Milchbauerndrama

Oder: Ohne Not in Not?!


Florian Josef Hoffmann
Man weiß gar nicht, welches Wort man gebrauchen soll, für das, was auf den Höfen unserer Milchbauern geschieht. Drama? Tragödie? Oder gar Apokalypse des ländlichen Raumes? Wir ahnen es nicht nur, wir wissen, dass hier etwas böse schief läuft, und wir finden kein Argument, die Milchbauern dagegen zu schützen, uns dagegen zu wehren. Als sich vor zwei Jahren die Bienenpopulationen drastisch reduzierten, da wurde der Untergang der Menschheit an die Wand gemalt. Ohne Biene, keine Bestäubung, ohne Bestäubung keine Blüten, ohne Blüten keine Früchte, ..... Jetzt, da der Untergang der Hälfte der deutschen Milchbauern im Raum steht, fehlen die warnenden Stimmen für das große Ganze. Es sind ja "nur" die Milchbauern und -bäuerinnen, wenn sie "Opel" heißen würden, wäre alles anders...

Leider, denn: Milchproduktion ist wohl eine der nachhaltigsten Produktionen unseres Wirtschaftssystems. Sieht man vom geringen Dieselverbrauch der Milchbauern ab (der sich auch noch reduzieren lässt), werden nicht nur keine fossilen Rohstoffe verbraucht, sondern das Wachstum von Gras bindet CO2 aus der Atmosphäre und die Umwandlung in der ersten "Fabrikationsstufe" von Gras oder Heu in Milch erledigt der Wiederkäuer ohne weitere Energiezufuhr, ohne dass irgend ein Produkt, Nebenprodukt oder Abfallprodukt nicht verwertbar wäre oder auf natürlichem Weg entsorgt werden könnte. Nachhaltigkeit pur.

Wenn die Produktion von Rohmilch so "gesund" ist für alle, warum schützt man sie nicht, die Milchbauern und -bäuerinnen, die nichts lieber tun, als Milch zu produzieren? Die Blockade ist eine geistige, eine ideologische. Sie hat ihren Ursprung bei Adam Smith, beim Urvater des angloamerikanischen Liberalismus. Adam Smith war der berühmte schottische Gelehrte, dem es vor mehr als 200 Jahren gelang, in einem Buch den "Wohlstand der Nationen" zu erklären. Seine "unsichtbare Hand", der vorgebliche Steuerungsmechanismus der Marktwirtschaft, wurde geistiges Allgemeingut des Bildungsbürgertums und seine Theorie vom "natürlichen Preis" (Preistheorie) ist der Ausgangspunkt eines wirtschaftstheoretischen Modellsystems, der Mikroökonomie, auch Neoklassik genannt, die heute die meisten volkswirtschaftlichen Lehr-stühle weltweit belegt. Die Ökonomik hat sich Adam Smith ergeben. Auch unsere Ordoliberalen - Wilhelm Röpke, Franz Böhm, Ludwig Erhard und andere - haben sich letztlich diesen liberalen Vorstellungen ergeben, weil sie zwar einerseits staatliche Interventionen rechtfertigen, gleichzeitig aber an der Theorie der vollkommenen Konkurrenz festhielten und das Verbot von Kartellen durchsetzten. Letzteres erzeugte Marktradikalismus allerorten.

Aber was ist an der neoklassischen Preistheorie falsch, wo ist der Irrtum, wo ist die Blockade? Der Anfang des Irrtums liegt wohl schon im Begriff des "natürlichen" Preises. Als Adam Smith die Märkte und ihr Treiben intensiv beobachtete, lebte er noch in einer Welt weitgehend natürlicher Grenzen. Die Transportentfernung für ein Pferd auf ungepflasterten Wegstrecken war 30 Kilometer; der Weg, den der Bauer bereit war, morgens mühsam mit seinem Ochsenkarren zurückzulegen, um noch rechtzeitig als Anbieter seinen Verkaufsstand für Gemüse und Salat aufzubauen, betrug nur wenige Kilometer. Die Produktivität von Handwerkern war begrenzt, mehr als zwei paar Schuhe pro Woche ging nicht. Der Schmied eines Dorfes hatte Versorgungsfunktion, ein zweiter war überflüssig und hätte seinen Mann nicht ernährt. In den Städten wurden die Preise von den Räten festgelegt, um den ruinösen Preiswettbewerb bei Überangeboten zu verhindern.

Adam Smith erkannte den Zusammenhang zwischen Menge und Preis und meinte bei den Preisbewegungen der Güter des täglichen Lebens eine "natürliche" Preisbildung im Rahmen des Wettbewerbs zu entdecken. Eine solche konnte man annehmen, weil in der Realität über-all eine natürliche Knappheit gab, die zu einer quasinatürlichen Preisbildung führte. Unser Problem jedoch heute ist, dass es die natürliche Knappheit kaum mehr gibt! Industrielle Gesellschaften und unser Wachstumsdenken sind dafür geschaffen, alles im Überfluss zu produzieren. Da somit die "natürliche" Preisbildung durch Knappheit ausscheidet, muss sie durch künstliche Preisbildung ersetzt werden, sprich: durch eine künstliche Verknappung.

Adam Smith hat das übersehen bzw. konnte es nicht voraussehen, letztlich aber hat es ihn nicht interessiert, weil für ihn das Entscheidende das positive Ergebnis war: der Wohlstand der Nationen. Der Wohlstand des Gewerbetreibenden, des Anbieters interessierte ihn nicht. Was die Kaufleute taten, wie sie die Märkte einrichteten und regulierten, um den Zweck ihres Tuns, die Gewinnerzielung sicherzustellen, das lag nicht im Focus seiner Betrachtungen, das war ihm sogar suspekt, weil - so seine Feststellung - die Kaufleute bei allen Gelegenheiten die Köpfe zusammensteckten und sich mittels Absprachen "gegen die Kunden verschworen". Welch ein Irrtum! Der Vorteil des Kaufmanns, der im höheren Preis liegt, ist immer zugleich ein Vorteil für alle. Das Schlüsselwort heißt "Wertschöpfung". Je höher ein durchgesetzter Preis, umso höher die Wertschöpfung beim einzelnen Gut. Die Summe der Netto-Wertschöpfungen aus dem Verkauf seiner Produkte bei einzelnen Anbietern ergibt seinen Gewinn. Die Summe der Gewinne aller Kaufleute wiederum ergeben in der Summe das Sozialprodukt, also den Wohlstand der Nation. Aus dem Wohlstand der Nation ergibt sich der Wohlstand des Staates durch hohe Steuereinnahmen und der Wohlstand der Bevölkerung durch hohe Löhne und hohe Einkommen.

Genau dieses Prinzip gilt auch für den Milchpreis: Vor 25 Jahren richtete die EU europaweit Milchquoten ein und stabilisierten so den Milchpreis anstelle der Milliardensubventionen zuvor. In Deutschland sind aktuell circa 100.000 Milchbauern so reguliert. Die "künstliche" Verknappung der Angebotesmenge sicherte den Milchbauern seither ihr Einkommen und dem deutschen Verbraucher die Versorgung mit qualitativ hochwertiger Milch. Dann kam die globale Phase der Liberalisierung und Deregulierung: Im Jahr 2003 kündigte die EU zum Jahr 2015 das europäische Kartell der Milchbauern (Milchquote) und beschloss die stufenweise Anhebung der Quote - allein seit November 2008 um 4,3 Prozent. Da sich 100.000 Milchbauern weder absprechen können noch dürfen, rauschte und rauscht der Milchpreis zwangsläufig in die Tiefe. Die globale Wirtschaftskrise half dabei ungebremst mit. Richtig wäre deshalb die gegenteilige Maßnahme gewesen: den Ausfall der ausländischen Nachfrage durch eine Reduzierung der Quote aufzufangen. Die EU hat irrwitziger weise genau das Gegenteil veranlasst!

Und also erleben die Milchbauern jetzt die "vollkommene Konkurrenz", wie die Wirtschaftstheorie sie sich vorstellt. Moderne Transportmittel verhindern eine natürliche Verknappung in einzelnen Regionen. Die großen Milchviehhalter kompensieren ihren Ausfall an Einnahmen durch eine höhere Produktionsmenge. Deren zusätzliche Menge drückt in den Markt und beschleunigt den Preisverfall - so lange, bis ein Höfesterben die Angebotsmenge reduziert. Dieses Höfesterben ist im Gange. Geschätzte 30 bis 50 Prozent der Milchbauern werden aufgeben oder umstellen. Der "Schweinezyklus" hat dann die Milchviehhalter im Griff, unsichere Preisentwicklungen bestimmen die Zukunft und vernichten zeitweilig Wertschöpfung. Viele große und kleine Höfe, ihr Umland und der Wohlstand bleiben auf der Strecke. Der Verbraucher bekommt eine billigere und schlechtere Milch, aber er verdient auch weniger, denn auch die Milchbauern sind Verbraucher, auch seine Lieferanten und Versorger sind Verbraucher ...

Nicht der Verbraucher schießt sich selbst ins Knie, sondern die Kartell- und EU-Behörden schießen dem Verbraucher ins Knie. Sie sind die Regisseure der Tragödie, das Drehbuch dazu haben die Wirtschaftswissenschaftler und die Politiker geschrieben.
 
 
 
Von Florian Josef Hoffmann
 
 
Über den Autor:
Florian Josef Hoffmann, geboren 1946 in Marktoberdorf/Allgäu, hat in Nürnberg Betriebswirtschaft studiert und in Bonn Jura. Der Rechtsanwalt und Unternehmensberater hat als vielseitiger Unternehmer und Sanierer eine Veranstaltungshalle betrieben, eine Porzellan-Fabrik saniert, hat Hosen produziert, Software entwickelt, und einiges mehr. Als liberal-konservativer Politiker mit sozialem Impetus hat sich Hoffmann nach der Wende in Thüringen engagiert und war von 1991 bis 1993 Präsident der IHK Ost-Thüringen zu Gera.

Quelle:
Gesellschaft | Politik, 18.08.2009

     
        
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