Viele Jahre standen Unternehmen im Verdacht, gesellschaftliche Probleme eher zu lösen als sie zu schaffen. Das hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren deutlich verändert. Die Wirtschaft ist mittlerweile Problemlöserin und Problemverschärferin zugleich. Unser aktuelles Wirtschaftssystem mit seiner linearen und extraktiven Grundlogik hat sowohl ökologisch als auch sozial ungelöste Probleme aufgetürmt, deren Bearbeitung nun nicht mehr weiter in die Zukunft vertagt werden kann.
Die Regulierung reagiert, die Anforderungen an die Unternehmen steigen massiv. CSRD, EU-Taxonomie, Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – und das ist erst der Anfang. Viele Unternehmen wissen heute schon nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht, um die neuen gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen. Dabei sind die zukünftigen Auswirkungen des EU Green Deal bei den meisten Unternehmen noch gar nicht vollständig angekommen.
Compliance hat derzeit oberste Priorität
Der Großteil der Aufmerksamkeit, die für die Mammutaufgabe der Nachhaltigkeitstransformation zur Verfügung steht, wird derzeit durch die Umsetzung der neuen gesetzlichen Anforderungen gebunden: Evaluieren, Messen, Reporten. Daten sammeln, Berichte schreiben, Auditierungen vorbereiten und durchführen. Und über all dem schwebt meist die große Frage nach der Dekarbonisierung: Wie bekommen wir unsere CO?-Emissionen in den Griff? An welchen Stellen können wir reduzieren? Wie kommen wir auf „Netto Null"?
Die gute Nachricht: Auch wenn die Regulierung einen erheblichen zusätzlichen Aufwand erzeugt, ist sie ein Anfang in Richtung eines neuen „Level Playing Fields". Unternehmen sind gezwungen, sich selbst genauer zu durchleuchten, Transparenz zu erhöhen und Maßnahmen abzuleiten. Die Spielregeln der Wirtschaft werden durch die neuen Richtlinien nach und nach verändert. Und diese Regeln gelten für alle Akteur:innen im europäischen Raum gleichermaßen.
Woher kommen die neuen Ideen?
Die schlechte Nachricht: Messen und Reporten allein werden nicht reichen, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Die Nachhaltigkeitstransformation ist nicht nur eine Evaluations- und Reduktionsaufgabe, sondern vor allem eine Innovations- und Gestaltungsaufgabe. Wir brauchen zukünftig signifikant mehr nachhaltige und regenerative Ideen. Wir brauchen Lösungen und Geschäftsmodell-Logiken, die es heute noch nicht gibt und die uns dabei helfen, die Wirtschaft mit den grundsätzlichen Designprinzipien des Lebens auf diesem Planeten zu versöhnen.
Daher wird auch die reine Reduktion von CO2-Emissionen mittelfristig nicht reichen – und das ist in der heutigen Regulierung bereits angelegt. Viel zu stark ist der Klimawandel systemisch verbunden mit anderen Handlungsfeldern wie dem Verlust von Biodiversität, ungelösten Abfallproblemen, einer massiven Bedrohung unserer Frischwassersysteme oder sozialer Ungleichheit. Wenn wir also ohnehin über neue Lösungen nachdenken, sind wir gut darin beraten, diese Lösungen so zu gestalten, dass sie nicht nur nachhaltig, sondern regenerativ wirken. Dass sie also nicht nur weiteren Schaden vermeiden, sondern in Summe einen positiven Einfluss auf unsere überlebenswichtigen Umwelten haben. Denn diese Art des Wirtschaftens wird in den nächsten Jahrzehnten der neue „Goldstandard" werden, wenn wir ein resilientes Zusammenleben der Menschheit auf diesem Planeten sicherstellen wollen.
Viele Unternehmen haben in den letzten Monaten und Jahren begonnen, Indikatoren abzuleiten, Handlungsfelder zu definieren und sich Ziele für die nächsten fünf, zehn oder auch 15 Jahre zu setzen. Derzeit sind die meisten Akteur:innen – egal ob Nachhaltigkeitsmanager:innen oder Topmanagement – aus nachvollziehbaren Gründen vor allem damit beschäftigt, die Compliance-Anforderungen sachgerecht zu erfüllen. Sobald die erste „Reporting-Welle" aber durchgezogen ist, sobald neue Strukturen für diese Prozesse geschaffen wurden, wird sich die Frage lauter stellen, wie die eigenen Handlungsfelder bearbeitet und die selbst gesteckten Ziele eigentlich erreicht werden können.
Fußabdruck und Handabdruck
Wenn wir die Nachhaltigkeitstransformation in der Wirtschaft schaffen wollen, brauchen wir eine neue „Beidhändigkeit": Evaluation und Innovation, Reduzieren und Gestalten, Fußabdruck und Handabdruck. Es ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch. Natürlich ist es sinnvoll (und unumgänglich), ein sauberes Reporting aufzusetzen und Transparenz zu erhöhen. Gleichzeitig (!) sind Unternehmen aber gut darin beraten, bereits heute einen Teil ihrer Aufmerksamkeit dafür einzusetzen, eine regenerative Innovationskompetenz aufzubauen, die für die Beantwortung der Zukunftsfragen gebraucht werden wird.
Dafür können methodische Ansätze genutzt werden, die aus anderen Innovationsfeldern bereits bekannt sind. Agile und iterative Vorgehensweisen, crossfunktionale Innovationsteams, Arbeiten in Sprints – all das sind Zutaten, die auch in der regenerativen Transformation nicht schaden. Inhaltlich handelt es sich allerdings um völlig neuartige Kompetenzen, die in den meisten Organisationen noch nicht umfassend verfügbar sind. Schließlich befinden wir uns gerade mitten in einem Prozess, in dem die Spielregeln der Wirtschaft neu geschrieben werden.
Flächendeckende regenerative Kompetenzen aufbauen
Unternehmen, die sich rechtzeitig auf die Zeit nach der Reporting-Welle vorbereiten, beginnen jetzt, sich mit dieser neuen Form der Beidhändigkeit oder Ambidextrie zu beschäftigen. Denn eines ist klar: Bei der notwendigen Innovation nur auf die Nachhaltigkeitsabteilungen oder die Innovationseinheiten einer Organisation zu schielen, greift zu kurz. Diese können die Innovationsprozesse zwar anleiten oder kuratieren, sind aber zwingend auf ein Mindestmaß an nachhaltiger und regenerativer Umsetzungskompetenz in allen Fachabteilungen angewiesen. Wer als Organisation nachhaltig oder gar regenerativ sein möchte, braucht nachhaltige und regenerative Kompetenzen in der gesamten Breite der Organisation!
Wie baut man solche Kompetenzen flächendeckend auf? Auf diese Frage gibt es sicherlich viele mögliche Antworten. Zwei Ansätze haben wir in den letzten Jahren erfolgreich getestet und umgesetzt: Einerseits können gezielte Teamentwicklungen mit einem Fokus auf regenerativen Kompetenzen helfen, andererseits kann es sinnvoll sein, ein Netzwerk von Innovationscoaches auszubilden, die – ähnlich wie die Agile Coaches in der Agilen Transformation – dezentral dazu beitragen, dass die regenerative Lösungskompetenz in der gesamten Organisation gesteigert wird.
An dieser Stelle sind auch die HR-Abteilungen eines Unternehmens gefordert, an der Nachhaltigkeitstransformation mitzuwirken. Denn genau diese Einheiten müssen dafür sorgen, dass die neuen Kompetenzen und die benötigten Future Skills in der Fläche der Organisation ankommen und dass Innovations-Lots:innen in einer ausreichenden Zahl zur Verfügung stehen.
Die „neue Beidhändigkeit" heißt: Die gesetzlichen Vorgaben sauber umsetzen, die Berichtspflichten erfüllen und dafür geeignete Prozesse etablieren auf der einen Seite. Gleichzeitig aber auch die Zeit nutzen, um neue Kompetenzen aufzubauen, die regenerative Innovationen ermöglichen und neue, zukunftsfähige Lösungen wahrscheinlicher machen. Unternehmen, die jetzt beginnen, sich mit diesem Kompetenzaufbau zu beschäftigen, werden in wenigen Jahren den entscheidenden Schritt voraus sein.
Dr. Simon Berkler ist Co-Founder von TheDive und seit über 20 Jahren als Unternehmer und Organisationsberater tätig. Mit TheDive arbeitet er an der Frage, wie eine lebensdienliche Weiterentwicklung des Wirtschaftssystems gelingen kann. Er ist ausgebildeter Organisationsentwickler und verfügt über langjährige Erfahrung in der Begleitung mittlerer und großer Unternehmen in ihren jeweiligen Transformationsprozessen. Seine Schwerpunkte liegen dabei in den Bereichen organisationale und regenerative Innovation. Zu diesen Themen ist er immer wieder auch als Dozent aktiv, beispielsweise am Schumacher College in Devon, UK. Seit 2014 unterstützt er die Bewegung der B Corporation dabei, sich in Deutschland zu etablieren; sein eigenes Unternehmen TheDive ist seit 2019 als B Corp zertifiziert. 2024 hat er gemeinsam mit Ella Lagé das Buch „Der Stellar Approach" im veröffentlicht. Der Stellar Approach ist ein Transformationsbaukasten, der Organisationen einen strukturierten Weg aufzeigt, wie sie eine neue, regenerative Innovationskompetenz flächendeckend verankern können, um damit zum notwendigen Update des Wirtschaftssystems beizutragen.