Was sagt die Debatte um die Cannabis-Legalisierung über unsere Gesellschaft?
Christoph Quarch empfiehlt den Blick auf andere Drogen
Seit dieser Woche ist es so weit: In Deutschland darf man kiffen. Zwar nicht jeder und überall, aber Erwachsenen ist der Konsum und Besitz kleiner Menge von Cannabis nicht mehr verboten. Sogar der Anbau von maximal drei Pflänzchen in der eigenen Wohnung ist erlaubt: für die einen ein längst fälliger Schritt zur Entlastung von Polizei und Justiz, für die anderen ein fataler Fehler, den man schleunigst rückgängig machen müsse. Nun, da alle politischen, rechtlichen und medizinischen Argumente ausgetauscht sind, ist es Zeit für die Metaebene: Was sagt diese ganze Debatte über unsere Gesellschaft? Was verrät die Cannabis-Legalisierung über unsere Zeit? Darüber sprechen wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, rauchen Philosophen eigentlich auch mal einen Joint?
Ich persönlich nicht. Ich rauche ja auch keinen Tabak. Hab’s noch nicht mal versucht. Bei anderen Vertretern meiner Zunft ist das aber anders. Walter Benjamin fällt mir ein. Von ihm stammt ein lesenswerter Essay mit dem Titel „Haschisch in Marseille". Darin beschreibt er minutiös seine Erfahrungen unter dem Einfluss der Droge. Warum auch nicht? Der Drogenrausch versetzt den Menschen in einen besonderen Bewusstseinszustand, den zu erforschen einem Philosophen nicht schlecht zu Gesichte steht; zumindest dann nicht, wenn die Philosophie ihre Aufgabe darin sieht, das Menschsein zu ergründen. Selbst ein so nüchterner Denker wie Platon vertrat den Standpunkt, dass Rauschzustände für die menschliche Kreativität zielführend sind. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob er dabei aus eigener Erfahrung sprach.
Aber kann man etwas Substanzielles über Drogen sagen, wenn man sie nicht selbst erprobt hat?
Nein, wohl eher nicht. Das stört mich auch an der politischen Diskussion, die in unserem Land derzeit geführt wird. Aber lassen wir das beiseite. Denn es ist allemal interessant zu wissen, was Philosophen oder Literaten über ihre Erfahrungen mit Drogen zu sagen wissen. Auch dazu fällt mir ein prominentes Beispiel ein: Der berühmt-berüchtigte Ernst Jünger hat im fortgeschrittenen Alter eng mit Albert Hofmann, dem Erfinder des LSD, zusammengearbeitet und zahlreiche Selbstversuche ausgeführt, die er in seinem Buch „Annäherungen" beschrieben hat. Und nicht nur das: Er liefert darin ein ganzes Panoptikum von Drogenerfahrungen, die er zu einer Art Phänomenologie der Drogen ausarbeitet. Eine seiner Thesen ist, dass die in einer Gesellschaft gebräuchlichen Drogen viel über deren Zustand verraten.
Können Sie vor dem Hintergrund von Jüngers Erkenntnissen etwas darüber sagen, was die Cannabis-Legalisierung über das Deutschland des Jahres 2024 verrät?
Jünger unterscheidet zwischen unterschiedlichen Drogen-Typen: den Stimulantia einerseits und den Somnifera bzw. Phantastica andererseits. Zu den Stimulantia gehören alle aufputschenden Substanzen wie Kokain und die meisten der sogenannten Designerdrogen, zu den Somnifera gehören alle halluzigenen Drogen wie Meskalin und Opium, als deren kleine Schwester auch Cannabis zu verorten wäre. Interessant für die aktuelle Diskussion ist, dass Jünger den Konsum dieser Substanzen in der heutigen Welt als eine Art Gegenreaktion auf dasjenige beschreibt, was er das Titanische nennt: die technisch-ökonomische Entfesselung und Beschleunigung des Lebens mit ihrem Zwang zur permanenten Selbstoptimierung. Die Cannabis-Legalisierung wäre aus seiner Sicht vermutlich ein therapeutischer Akt.
Aber muss man sie deswegen auch gutheißen?
Nein – denn besser wäre es, gar nicht erst therapiebedürftig zu sein. Nur sollte man sich nicht an Cannabis festbeißen. Man verliert sonst das eigentliche Problem aus den Augen. Und das liegt auf der anderen Seite: bei den Stimulantia: Kokain, Crystal Meth und Co. Denn diese Drogen spiegeln nicht nur die psycho-mentale Krankheit unserer Gesellschaft, sondern sie verschärfen und beschleunigen sie. Es ist ja kein Zufall, dass Polizei und Zoll immer öfter von riesigen Mengen beschlagnahmten Kokains berichten. Das lässt auf einen gigantischen Käuferkreis schließen, der sich durch alle sozialen Schichten zieht. Denn egal ob arm oder reich: alle müssen immer besser und schneller funktionieren. Hier liegt das eigentliche Problem – und dagegen ist kein Kraut gewachsen, auch kein Cannabis als neues Opium fürs Volk. Da helfen nur Kultur, Aufklärung, Bildung und Geist – also all das, was wir immer mehr vernachlässigen. Wenn es einen fatalen Fehler gibt, dann ist es der.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese: Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Megatrends, 06.04.2024
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