Rückwärtsgewandte Alte-Weiße-Männer-Politik
Christoph Quarch wünscht sich von der FDP eine zeitgemäße und zukunftsfähige Version des Liberalismus
Es gehe darum, innerhalb der Ampelkoalition eine Debatte anzustoßen. So begründen die Freien Demokraten die Veröffentlichung des Papieres „Wirtschaftswende", mit dem die Partei-Spitze zwölf Vorschläge zur Belebung der deutschen Wirtschaft unterbreitet. Das Vorhaben ist gelungen: Die Koalitionspartner haben reagiert – mit Skepsis und Kritik. Applaus dagegen ernten die Liberalen von Wirtschaftsverbänden und Union. CSU-Chef Söder meint in dem Papier gar eine Scheidungsurkunde zu erkennen und wirbt unverhohlen für einen Bruch der Koalition und Neuwahlen. Angesichts dessen fragt man sich, was die FDP mit ihrer „Wirtschaftswende" wirklich will – und ob der Schuss nicht gar nach hinten losgeht. Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, aus Perspektive der politischen Philosophie: Ist es klug, was die FDP da veranstaltet?
Als politischer Philosoph habe ich da meine Bedenken. In der Politik geht es darum, Gesellschaft zu gestalten. Dafür muss man handeln, und um handeln zu können, braucht man Macht. Macht hat man, wenn man in der Regierung ist; so wie die FDP; und wenn man sein politisches Mandat ernst nimmt, dann sollte man diese Macht auch nutzen und sie nicht vorschnell aufs Spiel setzen. Genau das tut aber, wer an ein Strategiepapier veröffentlicht, von dem er genau weiß, dass es für den Koalitionspartner unerfüllbare Forderungen enthält. Da muss man sich nicht wundern, wenn der Partner irritiert ist und wenn fremde Freier wie Herr Söder einen zur Scheidung ermutigen. Aber dabei kann die FDP nur verlieren: Ob sie bei Neuwahlen die Fünf-Prozent-Hürde nehmen kann, ist ungewiss – und als Juniorpartner einer zunehmend rechten CDU wird sie definitiv weniger Macht haben als jetzt.
Aber doch nicht, wenn es darum geht, klassische FDP-Themen wie die Abschaffung des Soli und der staatlichen Förderung erneuerbarer Energien durchzusetzen. Auch beim gewünschten Abbau von Sozialleistungen darf sich die FDP der Zustimmung der Union gewiss sein.
Vordergründig sieht es so aus – bei näherem Hinsehen aber werden sich die Freien Demokraten schaden. Ihr aktueller Kurs erinnert mich an das Verhalten der Kirchen in den frühen 2000er Jahren: Man versucht, seine vermeintlichen Unterstützer zu mobilisieren, indem man sein Profil schärft. Dafür greift man auf bewährte Themen oder Glaubenssätze zurück. Oder anders gesagt: Man klammert sich an eine Ideologie und verkennt, dass deren Zeit vorbei ist. Und das ist nicht gut, weil man dadurch den allfälligen Wandel verpasst – und auch keine neuen, jungen Anhänger für sich gewinnt. Genau das droht der FDP: die ideologische Erstarrung in einem veralteten Liberalismus, die umso schockierender ist, als diese Partei sich gerne als innovationsfreudig präsentiert. De facto tut sie das Gegenteil.
Wie kommen Sie darauf, dass der Liberalismus veraltet ist? Freie Märkte und Globalisierung bestimmen weiterhin die Weltwirtschaft.
Wenn ich mir die geopolitische Großwetterlage anschaue, wäre ich mir nicht so sicher. In den USA kehrt man zurück zum Protektionismus, die EU übt sich in De-Risking und Deglobalisierung, und die Wirtschaftsminister der führenden europäischen Industrienationen sind sich darin einig, dass infolge des Ukraine-Kriegs der Primat der Politik über die Wirtschaft zurückkehren muss. Zurecht. Denn die großen Verheißungen des Liberalismus wie „Wandel durch Handel" und „Mehr Wohlstand für alle" haben sich nicht erfüllt. Stattdessen geht infolge des globalen Neoliberalismus die Schere von Arm und Reich immer weiter auf und die Spannungen zwischen den Nationen nehmen zu. Von der ökologischen Krise ganz zu schweigen.
Aber Sie können doch nicht allen Ernstes von der FDP erwarten, dass sie ihre liberale Identität preisgibt oder gar verrät.
Ganz sicher nicht, aber ich würde ihr dringend empfehlen, darüber nachzudenken, wie eine zeitgemäße und zukunftsfähige Version des Liberalismus aussehen könnte. Die Themen liegen ja alle auf dem Tisch – und man hätte sogar die Koalitionspartner, um sie umzusetzen: Energiewende, Förderung neuer Schlüsselindustrien, Digitalisierung, Bürokratieabbau, Investment in die Jugend. Rhetorisch ist die FDP da längst angekommen, aber mental offenbar noch lange nicht. Denn statt mutig neue Wege zu gehen, betreibt sie eine rückwärtsgewandte Alte-Weiße-Männer-Politik im Stile von Lobbyisten und Wirtschaftsfunktionären. – Schnarch, kann ich da nur sagen.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
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Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 27.04.2024
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