Was ist Heimat?
Der Philosoph Christoph Quarch betrachtet die Debatte um die Rückführung syrischer Flüchtlinge nach dem Sturz von Assad
Es war ein seltsames Schauspiel, das in Deutschland geboten wurde, als die Nachricht vom Sturz des syrischen Diktators Assad die Runde machte. Noch war in Damaskus kein neuer Machthaber ernannt, da überboten sich bereits Politiker von Union und AfD darin, ihre Vorschläge für die Rückführung syrischer Flüchtlinge zu unterbreiten. Jens Spahn etwa regte an, Syrer mit einem „Handgeld" von 1000 Euro und einem One-Way-Freiflug zur Rückkehr „nach Hause" zu bewegen. Wobei er keinen Zweifel daran ließ, dass dieses „Zuhause" das kriegsgezeichnete Syrien sein müsse. Aber stimmt das überhaupt: Ist das Zuhause von Menschen gleichbedeutend mit dem Ort ihrer Herkunft? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, was halten sie von der Forderung, nun, da das Assad-Regime gestürzt ist, die syrischen Flüchtlinge nach Hause zu schicken?
Gar nichts halte ich davon. Dieser Vorschlag zeigt für mich den moralischen Niedergang einer ehemals respektablen Partei. Es gehört sich einfach nicht, Flüchtlinge wie eine Ware zu behandeln, über die man nach Gutdünken verfügen kann. Davon abgesehen ist es unklug, weil auf diese Weise die vielen Syrer, die sich hier unentbehrlich gemacht haben, verunsichert werden. Und es ist leichtsinnig, weil man gar nicht absehen kann, wie es in Syrien weitergeht. Was für mich als Philosophen aber noch mehr wiegt ist der Umstand, dass Spahn und seine Gesinnungsgenossen den Begriff der Heimat politisch auszuschlachten versuchen. Begriffe wie „Heimat" und „Zuhause" haben im politischen Raum nichts verloren.
Aber sie sind nun einmal da und finden bei vielen Wählern große Resonanz. Sie sorgen sich um ihre Heimat und meinen, dass die Flüchtlinge hier nicht zuhause sind. Das sind doch politische Positionen, die man nicht abtun kann, indem man sagt, der Begriff „Heimat" habe in der Politik nichts verloren?
Okay, aber wir sollten uns nicht darüber täuschen, dass Konzepte wie „Heimat" brandgefährlich sind, wenn nicht klar bestimmt wird, was sie bedeuten. Ist Heimat der Ort, an dem ich geboren wurde? Viele Menschen würden das verneinen, weil sie längst anderenorts heimisch geworden sind. Ist Heimat das Land, dessen Staatsbürger ich bin? Auch diese Gleichung geht oft nicht auf, weil viele Menschen sich in einem anderen Land sehr viel heimischer fühlen. Ist Heimat dort, wo man meine Sprache spricht? Diese Definition scheint mir noch am tragfähigsten, denn Heimat hat viel damit zu tun, wo man sich verständigen kann und verstanden fühlt. Und genau das kann für eine syrische Familie, die seit Jahren hier lebt, Arbeit gefunden hat und gut integriert ist ohne weiteres Deutschland sein.
Was aber, wenn Menschen, die in Deutschland leben, sich nicht mehr heimisch fühlen, weil im öffentlichen Raum immer mehr Menschen sichtbar werden, die ihrer Ansicht nach woanders zuhause sind?
Das ist ein Problem. Wenn Menschen sich an dem Ort, an dem sie leben, nicht mehr heimisch finden, ist das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährlich. Zumal es populistisch ausgeschlachtet werden kann. Da hilft es dann wenig, damit zu argumentieren, dass viele Migranten bei uns den Laden am Laufen halten – und zwar deshalb nicht, weil Heimat ein subjektives Gefühl ist. Heimat ist, wo man sich heimisch fühlt. Aber was genau einen dazu veranlasst, sich heimisch oder nicht heimisch zu fühlen, entscheidet jeder für sich. Deshalb ist das Konzept „Heimat" im politischen Raum fehl am Platze. Es ist eine Worthülse, mit der man Emotionen wecken kann, die aber für sachliche Entscheidungen kontraproduktiv ist.
Aber sollte man nicht dennoch den Syrern, die Deutschland als ihre Heimat empfinden, die Chance geben, hier zu bleiben?
Das subjektive Empfinden der Betroffenen sollte in der Politik keine zentrale Rolle spielen – weder das subjektive Befinden derer, die jetzt schreien „Schickt die Syrer nach Hause", noch das subjektive Befinden der Syrer, die sagen: „Wir fühlen uns hier zuhause." Ausschlaggebend sein sollten das geltende Recht und die Fakten: Wenn jemand in Deutschland Arbeit gefunden hat, Deutsch gelernt hat, gesellschaftlich eingebunden ist, dann sollten wir ihn oder sie willkommen heißen und zum Bleiben einladen. Genauso wie wir diejenigen, die beim Wiederaufbau helfen wollen, nicht daran hindern sollten, nach Syrien zurückzukehren. Am Ende müsste das dazu führen, dass alle den Ort, an dem sie leben, als Heimat empfinden können. Auch wir Deutsche. Wenn wir uns nur endlich von der Anmaßung freimachen würden, für alle anderen bestimmen zu wollen, was und wo ihre Heimat ist.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
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Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 10.12.2024
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