Die Weltgemeinschaft ist in Lebensgefahr!
In Anbetracht der aktuellen Oxfam-Studie fordert Christoph Quarch eine radikale Umverteilung
Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst rasant. Auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der britischen Non-Profit Organisation Oxfam, der anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos vorgestellt wurde. Besonders alarmierend: Jeder zehnte Mensch auf Erden hungert, während Konzerne in der Lebensmittel- und Energiebranche ihre Gewinne in 2022 mehr als verdoppelt haben. Auch deshalb nehmen erstmals seit einem Vierteljahrhundert wieder extremer Reichtum und extreme Armut gleichzeitig zu. Sogar in Deutschland: Hier flossen 81 Prozent des Vermögenszuwachses der letzten zwei Jahr an das reichste eine Prozent der Bevölkerung. Wohin soll das noch führen? Darüber sprechen wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, was denkt der Philosoph, wenn er solche Zahlen hört?
Die Worte, die mir in den Sinn kommen, lauten „Katastrophe", „Niedergang" und „unerträglich". Ich denke dabei gar nicht so sehr an die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, die sich in ihnen spiegelt. Ich denke vor allem an die Dysfunktionalität, die damit einhergeht. Wobei streng genommen beides zusammengehört: Die alten Griechen interpretierten Gerechtigkeit als das stets fragile, aber notwendige Gleichgewicht einer Gemeinschaft. Sie wussten: Wenn das Gleichgewicht eines lebendigen Systems gestört wird, dann wird es erst krank und dann zerfällt es. Die Oxfam-Zahlen zeigen: Die Weltgemeinschaft ist in Lebensgefahr. Es ist höchste Zeit, dass die Politik handelt. An Davos glaube ich allerdings nicht.
Oxfam beklagt, dass drei Viertel aller Regierungen ihre Ausgaben im Bildungs- und Gesundheitsbereich kürzen wollen und schlägt vor, diesem Trend mit Steuern auf Übergewinne und hohe Vermögen entgegenzutreten.
Das ist der richtige Ansatz. Die Politik muss mit sichtbarer Hand eingreifen. Die „unsichtbare Hand" des Neoliberalismus, die angeblich für eine gerechte Güterverteilung sorgt, wenn man dem Marktgeschehen freien Lauf lässt, ist schon lange als Lügengeschichte enttarnt. Wir müssen zurück zu einer sozialen oder besser noch ökosozialen Marktwirtschaft, bei der der Staat sich nicht scheut, um des Erhaltens des Gemeinwesens willen – um nicht mehr und nicht weniger geht es – das Vermögen radikal umzuverteilen. Vermögenssteuer, Transaktionssteuer, Übergewinnsteuer und womöglich sogar eine Sonderbesteuerung für Konzerne: Das muss her. Es wird der Wirtschaft nicht schaden, dafür aber die Demokratie stärken.
Der Ruf nach höheren Steuern wird für gewöhnlich damit beantwortet, dass dann die Reichen auswandern und der Staat gar nichts mehr von ihnen bekommt.
Ich glaube, die Politik sollte sich nicht mehr davon einschüchtern lassen. Wo wollen sie denn hin: nach China, nach Russland, nach Brasilien? Europa und Deutschland bieten Konzernen und Unternehmen etwas, das sie sonst nirgends finden, auch nicht mehr in den USA: politische Stabilität und sozialen Frieden. Noch. Denn gerade das ist durch den von Oxfam beschriebenen Trend bedroht. Wenn die Schere weiter auseinandergeht, werden auch hier ein paar Superreiche den Staat kapern – siehe USA und Brasilien. Deswegen muss schnellstens etwas geschehen.
Oxfam sagt: 99 Prozent der Deutschen müssen sich mit 19 Prozent des Vermögenszuwachses zufriedengeben. Warum machen wir das mit?
Weil wir in einer Trance der Selbstbezüglichkeit leben. Wir lassen uns von einer schlechten Psychologie einreden, es sei völlig normal und in Ordnung, wenn jeder nur an sich denkt – und dass wir irgendwann auch zu dem einen Prozent gehören werden, das absahnt – wenn wir uns nur ordentlich selbst optimieren. Durch diesen Unsinn ist in den letzten Jahren der soziale Sinn in unserem Land erodiert. Ohne sozialen Sinn aber steuern wir wirklich auf die Katastrophe zu. Wir müssen endlich lernen, dass wir nur als Gesellschaft werden bestehen können. Die Oxfam-Zahlen sind Symptom einer geistigen Krankheit. Nur ein neuer und gesunder Geist wird uns retten: der Gemeinsinn.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 19.01.2023
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