Atomwaffengegner auf der Anklagebank
Der aktuelle Kommentar von Helmut Scheben
Aufrüstung scheint jetzt Befehl zu sein. Aktivisten, die gewaltfreien Widerstand gegen die Vorbereitung eines Atomkrieges leisteten, wurden Anfang des Monats wiederholt bestraft.
Für die Richterin am Amtsgericht Cochem waren das Urteil und seine Begründung wohl schon vor Prozessbeginn formuliert. Sie brauchte nur wenige Minuten, um zum Urteilsspruch zu gelangen. In der Stadt an der Mosel fand am 4. März zum einhundertsten Mal ein Strafverfahren gegen Leute statt, die überzeugt sind, dass Frieden nicht mit mehr Atomwaffen zu erreichen wäre, sondern mit weniger Atomwaffen. Solche Menschen werden in Deutschland routinemäßig vor Gericht gestellt und verurteilt, wenn sie gewaltfrei gegen atomare Rüstung protestieren.
Das Gericht in Cochem ist zuständig für den Fliegerhorst Büchel in der Eifel, wo Kernwaffen der Streitkräfte der USA lagern. Das dortige Geschwader der deutschen Luftwaffe übt mit seinen Tornado-Kampfjets den Einsatz von Atombomben vom Typ B61. Diese werden derzeit „modernisiert". Die USA sind dabei, ihre nuklearen Freifallbomben durch neue „smarte" Lenkwaffen-Bomben vom Typ B61-12 und B61-13 zu ersetzen. Deutschland kauft außerdem von den USA den Tarnkappenbomber F-35, der künftig als Träger für die Atomwaffen dienen soll.
Miriam Krämer aus Aalen in Baden-Württemberg und Gerd Büntzly aus Herford in Nordrhein-Westfalen wurden letzten Montag wegen Hausfriedensbruchs verurteilt. Sie hatten am 8. Mai 2023 zusammen mit fünf weiteren Personen das Luftwaffen-Gelände in Büchel durch den offenen Eingang für Baustellenfahrzeuge betreten und dann eine Mahnwache abgehalten.
Aus Sicht der Angeklagten ein "rechtfertigender Notstand"
Miriam Krämer (58) verteidigte sich selbst in einem siebenseitigen Plädoyer. Sie bestreitet nicht den Tatbestand des Hausfriedensbruchs, beruft sich aber darauf, dass das Gesetz eine Straftat für rechtens erklärt, wenn diese dazu dient, eine weitaus schwerere Straftat abzuwenden und ein Rechtsgut zu schützen, das von höherwertigem Interesse ist als das Verbot, ein umzäuntes Gelände ohne Erlaubnis zu betreten. Die Angeklagte wirft der deutschen Regierung vor, mit der Lagerung von Atomwaffen und dem Training für deren Einsatz gegen das Völkerrecht und den Atomwaffensperrvertrag zu verstoßen. Sie verstoße außerdem gegen das Grundgesetz, welches Handlungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker stören, als verfassungswidrig erklärt. Das Strafgesetzbuch kennt den „rechtfertigenden Notstand", wenn es gilt, eine schwere Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre oder Eigentum abzuwehren. Für Miriam Krämer und ihre Mitstreiter kann kein Zweifel bestehen, dass die Vorbereitung eines Atomkrieges eine solche Gefahr darstellt.
Es ist die Regierung der USA, die über den Einsatz der Kernwaffen entscheidet, die in Büchel liegen. Wenn im Oval Office in Washington der rote Knopf gedrückt würde, befände sich der Bündnispartner Deutschland im Atomkrieg. Die deutsche Regierung beteiligt sich an der US-Rüstungsstrategie mit der harmlos-bürokratischen Parole „nukleare Teilhabe". Nach Angaben des Friedensforschungsinstituts in Stockholm (SIPRI) werden die USA in den nächsten 20 Jahren rund eine Billion Dollar (englisch 1 Trillion) für das sogenannte „updating" ihre 4000 Atomwaffen ausgeben.
Miriam Krämer wurde zu einer Strafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Die genaue Summe muss noch festgesetzt werden. Sie hat Berufung eingelegt.
Atomwaffen sind ein Sicherheits-Hochrisiko
Frau Krämer und ihre Mitstreiter haben recht, wenn sie derzeit eine Notlage sehen. Die EU werde „auf Kriegswirtschaft umstellen", lauten die Schlagzeilen. Der deutsche Luftwaffenchef erörtert mit Generälen, wie man mit deutschen Taurus-Marschflugkörpern die Krim-Brücke zerstören könne und mit welchen faulen Tricks eine direkte Involvierung Berlins verschleiert werden könne. Die aufgeregte Mediendiskussion dreht sich vor allem um die Frage der „Sicherheitslücke": Wie konnte das Gespräch publik werden? Und der Vorwurf von russischer Seite, Deutschland plane den Krieg gegen Russland? Das kann nur billige russische Propaganda sein. Generäle plaudern halt über dieses und jenes. Und wer im Ukraine-Krieg nach Waffenstillstand statt nach Waffenlieferungen ruft, gilt unverzüglich als Putin-Bewunderer. Ein nuklearer Schlagabtausch wäre Auftakt zur globalen Selbstzerstörung
Donald Trump deutete mit einer seiner flapsigen Bemerkungen an, die Europäer müssten mehr aufrüsten, sonst werde er ihnen nicht mehr militärisch beistehen. Ein flächendeckendes Wehgeheul in ganz Westeuropa war die Folge. „Braucht Europa eigene Atomwaffen?", fragt der „Deutschlandfunk". Dass es in Frankreich, Großbritannien und Deutschland schon genug Atomsprengköpfe gibt, wird mit diesem Titel kaschiert. Katarina Barley, SPD-Spitzenpolitikerin für die Europawahl, ist der Meinung, eigene EU-Atombomben könnten „ein Thema werden", weil auf den Schutz Europas durch den US-Atomschirm kein Verlass mehr sei. Selbstverständlich weiß jeder, der bis drei zählen kann, dass ein nuklearer Schlagabtausch dem Auftakt zur globalen Selbstzerstörung gleichkäme. Frappierend ist daher die Obsession, mit der manche Politiker und Journalisten sich derzeit am Thema der atomaren Katastrophe festbeißen. Das Szenario eines russischen Atomwaffenangriffs wird unablässig herbeigeschrieben.
So paradox es klingen mag: Es gibt Neurotiker, die das Jüngste Gericht herbeisehnen, um am Ende Recht zu behalten. Als wünschten sie das Eintreten der nuklearen Katastrophe nach der Devise: „Wir haben ja immer gesagt, dass der Satan Putin vor dem Weltuntergang nicht zurückschreckt."
Krieg zerstört beide Seiten
Die so denken, lassen sich nur ungern daran erinnern, dass es bisher nur einen Staat auf der Welt gibt, der Städte nuklear vernichtet hat. Am 6. August 1945 warfen die USA eine Atombombe mit dem Namen „Little Boy" auf Hiroshima. Von den 300’000 Einwohnerinnen und Einwohnern wurden binnen vier Monaten 140’000 getötet und ungezählte weitere zu langjährigem Leiden verdammt. Die Nuklearsprengköpfe, die in Büchel lagern, haben ein Vielfaches der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Douglas MacArthur, der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im Pazifikkrieg, sagte, in einer Rede in Los Angeles 1955: Seit es der Wissenschaft gelungen sei, die totale Vernichtung herzustellen, sei es nicht mehr möglich, internationale Differenzen durch Krieg zu bereinigen. MacArthur wörtlich: „Krieg ist ein Frankenstein geworden, der beide Seiten zerstört (…) Die hunderte Milliarden Dollar, die wir in die Rüstung stecken, könnten wahrscheinlich die Armut aus der Welt schaffen."
Den Betreibern der atomaren Kriegsaufrüstung könnte es gehen wie dem Zauberlehrling: Da wird ein Ungeheuer gezüchtet, das sich früher oder später der Kontrolle seines Schöpfers entzieht. Denn die Existenz solcher Waffen stellt keinen „Schutzschirm" und keine „Sicherheit" her, sondern ein Sicherheits-Hochrisiko. Bei extrem komplexen, elektronisch gesteuerten Systemen von Massenvernichtungswaffen wird es früher oder später eine Panne geben. In der Vergangenheit sind wir mehrmals um Haaresbreite an der Katastrophe vorbeigekommen.
Konzerne im Westen verdienen durch jeden Krieg
Die Kräfte, die die Rüstungsspirale antreiben, sind wichtige – möglicherweise die wichtigsten – Wirtschaftsmotoren. Die meisten großen Konzerne des Westens verdienen an der gigantischen Aufrüstung und am „Wiederaufbau" nach jedem Krieg. Das geht vom reinen Waffenbusiness über Bauwesen, Transport, Food, Kleidung, Energie bis hin zur Telekom- und IT-Branche. Ein Zitat aus der französischen Satire-Zeitung Charlie Hebdo: „Der Krieg ist dann zu Ende, wenn die Waffenhändler ihre Quote erreicht haben und die Betonhändler meinen, es wäre jetzt an der Zeit, dass sie die Bühne betreten."
Helmut Scheben, Doktor phil. der Romanistik, war von 1980 bis 1985 als Presse-Reporter in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redakteur der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich und von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.
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