Warum eskaliert der Streit um Israel und Palästina ausgerechnet an den Hochschulen?

Christoph Quarch fordert mehr Kooperation, mehr Dialog und mehr Disputation

An US-amerikanischen Elite-Universitäten ging es los, nun häufen sich auch an deutschen Hochschulen pro-palästinensische Kundgebungen. Die Reaktionen aus der Politik sind deutlich: Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung schlägt Alarm und die Bundesbildungsministerin findet das „Ausmaß an Israel- und Judenhass" unerträglich. Die meisten Protestierenden weisen allerdings den Vorwurf des Antisemitismus von sich und pochen auf ihr Recht, den Staat Israel für seinen Militäreinsatz im Gaza-Streifen kritisieren zu dürfen. Die Fronten scheinen verhärtet. Warum eigentlich? Wie kommt es, dass ausgerechnet an den Hochschulen der Streit um Israel und Palästina eskaliert? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
 
Herr Quarch, wie erklären Sie sich die anti-israelischen Kundgebungen an westlichen Universitäten?
© Timo, pexels.comZunächst möchte ich festhalten, dass es anders als in den USA hierzulande – noch – kleine Gruppen sind, die an den Unis protestieren. Das mag damit zusammenhängen, dass in Deutschland die Tendenz zu Polarisierung und Moralisierung nicht so stark ausgeprägt ist wie in den Vereinigten Staaten. Dort hat sich unter dem Einfluss prominenter Intellektueller wie Judith Butler eine akademische Elite formiert, die den Anspruch erhebt, den moralischen Diskurs der Gesellschaft zu dominieren – und zwar im Sinne einer Moral, die sich grundsätzlich auf die Seite von Opfern und Minderheiten stellt, um deren Rechte gegen Mehrheiten und Machthaber einzuklagen. Damit geht eine Empörungsrhetorik einher, die jeden sachlichen Diskurs mit Andersdenkenden nahezu unmöglich macht.

Aber sollten Universitäten nicht eigentlich Orte sein, an denen politische Diskurse mit Andersdenkenden stattfinden können.
Absolut – und genau das ist es, was mich an dieser Protestbewegung beunruhigt: die fast schon militante Moralisierung. Darin sehe ich die eigentliche Gefahr: dass diejenigen, die die intellektuelle Elite des Landes bilden sollten, zunehmend die Kunst des akademischen Diskurses verlernen – dass viele nicht mehr bereit sind, die Sichtweisen Andersdenkender gelten zu lassen, sich in deren Situation zu versetzen, ihnen in der Haltung zu begegnen, dass auch sie Recht haben könnten. Kurz: dass ihnen die Bereitschaft zu denken abhandengekommen ist. Hier bestätigt sich eine verstörende Regel: Moral und Geist verhalten sich umgekehrt proportional zueinander. Wo nur noch moralisiert wird, bleibt der Geist auf der Strecke.

Aber wo liegt das Problem, wenn pro-palästinensische Demonstranten sich für die Wahrung der Menschenrechte in Palästina einsetzen. 
In der Sache ist daran nichts auszusetzen, wohl aber am Gestus. Die Protestierenden neigen dazu, sich als Anwälte der Opfer darzustellen. Sie sehen sich dazu legitimiert durch die Werte, die sie vertreten. In ihrer Denkweise sind diejenigen die Guten, die diese Werte vertreten und einklagen. Und die Bösen sind alle anderen, die ihnen darin nicht folgen. Gut sind auch die Opfer, denen diese Werte vorenthalten werden – also „die Palästinenser" im Kollektiv, wodurch gleichzeitig „die Israelis" im Kollektiv zu den bösen Tätern werden. Dieses Spiel von Gut und Böse, von Opfer und Täter ist perfide: Man selbst sieht sich als Guter auf der Seite der Opfer – und wird schneller als man denkt, genau damit zum Täter im Kampf gegen die vermeintlich Bösen. Diese Logik produziert Fundamentalisten und Terroristen.

Davon sind wir aber weit entfernt. Die Protestierenden beschränken sich auf die Forderung, ihre Hochschule möge die Kooperation mit israelischen Universitäten überprüfen oder aussetzen.
Ich finde, diese Forderung spricht Bände: als ob der Abbruch von Kooperation und Diskurs mit israelischen Hochschulen irgendwie dem Frieden in Nahost förderlich sein könnte. Das Gegenteil wäre nötig: Mehr Kooperation, mehr Dialog, mehr Disputation. Das entspräche dem Geist der Hochschule. Natürlich gehören dazu auch Kritik und Auseinandersetzung – aber bitte schön jenseits von Gut und Böse, um Nietzsche zu bemühen; ohne den Gestus des moralischen Richters. Seit dem 18. Jahrhundert haben wir im Westen darum gekämpft, die Universitäten aus den Klauen der kirchlichen Dogmatik zu befreien. Da kann es nicht sein, dass sie sich jetzt der Tyrannei moralinsaurer Pressure-Groups ausliefern. 
  
Der Philosoph Christoph Quarch schreibt regelmäßig für forum Nachhaltig Wirtschaften. © Christoph Quarch

Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
 
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.

Lesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de

Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel". 

Gesellschaft | Politik, 04.05.2024

     
        
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