Deutschland hat ein Einsamkeitsproblem
Die Ursache sieht Christoph Quarch im modernen Mindset - und die Lösung
Ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland fühlt sich sehr einsam. Das ist das Ergebnis einer jüngst veröffentlichten repräsentativen Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten befindet sich ihr zufolge sogar in einem Zustand, der von den Machern der Erhebung als „depressive Phase" klassifiziert wird. Dabei fällt auf, dass sich die Zahlen über alle Altersklassen ähnlich verteilen. Hat Deutschland also ein Einsamkeitsproblem? Darüber reden wir mit unserem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, überraschen Sie die jüngst veröffentlichten Zahlen zur Einsamkeit in Deutschland?
Nicht wirklich. Dass Einsamkeit in unseren Gesellschaften zunehmend pandemische Züge annimmt, ist seit Jahren bekannt. Erst vor wenigen Monaten hat die Europäische Kommission eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass sich durchschnittlich 13 Prozent der Menschen in den Mitgliedsstaaten der EU einsam fühlen. Wenn man sich die Statistik anschaut, wird einem allerdings auch deutlich, dass es bei der Selbstwahrnehmung der Menschen große kulturelle Unterschiede gibt. So sind es ausgerechnet die Länder, in denen das gesellige Leben eine zentrale Rolle spielt, bei denen das Einsamkeitsempfinden der Menschen besonders groß ist – Irland und Griechenland zum Beispiel. Das heißt: Ob man sich einsam fühlt oder nicht, ist immer relativ auf den kulturellen Kontext der Einzelnen.
Wollen Sie damit sagen, dass sich so viele Menschen in Deutschland deshalb einsam fühlen, weil sie in Sachen Sozialkontakte zu viel von ihren Mitmenschen erwarten?
Mag sein. Die Studie der Deutschen Depressionshilfe zeigt, dass nicht unbedingt die Anzahl der durchschnittlichen Sozialkontakte für das Einsamkeitsgefühl ausschlaggebend ist, sondern die Qualität der Begegnung. Dabei spielt sicher eine Rolle, mit welchem Maß an sozialer Nähe oder familiärer Bindung die Menschen groß geworden sind – und ob sie diese soziale Wärme in ihrem aktuellen Leben wiederfinden. Aber allein dadurch lässt sich der Zuwachs der Einsamkeit nicht erklären; vor allem nicht in seiner flächendeckenden Verbreitung über ganz Europa. Es scheint eher eine im Trend der Zeit liegende Erosion qualitätvoller Beziehungen in unseren Gesellschaften zu geben.
Aber das ist doch merkwürdig. Nie zuvor verfügte die Menschheit über so viele Kommunikationsmöglichkeiten. Warum geht uns gerade jetzt die Verbindlichkeit unserer Beziehungen verloren?
Vielleicht gerade, weil es so viele Möglichkeiten gäbe. Es ist ja schon viel darüber gesprochen worden, dass ein exzessiver Medienkonsum die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit der Menschen schwächt. Trotzdem meine ich, dass das als Erklärung nicht reicht. Denn die Frage ist ja: Warum ziehen sich so viele Menschen in die Einsamkeit der digitalen Räume zurück? Warum suchen sie nicht die Begegnung im physischen Raum – in Vereinen, Parteien, Kirchengemeinden, Hilfswerken, oder wo auch immer? Genügend Betätigungsfelder mit sozialer Anbindung gibt es ja. Nein, das Problem muss tiefer liegen. Als Philosoph würde ich sagen: Unsere geistige Matrix ist fehlerhaft. Die Einsamkeit ist der lange Schatten des neuzeitlichen Subjektivismus. Deshalb ist sie auch in ganz Europa verbreitet.
Und kann die Philosophie dabei irgendeine Hilfe leisten?
Ja, sie kann uns die Augen dafür öffnen, dass unser Mindset uns in die Einsamkeit treibt. Seit dem 17. Jahrhundert haben wir uns angewöhnt zu glauben, wie seien einzelne Subjekte, die gut beraten sind, bei allem, was sie tun, ihren Vorteil im Blick zu haben. Diese Denkweise ist in die Matrix der modernen Ökonomie eingegangen und wird durch sie ständig genährt. Gerade habe ich im Radio eine Werbung gehört, die sagt: „Beschenk dich zu Weihnachten doch einfach mal selbst!" – die perfekte Wegweisung zur Einsamkeit. Genau hier kann jeder bei sich selbst ansetzen und sich fragen, wie er auf andere zugehen kann; wo er anderen begegnen kann; wieviel Verbindlichkeit er in seine Bindungen investieren möchte. Der sicherste Weg aus der Einsamkeit ist die Hinwendung zum Anderen; nicht darauf warten, dass jemand kommt und uns in unserer Komfortzone besucht – sondern rausgehen und aktiv werden. Wenn die Einsamkeit im Kopf beginnt, dann kann sie dort auch ihr Ende finden.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
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