Brauchen wir in Deutschland mehr (politische) Streitkultur?
Christoph Quarch wünscht sich mehr Kooperation, Kompromissbereitschaft und Konsens für eine resiliente Demokratie
Anfang dieser Woche jährte sich zum 80. Mal der Jahrestag der Hinrichtung der Geschwister Scholl durch das Nazi-Regime. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das zum Anlass genommen, die Bürgerinnen und Bürger dazu aufzurufen, mehr Engagement für die Demokratie in Deutschland zu zeigen. Angesichts zunehmender Demokratiefeindlichkeit von Außen und von Innen sei es notwendig, für eine wehrhafte Demokratie einzutreten. Aber wie macht man das? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, der Bundespräsident hat in seiner Ansprache betont, Proteste und Demonstrationen von Minderheiten gehörten zum Wesenskern der Demokratie – auch wenn sie die Mehrheit nerven. Brauchen wir in Deutschland mehr Streitkultur?
Ich bin mir da nicht so sicher. Wenn ich mir unsere Medienlandschaft anschaue, habe ich den Eindruck, dass es an Streitlust und Kontroverse nicht fehlt. Und wenn ich an die Aktivisten der sogenannten „Letzten Generation" denke, scheint mir auch in Sachen Protest kein Mangel zu bestehen. Defizite nehme ich allerdings überall da wahr, wo es um Kooperation, Kompromiss und Konsens geht. Was nicht überraschend ist, da Widerspruch und Kontroverse sehr viel einfacher zu inszenieren sind. Man provoziert, nervt, empört – und schon hat man die Aufmerksamkeit. Die Mühen der Verständigung sind längst nicht so sexy.
Steinmeier wünscht sich Bürgerinnen und Bürger, die – Zitat – in ihrem „politischen Urteil klar und fest sind". Bedeutet das denn aber nicht, seine Stimme gegen all das zu erheben, was man politisch und moralisch ablehnt?
An diesem Punkt widerspreche ich dem Bundespräsidenten. Oder besser: Über diesen Punkt würde ich gerne mit ihm diskutieren. Denn ich habe offen gestanden ein Problem mit Menschen, die in ihrem politischen Urteil klar und fest sind. Nichts gegen Klarheit, aber Festigkeit kann sehr schnell zu Starrsinn und mangelnder Kooperations- und Konsensbereitschaft führen. Genau das aber schadet der Demokratie. Die Demokratie lebt vom Diskurs. Sie braucht die Bereitschaft, seine Meinung zu ändern, wenn die andere Seite gute Argumente hat. Sie braucht Menschen mit Urteilskraft, was etwas anderes ist als der moralische Starrsinn, den ich zunehmend bei Protestierenden oder Aktivisten ausmache.
Steinmeier hat seine Äußerungen vor dem Hintergrund des Widerstandes gegen die NS-Diktatur getätigt und betont, es gebe Situationen, in denen aus moralischen Gründen Widerstand geboten ist.
Da bin ich ganz bei ihm. Ich finde auch richtig, dass er bei dieser Gelegenheit zwischen Widerstand gegen eine Diktatur und Widerspruch in der Demokratie unterschieden hat. Das sind wirklich zwei Paar Schuhe. Es liegt in der Tat im Wesen der Demokratie, dass man der Regierung oder einer Mehrheitsmeinung widersprechen darf. Sie bietet den Raum, in dem der Widerspruch vorgetragen und besprochen werden kann. Wenn ein politisches System oder eine Regierung das kontroverse Gespräch verweigert – wie wir es aktuell im Iran vorgeführt bekommen – ist aktiver Widerstand die einzige Möglichkeit, die den Menschen bleibt. Die Frauen im Iran verdienen deshalb unsere volle Unterstützung und unseren Respekt.
Kommen wir noch einmal zurück zum Stichwort der „wehrhaften Demokratie". Was müsste denn Ihrer Ansicht nach geschehen, damit die Demokratie in unserem Land „wehrhaft" wird.
Erst mal muss ich loswerden, dass ich das Wort „wehrhaft" nicht sonderlich mag. Ich rede lieber von resilient, d.h. in der Lage, flexibel zu reagieren, um die Gesundheit zu erhalten. Ich frage mich: Was ist eine gesunde Demokratie? Eine Antwort darauf finde ich bei den Pionieren des demokratischen Denkens im alten Athen. Ihre Überzeugung war: Demokratie heißt Partizipation: möglichst viele Bürger möglichst transparent an möglichst vielen Entscheidungen beteiligen; die Menschen in die Verantwortung nehmen. Heute gibt es in mehreren europäischen Ländern dafür das Format der Bürgerräte. So etwas müsste auch in Deutschland ausgebaut werden: Orte schaffen, an denen Menschen sprechen und entscheiden können. Das ist anstrengender aber auch demokratischer als der aktuelle Empörungsaktivismus.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 07.02.2023
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