmenden Staaten wächst stetig an. Allein bei den Vereinten Nationen sind bereits mehr als 2.000 solcher Verträge hinterlegt. Vom Seuchenschutz bis zur Luftfahrt, von der Regulierung des Internets bis zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus erfasst das Regieren auf Weltebene immer weitere Politikfelder. Anders als die Debatte über die Krise der Vereinten Nationen suggeriert, nimmt auch die praktische Bedeutung der Weltorganisation stetig zu. Noch nie gab es so viele UN-Truppen im Friedenseinsatz wie heute.
Aber zugleich erweisen sich die bestehenden Organisationen und Strukturen als hoffnungslos veraltet und ineffektiv. Gleich ob beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und ihren vielen Unterorganisationen oder bei der Welthandelsorganisation, ob beim Internationalen Währungsfonds oder der Weltkoordination der G8-Staaten, überall gilt die gleiche Diagnose: Die Machtverteilung in den Leitungsgremien ist einseitig auf die Wohlstandsstaaten und die Großmächte von gestern zugeschnitten. Nicht nur, dass die Armutsstaaten und -zonen nicht ausreichend Gehör finden. Auch die neuen Wirtschaftsmächte von Brasilien über Indien und Südafrika bis China, können in den jeweiligen Gremien nicht den Einfluss auf die globalen Geschicke nehmen, der ihrem wirtschaftlichen und politischen Gewicht entspräche. Den Widerspruch brachte der britische Politiker und langjährige UN-Beamte Mark Malloch Brown im Januar 2008 auf den Punkt: "Nie in der Menschheitsgeschichte war die Welt so stark miteinander vernetzt - und nie wurde sie so wenig regiert."
Globalisierung von unten
Die gute Nachricht ist: Auch die Zivilgesellschaft globalisiert sich in atemberaubendem Tempo und bereitet der nötigen transnationalen Zusammenarbeit den Boden. Von Human Rights Watch bis Fair Trade, von Attac bis zum Global Marshall Plan, von der Internet-Mikrokreditbank bis zum Superstar Bono: Nie zuvor waren so viele unterschiedliche Menschen so engagiert auf der Suche nach mehr Gerechtigkeit und ökologischer Stabilität. Diese neuen sozialen Bewegungen können Regierungen gewiss nicht ersetzen, aber sie schaffen die Basis, auf der mutige Politiker die nötigen radikalen Reformen in Gang setzen können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Staaten und Regierungen noch die einzig mächtigen Instanzen und standen einer friedlichen Ausdehnung der Marktwirtschaft entgegen. Die Globalisierung scheiterte an den "vorkapitalistischen Elementen", die auf Eroberung und Nationalismus setzten, wie der Ökonom Joseph Schumpeter einst schrieb. Heute scheint es umgekehrt: Staaten und Regierungen sind noch zu schwach, um den rasenden Triumph von Markt und Kapital so zu regulieren, dass der enorme Reichtum, der aus der globalen Arbeitsteilung erwächst, nicht nur einer kleinen Minderheit zu Gute kommt, sondern der ganzen Menschheit. Aber so darf es nicht bleiben. Entweder es finden sich Lösungen, mit denen die Wohlstandsgewinne der globalen Marktwirtschaft und die Lasten zur Entschärfung der globalen Krisen gerecht verteilt werden. Oder aber die Globalisierung zerstört sich selbst. Der Countdown läuft.
Harald Schumann war nach seinem Studium der Sozialwissenschaften und der Landschaftsplanung Redakteur unter anderem bei der Berliner Tageszeitung und beim SPIEGEL. Seit 2004 ist er Redakteur für besondere Aufgaben beim Berliner Tagesspiegel. 1996 veröffentlichte er gemeinsam mit Hans-Peter Martin den Bestseller "Die Globalisierungsfalle". Sein gemeinsam mit Christiane Grefe von der "Zeit" verfasstes neuestes Buch "Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung - die Zukunft der Globalisierung" erschien dieses Jahr im Kiepenheuer & Witsch Verlag. |
*) In Anlehnung an "Der globale Countdown, Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung
- Die Zukunft der Globalisierung", 2008
Quelle:
Gesellschaft | Globalisierung, 23.07.2008
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