Klimagerecht Bauen bedeutet Bauen im Bestand

DUH fordert Paradigmenwechsel weg vom Fokus Neubau

Vielerorts werden Gebäude abgerissen, damit ein Neubau an ihre Stelle rücken kann. Dies steht dem dringend notwendigen Klimaschutz im Gebäude- und Baubereich erheblich entgegen. Die Deutsche Umwelthilfe fordert seit vielen Jahren einen Paradigmenwechsel: Nicht der Neubau sollte im Fokus stehen, sondern Bauen im Bestand und klimazielkonforme Sanierung.

Johannisbollwerk 10 in Hamburg vor dem Abriss © JKristina SassenscheidtDa ist zum Beispiel einer der letzten historischen Bauwerke an der Hamburger Hafenkante. Trotz seines guten Zustandes wurde es 2021 abgerissen, um einem Hotelneubau Platz zu machen. Oder ein Bürogebäudekomplex in Köln: Obwohl er als erhaltenswerte Bausubstanz eingestuft wurde, musste er einem Neubau weichen. Und auch dem Staudenhof in Potsdam, einem zentralen Wohngebäude aus DDR-Zeiten, droht dasselbe Schicksal – trotz großen Widerstands aus der Bevölkerung.

Schlechtere Bilanzen für den Neubau
Mit diesem Gebaren wird nicht nur bezahlbarer und zentraler Wohnraum vernichtet, es werden auch enorme Mengen an Ressourcen und Energie verschwendet. 40 Gebäude fallen laut amtlicher Statistik in Deutschland täglich der Abrissbirne zum Opfer – die Dunkelziffer ist noch deutlich höher. Schuld daran ist die jahrzehntelange Fixierung auf den Neubau, die fest in Baupolitik und -praxis verankert ist.

In Deutschland gibt es etwa 21,4 Millionen Bestandsgebäude. Darin sind tonnenweise Materialien verbaut, für deren Herstellung bereits enorme Mengen an CO2-Emissionen freigesetzt wurden, sogenannte „graue" Emissionen. Jeder Abriss und Ersatzneubau verursacht erneut „graue" Emissionen.

Wie sieht es dagegen bei einer Sanierung aus? Laut aktueller Studien des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie verursacht die energetische Sanierung eines typischen Mehrfamilienhauses nur halb so viele CO2-Emissionen wie ein Neubau, wenn man den gesamten Lebenszyklus von der Herstellung bis zur Entsorgung des Gebäudes berücksichtigt. Aus Klimaschutz-Sicht ist es daher fast immer sinnvoll, ein Bestandsgebäude zu erhalten, umzubauen oder energetisch zu sanieren. Abriss und Neubau sollten nur die letztmögliche Option sein.

Abriss ohne Prüfung
Aber nicht nur die CO2-Emissionen sind enorm: Der Bausektor verbraucht 90 Prozent der mineralischen Rohstoffe und erzeugt gleichzeitig mehr als die Hälfte des gesamten deutschen Abfallstroms. Fast 4,4 Hektar Fläche kommen in Deutschland täglich durch den Bedarf an Baustoffen „unter den Bagger" – das ist jährlich eine Fläche von der Größe der Stadt Nürnberg. Dennoch werden jedes Jahr mindestens 14.000 Gebäude in Deutschland ohne Prüfung der Klima- und Umweltfolgen abgerissen. Eigentümer:innen und Investor:innen können willkürlich entscheiden, was mit einem Gebäude geschieht. Dazu kommt, dass das aktuelle Fördersystem Fehlanreize für den Abriss bestehender Bausubstanz setzt. Vorhandene Potenziale für ein Umbauen und Weiternutzen werden nicht ausgeschöpft, der Lebenszyklus von Gebäuden außen vorgelassen. Was es deshalb braucht, ist ein Paradigmenwechsel mit Fokus auf das Bauen im Bestand mit nachfolgenden Punkten:

Einführung einer Abrissgenehmigungspflicht
Auch dem Staudenhof in Potsdam droht der Abriss, trotz großen Widerstands aus der Bevölkerung. © Rüdiger SeyfferDie vollständige Beseitigung von Gebäuden ist in den meisten Bundesländern lediglich anzeigepflichtig und bedarf keiner Genehmigung. So geschehen tausende Abrisse ohne vorherige Prüfung, ob das Gebäude oder zumindest einige Bauteile weitergenutzt werden können. Um „graue" Energie sowie den mit Neubauten verbundenen Herstellungs- und Materialaufwand zu reduzieren, sollten Abrisse auf der Grundlage einer Ökobilanzierung genehmigungspflichtig werden. Erst wenn die Ökobilanzierung aufzeigt, dass unter Berücksichtigung des gesamten Lebenszyklus Abriss und Neubau ökologischer sind als ein Umbau beziehungsweise eine Sanierung, ist der Abriss zu bewilligen. Die Möglichkeit einer rechtlichen Verankerung einer solchen Genehmigungspflicht in den Landesbauordnungen bestätigt ein von der Deutschen Umwelthilfe beauftragtes Rechtsgutachten.

Umbau und Umnutzung müssen erleichtert werden
In der Umnutzung von Büro- und Verwaltungsgebäuden liegt ein Flächenpotenzial für bis zu 1,86 Millionen Wohnungen (ARGE eV, 2022), bei Aufstockungen noch einmal bis zu 2,35 Millionen Wohnungen (TU Darmstadt & Pestel Institut, 2019). Diese Flächen müssen genutzt werden, um Emissionen und Ressourcenverbrauch durch Neubau zu vermeiden und gleichzeitig sparsam mit der Ressource Fläche umzugehen. Die Musterbauordnung und die Landesbauordnungen sind in erster Linie jedoch für den Neubau gemacht und erschweren deutlich den Erhalt und die Weiterentwicklung des Bestands. Das Bauen im Bestand (insbesondere Umnutzung, Umbauen, Aufstocken) muss durch vereinfachte Genehmigungen gefördert werden, zum Beispiel durch Entfall des Stellplatznachweises oder durch Flexibilisierung der Abstandsflächen.

Die öffentliche Hand als Vorbild
Viele der abgerissenen Gebäude sind öffentliche Gebäude wie Verwaltungs- und Schulgebäude. Gleichzeitig ist die öffentliche Hand der größte Bauherr Deutschlands. Sie kann und muss daher selbst zum Treiber des Umdenkens werden. Die Etablierung einer verbindlichen bundesweiten Entscheidungskaskade zur Priorisierung des Bestandserhalts (gemäß Vorschlag des Deutschen Städtetags) stellt sicher, dass Bund, Länder und Kommunen bei allen öffentlichen Gebäuden ihre Vorbildfunktion wahrnehmen und das Bauen im Bestand priorisieren. Nur wenn der festgestellte Bedarf durch Bestandserhalt und Modernisierung (erste Stufe) nachgewiesenermaßen nicht erfüllt werden kann, dürfte es in einer zweiten Stufe um eine Bestandserweiterung gehen. Ersatzneubau (dritte Stufe) sollte nur als Ultima Ratio in Betracht gezogen werden.

Finanzielle Anreize für Bestandserhalt und klimazielkonforme Bestandssanierung
In der Vergangenheit sind in großem Stil Fördergelder im Neubau „verschwendet" worden. Beispielsweise sind 2021 über 80 Prozent der Fördergelder in den Neubau geflossen. Um hier einen Paradigmenwechsel zu erreichen, muss nun verstärkt der Bestandserhalt und die energetische Gebäudesanierung gefördert werden. Um die notwendige Vervierfachung der von der EU angestrebten Sanierungsrate zu erreichen, ist eine deutliche Anhebung der Fördermittel im Bereich Gebäudesanierung auf bis zu 25 Milliarden Euro pro Jahr notwendig. Dabei darf die öffentliche Förderung ausschließlich für klimazielkonforme Standards erfolgen.

Graue Energie und Emissionen in Gesetz und Förderung berücksichtigen
Um einen klimaneutralen Gebäudebestand zu erreichen, müssen die gesamten Treibhausgasemissionen von Gebäuden gemessen und begrenzt werden. Eine verpflichtende normkonforme Ökobilanzierung für Neubauten muss gesetzlich eingeführt werden. Hier sind Ziel- und Grenzwerte für Gebäudetypen sowie Absenkpfade mit Blick auf die Ziele der Klimaneutralität und Ressourcenschonung festzulegen. Die Bundesregierung ist in der aktuellen Neubauförderung „Klimafreundliches Bauen" einen Schritt hin zur Berücksichtigung der Lebenszyklusperspektive gegangen. Festgelegte Grenzwerte hinsichtlich Treibhausgasemissionen müssen demnach bei einem Neubau unterschritten werden, um einen finanziellen Zuschuss zu erhalten. Die Überführung in das Ordnungsrecht steht allerdings noch aus.

Weitere Informationen: www.duh.de

Abriss-Atlas Deutschland ...

... bringt Transparenz
Es fehlt sowohl an Transparenz über die Anzahl tatsächlich abgerissener Gebäude als auch an Bewusstsein in der Gesellschaft über den ökologischen und kulturellen Wert der gebauten Umwelt. Nach dem Vorbild des Abriss-Atlas Schweiz hat sich daher vor einigen Monaten eine Kooperation aus Umweltschutz-, Architektur- und Kulturorganisationen für die Erstellung des Abriss-Atlas Deutschland zusammengeschlossen. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH), Architects4Future (A4F), der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA), das Denkmalnetz Bayern, das KulturerbeNetz.Berlin, die Initiative Abrissmoratorium, die Leibniz Universität Hannover und Theatrum e.V. wollen mit dem Atlas nicht nur mehr Transparenz schaffen, sondern auch den Druck auf die Politik erhöhen. Der Atlas ist ein offenes Mitmach-Projekt und enthält mit aktuell etwa 1000 Beispielen steckbriefartig Fälle von Gebäudeabrissen. Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, weitere Beispiele unter abriss-altas.de einzutragen.

Dora Griechisch ist Senior-Expertin für Klima und Energie bei der Deutschen Umwelthilfe und beschäftigt sich insbesondere mit Klimaschutz in Gebäuden.

Umwelt | Klima, 01.03.2024
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