Katar steht für die Welt
Der aktuelle Kommentar von Alrun Vogt
Die WM in einem autokratischen Land, das Menschenrechte mit Füßen tritt und Gastarbeiter im großen Stil ausbeutet – vielen ist es ein Bedürfnis, der eigenen Ablehnung darüber ein Zeichen zu setzen und die WM durch Nichtzusehen zu boykottieren. Eine ehrenwerte Haltung. Doch was wäre, wenn wir dabei wirklich konsequent wären?
Kaum ein Bericht über die Fußball-WM lässt die Missstände in Katar richtigerweise unerwähnt. Hunderte Kneipen verzichten darauf, die WM-Spiele zu zeigen. Fälle wie die der 60 Gastarbeiter, die vom Emirat polizeilich in ihre Heimatländer abgeschoben wurden, gehen um die Welt. Ihr Vergehen? Sie hatten dagegen protestiert, dass ihnen sieben Monatslöhne nicht gezahlt worden sind.
Verrechtlichte Rechtlosigkeit
In der Tat ist die Rechtlosigkeit in dem nach Pro-Kopf-Einkommen reichsten Land der Welt frappierend. Gastarbeiter, die von ihren Arbeitgebern wie Eigentum behandelt werden, Tote auf Baustellen; weibliche Hausangestellte, von denen 85 Prozent selten oder nie frei bekommen – Ausbeutung und Missbrauch sind an der Tagesordnung. Katar, das selbst nur 270 000 Staatsangehörige umfasst, jedoch ein Heer von 2,4 Millionen billigen Arbeitskräften beschäftigt, könnte man als Beispiel eines modernen Sklaventums betrachten.
Die ausgelagerte Ausbeutung
Aber was ist eigentlich mit den Menschen, die in den Sweatshops Asiens unter menschenunwürdigen Bedingungen unsere Kleidung produzieren? In der Mehrheit geht es ihnen noch schlechter als den Gastarbeitern in Katar – weshalb es sie genau dort hinzieht. Denken wir an die Serien von Selbstmorden, begangen durch asiatische Fabrikarbeiter wegen chronischer Überlastung und einer Entlohnung, die ihre Lebenshaltungskosten nicht deckte. Genau diese Ausbeutung jedoch macht es möglich, dass wir unser T-Shirt für zwei Euro bei KiK kaufen. Spätestens seit dem Jahr 2000, als Naomi Klein mit ihrem Buch „No Logo" im Licht der Öffentlichkeit stand, wissen wir, unter welchen miserablen Bedingungen in der Regel sowohl die Nike-Turnschuhe als auch die Billig-T-Shirts hergestellt werden.
Wer müsste noch boykottiert werden?
All das bedeutet: Wer konsequent gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit eintreten will, müsste auch die meisten Bekleidungsketten boykottieren. Oder Konzerne wie Amazon. Denn was unterstützen wir, wenn wir für unsere Weihnachtseinkäufe nicht mehr in die Läden gehen? Wenn wir unser Geld im Rausch von Billigangeboten und Bequemlichkeit den Online-Giganten freiwillig in den Rachen werfen und sie damit nur noch größer und mächtiger machen?
Keine Frage, den unterbezahlten Amazon-Mitarbeitern hierzulande geht es immer noch besser als einem Gastarbeiter in Katar. Aber wie sieht es mit dem gesamtgesellschaftlichen Schaden aus? Amazon etwa verdreifachte während der Corona-Krise seine Gewinne – Gewinne, welche anderen Händlern entzogen wurden – und hat mittlerweile fast eine Monopol-Stellung. Die Folge: Die Zerstörung der kleinen und mittleren Unternehmen, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung.
All dies zu berücksichtigen, ist uns vielleicht zu viel und wir zielen unseren Aktionismus lieber allein auf Katar ab. Weil die jetzige mediale Aufmerksamkeit mehr Wirkung verspricht. Aber dann… ja dann dürften wir zum Beispiel keinen Volkswagen mehr kaufen. Schließlich befindet sich VW zu rund zehn Prozent in Besitz des Emirats und wer Golf fährt, unterstützt genau dieses. Und wir dürften kein Gas mehr aus Katar kaufen (gerade in diesem Punkt wird die Doppelmoral des Westens besonders deutlich).
Was kann die FIFA tun?
Vielleicht ist es gerade die Ohnmacht, die wir angesichts all dessen fühlen, die uns hoffen lässt, ein mediales Ereignis wie die WM könne eine Wirkung erzielen. So kommuniziert es auch die FIFA. Sie feiert sich dafür, dass es minimale Fortschritte in Katar gibt, seit sie die WM an das kleine Land verkauft hat. Und rühmt Gesetzesänderungen, die eigentlich Selbstverständlichkeiten sind (und die noch dazu, wie sich zeigte, oft nicht eingehalten werden). Als ob die Vergabe von Sportveranstaltungen an Länder mit Menschenrechtsverletzungen ein gutes Mittel wäre, die missliche Lage für Gastarbeiter, Homosexuelle und Frauen zu beheben. Die Geschichte zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Weder China noch Russland haben sich durch die WM und Olympia in Sachen Menschenrechte gebessert.
Auch wenn zu hoffen wäre, dass es diesmal anders ist – es muss umgekehrt sein: Die Vergabe von Großveranstaltungen wie der WM muss an Bedingungen geknüpft werden. Die großen Weltverbände hätten hier die Macht, so viel Gutes zu tun, indem sie schlichtweg die Einhaltung der Menschenrechte zur Vorgabe machen.
Was können wir tun?
Trotz all dessen ist es mehr als geboten, die WM zu nutzen, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Wenn der Fingerzeig auch einseitig und voller Doppelmoral ist, so ist er doch besser als wegzusehen. Und er kann dazu führen, unseren Blick für die Menschenrechte zu schärfen und diesen auf andere Länder und auf uns selbst auszuweiten.
Die FIFA selbst ist ein autokratisches System, in dem Mitbestimmung nicht vorgesehen ist. Die Idee ist deshalb: Fernsehsender zahlen Milliarden an die FIFA, weil so viele die WM schauen; wenn jetzt weniger Leute schauen, dann geben die Sender in Zukunft weniger Geld an die FIFA. Das Problem: Die wenigsten Menschen in Deutschland haben eine Quoten-Box zu Hause, die überhaupt registrieren würde, wenn sie nicht schauen. Online jedoch zählt jeder Klick. Hinzu kommen all die Gespräche über das Thema, all die mediale Aufmerksamkeit. Diese erzeugen ein kritisches Bewusstsein und ein gesellschaftliches Klima, sodass Sponsoren in einem solchen Umfeld nicht werben wollen. Und wenn Sponsoren fernbleiben, dann verlegt die FIFA künftige Turniere möglicherweise nicht mehr in autokratische Länder.
Selbst das ändert jedoch nichts an den schrecklichen Lebensumständen etwa in Nepal oder Bangladesch, welche die dortigen Menschen nach Katar treiben. Wenn wir dagegen etwas tun wollen, dann müssen wir an Hilfsorganisationen spenden, die in diesen Ländern tätig sind oder Projekte unterstützen, die gerechtere Wirtschaftsformen forcieren. Oder uns dafür einsetzen, dass das Lieferkettengesetz verschärft wird, sodass ausbeuterisch produzierte Waren hierzulande nicht mehr eingeführt werden dürfen.
Kaum ein Bericht über die Fußball-WM lässt die Missstände in Katar richtigerweise unerwähnt. Hunderte Kneipen verzichten darauf, die WM-Spiele zu zeigen. Fälle wie die der 60 Gastarbeiter, die vom Emirat polizeilich in ihre Heimatländer abgeschoben wurden, gehen um die Welt. Ihr Vergehen? Sie hatten dagegen protestiert, dass ihnen sieben Monatslöhne nicht gezahlt worden sind.
Verrechtlichte Rechtlosigkeit
In der Tat ist die Rechtlosigkeit in dem nach Pro-Kopf-Einkommen reichsten Land der Welt frappierend. Gastarbeiter, die von ihren Arbeitgebern wie Eigentum behandelt werden, Tote auf Baustellen; weibliche Hausangestellte, von denen 85 Prozent selten oder nie frei bekommen – Ausbeutung und Missbrauch sind an der Tagesordnung. Katar, das selbst nur 270 000 Staatsangehörige umfasst, jedoch ein Heer von 2,4 Millionen billigen Arbeitskräften beschäftigt, könnte man als Beispiel eines modernen Sklaventums betrachten.
Die ausgelagerte Ausbeutung
Aber was ist eigentlich mit den Menschen, die in den Sweatshops Asiens unter menschenunwürdigen Bedingungen unsere Kleidung produzieren? In der Mehrheit geht es ihnen noch schlechter als den Gastarbeitern in Katar – weshalb es sie genau dort hinzieht. Denken wir an die Serien von Selbstmorden, begangen durch asiatische Fabrikarbeiter wegen chronischer Überlastung und einer Entlohnung, die ihre Lebenshaltungskosten nicht deckte. Genau diese Ausbeutung jedoch macht es möglich, dass wir unser T-Shirt für zwei Euro bei KiK kaufen. Spätestens seit dem Jahr 2000, als Naomi Klein mit ihrem Buch „No Logo" im Licht der Öffentlichkeit stand, wissen wir, unter welchen miserablen Bedingungen in der Regel sowohl die Nike-Turnschuhe als auch die Billig-T-Shirts hergestellt werden.
Während in Katar Reichtum und Ausbeutung direkt nebeneinander existieren und die Ungerechtigkeiten offensichtlicher sind, hat unsere "aufgeklärte", moderne Gesellschaft ihre Arbeitssklaven sozusagen ausgelagert. Und was man nicht sieht, ist leicht zu ignorieren. Wir haben zum Glück so viel Moral, Menschenrechtsverletzungen nicht direkt zu billigen. Aber wir sind verlogen genug, Handel mit jenen Staaten zu betreiben, in denen sie stattfinden, und daraus Profit zu schlagen. In Katar findet das, was weltweit stattfindet, nur in überspitzter Form und auf engem Raum statt; das Land ist somit ein verdichtetes Bild eines weltweiten Zustandes. Es ist Symptom eines fortgeschrittenen kapitalistischen Systems, das
Ungleichheit in einem solchen Ausmaß hervorbringt, dass sich die Armen "freiwillig" in ein sklavenartiges Arbeitsverhältnis
begeben müssen.
Wer müsste noch boykottiert werden?
All das bedeutet: Wer konsequent gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit eintreten will, müsste auch die meisten Bekleidungsketten boykottieren. Oder Konzerne wie Amazon. Denn was unterstützen wir, wenn wir für unsere Weihnachtseinkäufe nicht mehr in die Läden gehen? Wenn wir unser Geld im Rausch von Billigangeboten und Bequemlichkeit den Online-Giganten freiwillig in den Rachen werfen und sie damit nur noch größer und mächtiger machen?
Keine Frage, den unterbezahlten Amazon-Mitarbeitern hierzulande geht es immer noch besser als einem Gastarbeiter in Katar. Aber wie sieht es mit dem gesamtgesellschaftlichen Schaden aus? Amazon etwa verdreifachte während der Corona-Krise seine Gewinne – Gewinne, welche anderen Händlern entzogen wurden – und hat mittlerweile fast eine Monopol-Stellung. Die Folge: Die Zerstörung der kleinen und mittleren Unternehmen, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung.
All dies zu berücksichtigen, ist uns vielleicht zu viel und wir zielen unseren Aktionismus lieber allein auf Katar ab. Weil die jetzige mediale Aufmerksamkeit mehr Wirkung verspricht. Aber dann… ja dann dürften wir zum Beispiel keinen Volkswagen mehr kaufen. Schließlich befindet sich VW zu rund zehn Prozent in Besitz des Emirats und wer Golf fährt, unterstützt genau dieses. Und wir dürften kein Gas mehr aus Katar kaufen (gerade in diesem Punkt wird die Doppelmoral des Westens besonders deutlich).
Was kann die FIFA tun?
Vielleicht ist es gerade die Ohnmacht, die wir angesichts all dessen fühlen, die uns hoffen lässt, ein mediales Ereignis wie die WM könne eine Wirkung erzielen. So kommuniziert es auch die FIFA. Sie feiert sich dafür, dass es minimale Fortschritte in Katar gibt, seit sie die WM an das kleine Land verkauft hat. Und rühmt Gesetzesänderungen, die eigentlich Selbstverständlichkeiten sind (und die noch dazu, wie sich zeigte, oft nicht eingehalten werden). Als ob die Vergabe von Sportveranstaltungen an Länder mit Menschenrechtsverletzungen ein gutes Mittel wäre, die missliche Lage für Gastarbeiter, Homosexuelle und Frauen zu beheben. Die Geschichte zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Weder China noch Russland haben sich durch die WM und Olympia in Sachen Menschenrechte gebessert.
Auch wenn zu hoffen wäre, dass es diesmal anders ist – es muss umgekehrt sein: Die Vergabe von Großveranstaltungen wie der WM muss an Bedingungen geknüpft werden. Die großen Weltverbände hätten hier die Macht, so viel Gutes zu tun, indem sie schlichtweg die Einhaltung der Menschenrechte zur Vorgabe machen.
Was können wir tun?
Trotz all dessen ist es mehr als geboten, die WM zu nutzen, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Wenn der Fingerzeig auch einseitig und voller Doppelmoral ist, so ist er doch besser als wegzusehen. Und er kann dazu führen, unseren Blick für die Menschenrechte zu schärfen und diesen auf andere Länder und auf uns selbst auszuweiten.
Die FIFA selbst ist ein autokratisches System, in dem Mitbestimmung nicht vorgesehen ist. Die Idee ist deshalb: Fernsehsender zahlen Milliarden an die FIFA, weil so viele die WM schauen; wenn jetzt weniger Leute schauen, dann geben die Sender in Zukunft weniger Geld an die FIFA. Das Problem: Die wenigsten Menschen in Deutschland haben eine Quoten-Box zu Hause, die überhaupt registrieren würde, wenn sie nicht schauen. Online jedoch zählt jeder Klick. Hinzu kommen all die Gespräche über das Thema, all die mediale Aufmerksamkeit. Diese erzeugen ein kritisches Bewusstsein und ein gesellschaftliches Klima, sodass Sponsoren in einem solchen Umfeld nicht werben wollen. Und wenn Sponsoren fernbleiben, dann verlegt die FIFA künftige Turniere möglicherweise nicht mehr in autokratische Länder.
Selbst das ändert jedoch nichts an den schrecklichen Lebensumständen etwa in Nepal oder Bangladesch, welche die dortigen Menschen nach Katar treiben. Wenn wir dagegen etwas tun wollen, dann müssen wir an Hilfsorganisationen spenden, die in diesen Ländern tätig sind oder Projekte unterstützen, die gerechtere Wirtschaftsformen forcieren. Oder uns dafür einsetzen, dass das Lieferkettengesetz verschärft wird, sodass ausbeuterisch produzierte Waren hierzulande nicht mehr eingeführt werden dürfen.
Alrun Vogt, Autorin des Buches „Wirtschaft anders denken" (oekom 2016), ist Mitglied der forum-Redaktion.
Unter "Der aktuelle Kommentar" stellen wir die Meinung engagierter Zeitgenossen vor und möchten damit unserer Rolle als forum zur gewaltfreien Begegnung unterschiedlicher Meinungen gerecht werden. Die Kommentare spiegeln deshalb nicht zwingend die Meinung der Redaktion wider,
sondern laden ein zur Diskussion, Meinungsbildung und persönlichem
Engagement. Wenn auch Sie einen Kommentar einbringen oder erwidern
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Gesellschaft | Politik, 27.11.2022
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