Verleihung des Friedensnobelpreises in Kriegszeiten
Christoph Quarch würde den Preis in diesem Jahr am liebsten posthum an Immanuel Kant verleihen
Heute Mittag wird das Norwegische Nobelkomitee verkünden, wer in diesem Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird. Die Bekanntgabe wird mit Spannung erwartet. Einen klaren Favoriten gibt es nicht. Als mögliche Preisträger werden die russische Bewegung der Kriegsdienstverweigerer und die Ukrainische Pazifistische Bewegung gehandelt. Auch der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskyj ist im Gespräch. Aber kann man Institutionen und Personen auszeichnen, die an einem bestehenden Konflikt beteiligt sind? Und ist es überhaupt sinnvoll, in kriegerischen Zeiten wie diesen einen Friedensnobelpreis zu verleihen? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, wem würde der Philosoph im Jahre 2024 den Friedensnobelpreis verleihen?
Klare Sache: Immanuel Kant, posthum, in seinem 300. Geburtstagsjahr – als Anerkennung dafür, dass er als erster Denker der Geschichte mit seinem Essay „Zum ewigen Frieden" konkrete Vorschläge dafür unterbreitet hat, wie ein dauerhafter Friede zwischen den Nationen hergestellt werden kann. Kant setzte dabei vor allem auf das internationale Recht und auf die Einrichtung eines Völkerbundes, der sich einer verbindlichen Rechtsordnung unterwirft. Davon sind wir heute leider weit entfernt. Die Vereinten Nationen sind ein Papiertiger und der Weltsicherheitsrat blockiert sich selbst. Weltpolitik wird in von den G7 und neuerdings von den BRICS-Staaten gemacht. Und es findet sich niemand, der den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten Einhalt gebieten könnte. Ja, es findet sich nicht einmal eine Politikerpersönlichkeit, die als Mediator auftreten könnte. Von daher fällt mir persönlich kein Lebender ein, der den Preis verdient hätte.
Vielleicht werden ja deshalb zwei Organisationen als mögliche Preisträger in Betracht gezogen. Das wäre nicht das erste Mal. Etwa ein Fünftel aller bisher verliehenen Friedensnobelpreise wurde nicht an Einzelpersonen vergeben. Wäre das für 2024 eine sinnvolle Option?
In meinen Augen wäre das eher eine Verlegenheitslösung. So ist es mir bisher immer gegangen, wenn Organisationen wie die EU oder das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen prämiert wurden. Das liegt wahrscheinlich darin, dass ich den Sinn des Friedensnobelpreises vor allem darin sehen, den Preisträgern durch die Auszeichnung den Status eines Vorbildes zu verleihen. Und als Vorbild eignen sich Einzelpersonen besser als Institutionen oder Organisationen – was deren Verdienste in keiner Weise schmälern soll. Aber vielleicht liegt gerade hier das Problem: dass wir keine charismatischen Persönlichkeiten mehr haben, denen es zuzutrauen wäre, in der Ukraine oder im Nahen Osten erfolgreich zu vermitteln.
Tatsächlich sind die Friedensnobelpreise in den letzten Jahren eher an Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft gegangen. Wie erklären Sie sich, dass seit Barack Obama, der 2009 geehrt wurde, kein internationaler Top-Politiker unter den Preisträgern zu finden ist?
Vielleicht hat es mit der Causa Obama zu tun, dem das Nobelkomitee etwas vorschnell den Preis verliehen hat. Aber ich denke, dass es eher an der politischen Großwetterlage liegt. Wir sind mitten in einer Phase der geopolitischen Konfrontation, bei der sich mit den Vereinigten Staaten und China zwei Opponenten herausbilden, um die herum sich neue Bündnisse sammeln. Das macht den Ukraine-Konflikt so schwierig. Die USA sind Partei und China lässt Putin gewähren. In dieser Situation ist es so gut wie unmöglich, neutral zu bleiben. Selbst der Schweiz gelingt das nicht mehr. Das hat die halbseidene Ukraine-Friedenskonferenz in Genf gezeigt. Wer könnte in dieser Situation als glaubhafter Vermittler auftreten? Indien vielleicht. Modi hätte sich zum Anwärter auf den Nobelpreis machen können. Aber auch er scheint dafür nicht mutig genug zu sein. Und über Nahost haben wir noch gar nicht geredet!
Wäre es angesichts der Weltlage eine Option, den Friedensnobelpreis in diesem Jahr auszusetzen? Das wäre nicht das erste Mal. Auch von 1939 bis 1944 wurde er nicht vergeben.
Das ist gar keine schlechte Idee. Es könnte ein echter Weckruf sein, ein Ausrufezeichen. Die Botschaft wäre: Wacht auf Leute! Wir laufen Gefahr, auf einen dritten Weltkrieg hinzusteuern. Jedenfalls ist es kein gutes Zeichen, wenn sich keine Politiker von internationalem Rang mehr finden lassen, die im Nahen Osten und der Ukraine die Konflikt-Parteien an einen Tisch bekommen. Wenn man schon keine Vorbilder mehr findet, könnte diese Leerstelle ein Ansporn sein, in China, Indien oder sonst wo auf der Welt die nationalen Egoismen hintan zu stellen und die Verantwortung zu übernehmen, die den eigenen Machtansprüchen genügt; oder sich in Europa so zusammenzuraufen, dass von hier aus eine erfolgreiche globale Friedenspolitik möglich wird. Mit europäischer Rückendeckung wäre Frau Baerbock gar nicht mal die Schlechteste…
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 10.10.2024
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