EU-Kommission will Rüstungsanlagen als nachhaltig erklären

Der aktuelle Kommentar von Aurel Eschmann, LobbyControl

Orwell wäre stolz: Die EU-Kommission möchte Rüstung als nachhaltig einstufen – wegen ihres vermeintlichen Beitrages zum Frieden. Recherchen von Taz und LobbyControl belegen: Dahinter steckt eine massive Kampagne der Waffenlobby.

©, pixabay.comSeit dem russischen Angriff auf die Ukraine und der Zuspitzung geopolitischer Spannungen herrscht Goldgräberstimmung in der europäischen Rüstungsindustrie. Die Nachfrage nach Rüstungsgütern kann kaum bedient werden, die Aktienkurse sind explodiert. Verteidigungsminister Pistorius möchte Deutschland bis 2029 „kriegstüchtig" machen. Auch für die EU-Kommission ist Sicherheit und Verteidigung eine der Top-Prioritäten. Vor dem Hintergrund ihrer strategischen Relevanz ist es nicht überraschend, dass die europäische Rüstungslobby derzeit in der Politik ein offenes Ohr für ihre Interessen zu finden scheint. Ein Ergebnis: Die neue EU-Kommission möchte private Investitionen in Rüstung als nachhaltig einstufen.
 
Lobbykampagne der Rüstungsindustrie
Es mag richtig sein, vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine die Rüstungsindustrie neu zu bewerten. Recherchen von Taz und LobbyControl decken aber eine großangelegte Lobbykampagne der Rüstungsindustrie auf. Nach dem Vorbild der Atomindustrie möchte sie sich einen Zugang zu Investitionen von nachhaltigkeitsbewussten Anleger:innen sichern. Ziel der Kampagne ist es nicht nur, Rüstungsinvestitionen als prinzipiell vereinbar mit Nachhaltigkeitskriterien einzustufen. Investitionen in „Verteidigung, Resilienz und Sicherheit" sollen sogar an sich als nachhaltig gewertet werden, da sie nach Auffassung der Industrie Frieden sichern und so erst Nachhaltigkeit ermöglichen würden.
 
Diese Argumentation hat Eingang in mindestens zwei der wichtigsten Strategiedokumente der EU-Kommission gefunden. Teilweise finden sich Formulierungen, die sich wortgleich mit Aussagen in Stellungnahmen eines Rüstungslobbyverbandes decken.
 
Dies ist ein weiteres Symptom davon, dass die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen ihre Politik zunehmend an Industrieinteressen ausrichtet. Wettbewerbsfähigkeit und Deregulierung sollen priorisiert werden, im Zweifel auch auf Kosten von Verbraucher:innen und Umwelt.

Die EU als Verbraucherschützer auf den Finanzmärkten
Viele Anleger:innen möchten ihr Geld in sogenannte ESG-Anlagen investieren, das bedeutet Anlagen, die Nachhaltigkeit fördern. ESG steht dabei für Umwelt (Environment), Soziales (Social) und gute Unternehmensführung (Governance), und bezeichnet die drei zentralen Nachhaltigkeitskriterien. Doch wie nachhaltig eine Anlage ist, lässt sich bei komplizierten Finanzprodukten oft nur schwer nachvollziehen. Um Verbraucher:innen den Zugang zu Informationen zu ermöglichen und Greenwashing zu verhindern, legt die EU Transparenzpflichten und Kriterien fest. Diese muss eine Anlage erfüllen, um sich „nachhaltig" nennen zu dürfen. Das wird in der sogenannten EU-Taxonomie und der „EU-Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzsektor" festgelegt.
 
Die EU nimmt hier also eine wichtige Rolle im Verbraucher- und Umweltschutz ein. Jedoch wurden die Definitionen der EU in der Vergangenheit bereits scharf kritisiert. Als die EU-Kommission auf Drängen von Deutschland und Frankreich 2022 Atomstrom und Erdgas als „nachhaltig" einstufte, warf ihr die Umweltorganisation WWF „strukturelles Greenwashing" vor. Rüstung, Tabak, Alkohol oder Glücksspiel gelten jedoch bis heute als nicht nachhaltig.
Das war der Rüstungsindustrie schon lange ein Dorn im Auge. Ihr entgeht damit viel Geld, das in nachhaltigen Fonds angelegt ist. Deshalb wirft sie ihre beträchtliche Lobbymacht dahinter, die ESG-Definitionen in ihrem Sinne zu ändern.
 
Die Lobbymacht der Rüstungsindustrie
Der Rüstungssektor gehört mit Sicherheit zu den einflussreichsten Lobbys in Brüssel. Eine Auswertung des EU-Transparenzregisters mit lobbyfacts.eu ergibt ein jährliches Lobby-Budget von ca. 11-15 Millionen Euro, das sich über Unternehmen und Verbände erstreckt. Seit der EU-Wahl 2019 traf sich die EU-Kommission insgesamt 356-mal mit Vertreter:innen der Rüstungsindustrie. Zwar sind diese Zahlen nur Annäherungen1, aber sie geben doch ein Bild über die finanziellen Mittel der Rüstungslobby und die privilegierten Zugänge, die sie zur EU-Kommission hat.

Besonders ist am Rüstungsbereich jedoch auch, dass Politik und Lobby ein gesteigertes Interesse aneinander haben. Denn die Kunden von Rüstungsunternehmen sind keine Individualverbraucher, sondern Regierungen. Die wiederum sind auf die Industrie angewiesen, um ihre Armeen auszustatten und geben dafür auch sehr viel Geld aus. Entsprechend geht es zwischen Rüstungslobby und Politik oft besonders intransparent zu und andere dürfen kaum mitreden.
 
Für die Jahre 2023 und 2024 finden sich insgesamt 44 Treffen von Rüstungslobbyist:innen und hohen Vertreter:innen der EU-Kommission, wie Thierry Breton, Josep Borrell oder Margarethe Vestager. Bei diesen Treffen wurde das Thema Verteidigung explzit als Thema angegeben. Auffällig ist, dass die Kommission zu diesem Thema ausschließlich die Rüstungsindustrie getroffen zu haben scheint. Zumindest findet sich kein Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft, bei dem das Thema angegeben wurde.
 
Aufmarsch der Rüstungslobby
Bei sieben Treffen der EU-Kommission mit Vertretern der Konzerne Leonardo, Airbus, Patria Oyi, Rolls Royce und der Lobbygruppe ASD ging es ganz offiziell um die EU-Taxonomie, nachhaltige Investitionen oder die „Defence Industry Policy". Die Rüstungsindustrie ist sowohl auf EU-Ebene als auch in den Mitgliedstaaten hervorragend koordiniert. Man kann sich also vorstellen, was durch diesen Aufmarsch der Waffenlobby für einen Druck auf die Kommission erzeugt wird.
 
 
Die Rüstungslobby hatte aber auch einen langen Atem. Das belegt eine Stellungnahme von März 2021, also knapp ein Jahr vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. In der Stellungnahme fordern große Verbände der Rüstungsindustrie aus sechs EU-Mitgliedsstaaten genau die Anerkennung ihres Sektors als nachhaltig, die sich später in den Positionen der Kommission wiederfindet. Doch Lobby-Strategien in der EU finden immer auch auf der Ebene der Mitgliedsstaaten statt. Und dank des neuerdings sehr viel umfangreicheren Lobbyregisters lassen sich gerade in Deutschland tiefe Einblicke in Argumentationen und Strategien der Lobby gewinnen.
 
Rüstung als positiv und nachhaltig kategorisieren
In Deutschland ist der Bundesverband der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) einer der wichtigsten Lobbyakteure des Sektors. Laut Lobbyregister hat der Verband 228 Mitglieder und ein Lobbybudget von rund 1 Million Euro. Präsident des BDSV ist der Vorstandsvorsitzende von Rheinmetall, Armin Papperger. Hauptgeschäftsführer ist Hans Christoph Atzpodien, ein ehemaliger Manager von ThyssenKrupp.
 
Seit 01.07.2024 müssen eingetragene Lobbyakteure im Register angeben, was ihre politischen Ziele sind und grundständige Stellungnahmen hochladen. Beim BDSV findet sich hier unter anderem das Ziel „Positive Inklusion von Rüstung in Nachhaltigkeitsregulatorik", das mit der folgenden Forderung konkretisiert wird: „Wir fordern ein bindendes Regelungsvorhaben, das Rüstung für EU und NATO Streitkräfte als positiv nachhaltig kategorisiert, ähnlich der Kategorisierung von Kern-Energie in der Umwelt Taxonomie." Dieses Ziel verfolgt der Verband unter anderem auch mit einer Kampagne unter dem Motto „Sicherheit ist die Mutter aller Nachhaltigkeit."

Bemerkenswert ist, dass die Rüstungsindustrie nicht nur nicht weiter kategorisch von nachhaltigen Anlagen ausgeschlossen werden soll. Die Lobby möchte vielmehr erreichen, dass die „Investitionen in Verteidigung, Resilienz und Sicherheit der [Europäischen] Union" u.a. wegen ihres Beitrages zu „Frieden und Sicherheit" grundsätzlich als nachhaltig definiert werden. Die einzige Einschränkung: Es sollen keine Waffen verkauft werden, die durch internationale Verträge verboten sind, die von EU-Mitgliedsstaaten unterzeichnet wurden. Wie wenige Waffen das betreffen würde, wird allerdings aus einer anderen Stellungnahme des BDSV aus dem Jahr 2022 zur EU-Taxonomie deutlich. Dort bemängelt der BDSV, dass die EU Nuklearwaffen in eine Liste von „gebannten" Waffen einschließen wollte, obwohl kein NATO-Staat den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen unterzeichnet habe.
 
Für die Waffenlobby, gegen Verbraucher und Umwelt
Eine Klassifizierung der Rüstungsindustrie als nachhaltig hätte weitreichende Folgen. Aktien der Hersteller von Panzern, Raketen oder gar Nuklearwaffen könnten sich in nachhaltigen Aktienpaketen und Fonds verstecken, ohne dass Anleger:innen sich dessen bewusst sind. Christian Klein, Professor für nachhaltige Finanzwirtschaft an der Uni Kassel, betont, dass dies nicht im Interesse von deutschen Anleger:innen ist: „Wir wissen aus unserer Forschung, dass zumindest deutsche Kleinanleger und Kleinanlegerinnen ,Rüstung’ als das Gegenteil von ,nachhaltig’ empfinden.Es besteht also die Gefahr, dass durch die Pläne der Kommission, Menschen zu Investitionen in Rüstung gebracht werden, die das eigentlich explizit nicht möchten. Für die Rüstungsindustrie wiederum wäre das ein attraktives Szenario, da sich neue Finanzierungsquellen öffnen.
 
Allerdings wären die Auswirkungen noch viel größer. Denn nicht nur, dass Rüstungsaktien sich fortan als nachhaltig bezeichnen könnten, Investitionen in die Verteidigung und Sicherheit der Union würden selbst zum ESG-Kriterium der EU. Das bedeutet, dass Investitionen nur dann als nachhaltig bezeichnet werden könnten, wenn sie auch diesen Zielen nicht auf „signifikante Weise" zuwiderlaufen. Es ist gut denkbar, dass dann Organisationen mit einem Fokus auf Abrüstung der Zugang zu Geldern aus ESG-Fonds erheblich erschwert würde.
 
Offenes Ohr für die Rüstungsindustrie
Dennoch scheint die EU-Kommission den Argumenten der Rüstungslobby ein offenes Ohr zu schenken. In der „Europäischen Industriestrategie für den Verteidigungsbereich" (EDIS), die von der Kommission im März dieses Jahres vorgestellt wurde, findet sich die folgende Aussage: „Sieht man von Waffen ab, die gemäß den von den Mitgliedstaaten unterzeichneten internationalen Übereinkommen verboten sind und daher von der EU als mit sozialer Nachhaltigkeit unvereinbar angesehen werden, sorgt die Verteidigungsindustrie angesichts ihres Beitrags zu Resilienz, Sicherheit und Frieden für mehr Nachhaltigkeit."
 
Auffällig ist, dass sich die Formulierung der Kommission stellenweise Wort für Wort mit der Formulierung aus der Stellungnahme des BDSV gleicht. Allerdings wurde das Kommissionsdokument einen Monat früher verfasst, als der Lobbyverband sein Schreiben verschickte. Die Kommission hat also nicht von diesem Schreiben abgeschrieben. Und doch ist es ein Indikator dafür, wie nah die Kommissionsposition an den Interessen der Rüstungsindustrie ist.
 
Treffen mit EU-Kommission schon vor offiziellen Konsultationen
Gegenüber der Taz kommentiert Johanna Bernsel, eine Sprecherin des Generaldirektors für Sicherheit und Verteidigung der Kommission (vergleichbar mit einem Staatssekretär), Timo Pesonen: „Der Zusammenhang zwischen dem EU-Rahmen für nachhaltige Finanzen und den Schwierigkeiten des Verteidigungssektors beim Zugang zu öffentlichen und privaten Finanzmitteln wurde im Rahmen einer Konsultation im Herbst 2023 aufgeworfen." Taz und LobbyControl konnten allerdings allein im Frühjahr des Jahres 2023 sechs Treffen zwischen Vertretern der Rüstungsindustrie und der EU-Kommission finden – also bevor die offiziellen Konsultationen überhaupt begonnen hatten.
 
Bernsel führt weiter aus, die Kommission habe über 180 Beiträge von Interessenträgern aus dem Finanzsektor, der Verteidigungsindustrie, den Mitgliedstaaten und Thinktanks erhalten, darunter auch zur Frage der Finanzierung und Nachhaltigkeit von Verteidigungsgütern. Unklar bleibt allerdings, wer genau konsultiert und ob Ausgewogenheit sichergestellt wurde, also beispielsweise Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände befragt wurden.
 
Warum wir Unternehmenslobbys nicht das Feld überlassen sollten
Aurel Eschmann, © LobbyControlDass die EU-Kommission im Interesse der Rüstungsindustrie handelt, ist auch ein Symptom einer Kehrtwende in ihren politischen Prioritäten. War 2019 noch ein ambitionierter Green Deal das Kernstück der Agenda Ursula von der Leyens, steht nun Wettbewerbsfähigkeit, Deregulierung und Industrieförderung ganz oben auf der Liste. Mit Blick auf geopolitische Konkurrenz und Spannungen geht es nun vornehmlich darum, die eigene Industrie zu stärken – notfalls auch auf Kosten von Gemeinwohl und Umwelt.
 
Deshalb möchte die EU-Kommission erneut den Nachhaltigkeitsbegriff im Interesse der Industrie aufweichen, wie sie es auch schon bei Erdgas und Atomenergie getan hat. Noch kann das allerdings verhindert werden. Bisher wurden die entsprechenden Regeln nicht angepasst. So bleibt noch Zeit, die EU-Kommission dazu zu verpflichten, auch andere Akteure als die Waffenlobby anzuhören.
 
Anleger:innen, die nachhaltig investieren möchten, wollen im Normalfall nicht in Rüstung oder Erdgas investieren und die EU sollte hier nicht dafür sorgen, dass sie im Interesse der Rüstungsindustrie getäuscht werden können. Ob Rüstungsproduktion tatsächlich Sicherheit und Frieden schafft und deshalb zu Nachhaltigkeit beiträgt, ist eine komplexe Diskussion, die einer breiten Diskussion mit Beteiligung von Industrie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft bedarf. Aber einfach die Argumente der Waffenlobby zu übernehmen und Aufrüstung mit Frieden gleichzusetzen, ist Neusprech, auf den George Orwell stolz gewesen wäre.
Dieser Text entstand unter Mitarbeit von Valentin Eitel.
 
 
Aurel Eschmann ist Campaigner für Lobbyregulierung und Lobbykontrolle bei LobbyControl.

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