"Nachhaltigkeit griffiger machen"

Interview mit Marlehn Thieme, Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung

forum-Herausgeber Fritz Lietsch im Gespräch mit Marlehn Thieme

Der Rat für nachhaltige Entwicklung (RNE) hat eine neue Vorsitzende. Die 1957 in Lübeck geborene Marlehn Thieme wurde 2004 in den Nachhaltigkeitsrat berufen und ist seit 2010 dessen stellvertretende Vorsitzende. Nach ihrem Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften und einer Referendarausbildung am Oberlandesgericht Hamburg ging sie zur Deutschen Bank nach Frankfurt, wo sie seit 2005 Direktorin im Bereich CSR ist. Seit 2008 ist sie Mitarbeitervertreterin im Aufsichtsrat der Deutsche Bank AG. Die engagierte Christin ist Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Foto: © Rat für Nachhaltige Entwicklung
Herzlichen Glückwunsch zur Wahl zur Vorsitzenden des Rats für Nachhaltige Entwicklung! Meines Erachtens denken Frauen immer ein wenig nachhaltiger als Männer. Sie sind jetzt als Ratsvorsitzende an einer wichtigen Stelle. Hat das aus Ihrer Sicht eine Signalwirkung?

Man sollte den Ratsvorsitz nicht überbewerten. Der Rat hat eine junge Geschichte und es gab bisher nur zwei Vorgänger. Es ist insofern ein besonderes Signal, als ich keine Politikerin bin, sondern aus der Zivilgesellschaft komme.
Es ist in allen gesellschaftlichen Bereichen - nicht nur in der Nachhaltigkeitsdiskussion - wichtig, dass Frauen sich auch in den Diskurs einbringen. Frauen können auch sehr gut Rat geben und entscheiden. Doch sie müssen sich mehr initiativ einbringen. In der Nachhaltigkeitsdiskussion sind Frauen wahrscheinlich etwas realistischer was Machbarkeit und Erwartungen anbetrifft und sie misstrauen eher den Daten, die digital berechnet werden, und ihren angeblich zwangläufigen Folgen.

Was planen Sie als neue Vorsitzende des RNE, um die so dringend notwendige Energiewende zu unterstützen?

Da fünf Mitglieder der Ethikkommission auch Mitglieder des Rates für nachhaltige Entwicklung waren, ist die Erwartungshaltung hoch, dass wir dieses Thema weitertragen. Wir stellen die kritischen Fragen: Welche Bedeutung wird die Energieeffizienz haben? Wie wird der Monitoringprozess gestaltet? Was braucht diese große Transformation, dieses Gemeinschafswerk an kulturellen Veränderungen noch? Das lässt sich schwierig verordnen. Daher widmen wir uns v.a. den kulturellen Konsequenzen, die die drei Grundfunktionen Wohnen, Transport und Mobilität betreffen.
Die Frage nach der Netzgestaltung wird von großer Bedeutung sein, aber auch die nach der Energieeffizienz und dem Zusammenspiel zwischen EU, Energieversorgern und Markt. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, systematischer zu denken - gerade bei Themen wie energetischer Gebäudesanierung dürfen wir Aspekte wie Rohstoffbilanz, Kreislaufwirtschaft und Recycling nicht aus dem Blick geraten lassen.

Wie kann das Großprojekt Nachhaltigkeit finanziert werden?

Ich glaube, dass wir in mancherlei Beziehung sehr staatsorientiert Nachhaltigkeitspolitik betreiben. Viele warten nur auf Fördergelder und andere fordern mehr Investitionssicherheit. Der Rat hat sich deshalb mit dem deutschen Nachhaltigkeitskodex insbesondere dem Finanzmarkt zugewandt, weil er darin einen wichtigen Hebel sieht. Hier wird mit dem "Comply or Explain"-Prinzip eine Standardisierung vorgenommen, die eine Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen schafft und zur Grundlage von vielen dezentralen Investitionsentscheidungen macht.

Der Rat will mithelfen, eine lebenswerte Welt für die nächsten Generationen zu schaffen. Welche Pläne haben Sie für die Jugend und die Bildungsförderung für Nachhaltigkeit?

Wir befinden uns in der UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" und führen sehr viele Dialoge mit jungen Leuten. Der prominenteste Dialog war wahrscheinlich der mit Deutschlands jüngsten kommunalen Abgeordneten. Auch die Vision 2050 wurde gemeinsam mit Jugendlichen entwickelt. Ich selbst chatte mit dem einen oder anderen auch immer noch! Die Jugend brennt für das Thema und ist darin auch sehr bewandert, viel bewusster als die Generationen zuvor. Auch bei Veranstaltungen wie dem Aktionstag Nachhaltigkeit am 4. Juni kommen wir mit Jugendlichen über Nachhaltigkeit ins Gespräch.

Würden Sie sich für ein Schulfach Nachhaltigkeit einsetzen?

Ich bin mir nicht so sicher. Nachhaltigkeit ist nicht die Beschreibung eines paradiesischen Zustands, sondern es ist eine Methode, Zielkonflikte unter veränderten Kriterien und Dimensionen zu lösen. Nachhaltigkeit bedeutet, dass man nicht nur auf kurzfristige Gewinnmaximierung setzt, sondern dass man soziale und ökologische Kriterien und längerfristige Ziele in den Diskurs der Zielkonflikte anders und verstärkt einbringt. Daher halte ich es für wichtiger, dieses Denkmuster in den angewandten Themenfeldern herkömmlicher Schulfächer hineinzubringen. Ich denke, mit mehr Schulfächern schaffen wir nicht mehr Lösungen. Wir müssen das Thema Nachhaltigkeit in die Schulfächer integrieren.

Wie alt ist eigentlich das jüngste Ratsmitglied?

Um die 50. Entscheidend ist, dass man jung denkt und offen bleibt für junges Denken, mit dem wir über die Dialogforen mit Jugendlichen in Kontakt kommen. Auch erzählen unsere ältesten Ratsmitglieder oft von ihren Enkeln, deren Denken und Perspektiven sie mit der Weisheit ihres Alters kombinieren. Daher glaube ich, dass das Lebensalter nicht das Entscheidende ist.

Die alles entscheidende Frage wird die große Transformation, der Kulturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft sein. Was ist hier konkret vom RNE geplant?
Wo sehen Sie konkret Optimierungs- und Handlungsmöglichkeiten? Was hat aus Ihrer Sicht gut funktioniert?


In zehn Jahren Nachhaltigkeitsstrategie und Nachhaltigkeitsratstätigkeit sind wir schon ein großes Stück voran gekommen, und viele Länder schauen auf uns.
Wir haben bewährte Muster der Zusammenarbeit zwischen RNE und Bundesregierung. Wir haben schon in der letzten Überprüfung der Nachhaltigkeitsstrategie über den einen oder anderen Indikator nachgedacht. Und über die Folgen wenn Indikatoren nicht auf grün, sondern auf gelb oder rot stehen. Dafür haben wir noch keine Reaktionsverfahren entwickelt. Ich glaube, wir sind noch nicht da, wo wir hinmüssen, um die Energiewende, um die große Transformation zu schaffen. Wenn einem Nachhaltigkeit als Wort entgegen geworfen wird, verbinden Menschen damit keine Personen, die dafür stehen. Obwohl wir in so einer personenfixierten Kommunikationswelt leben! Wir haben kein Bild für Erfolge. Daher bleibt Nachhaltigkeit für viele Menschen, die sie eigentlich im Täglichen leben müssten, seltsam fremd. Das Komplexe griffiger zu machen ist eines der Dinge, die wir für die Nachhaltigkeitsstrategie der nächsten Jahre noch einmal stärker in den Blickpunkt rücken müssen.

Welche Rolle spielt die Macht der Wirtschaft für den RNE?

Der Rat steht im intensiven Dialog mit den Unternehmen. Wir haben über CSR vielfältige Dialoge und Veranstaltungen gemacht. Ein Resultat daraus ist die Arbeitsgruppe bei der Bundesregierung zu CSR. Es gibt auch viele Unternehmensvertreter im RNE, die Brücken bauen. Wir sehen auch, dass die Entwicklung von Bio- und Nachhaltigkeitslabeln für Konsumenten weiter fortgeschritten ist. Wir sehen mehr Unternehmen, die nachhaltiges Handeln auch ausdrücklich zum Kernanliegen ihrer unternehmerischen Tätigkeit machen. Es gibt inzwischen Handelsketten und Produktionsunternehmen, die längst darauf gesetzt haben, dass nachvollziehbare Nachhaltigkeit den Abnehmern ihr Geld wert ist.

Eine Frau mit Ihrem Hintergrund weiß, dass Geld wie Welt regiert. Welches Jahresgesamtbudget steht dem Rat für seine Arbeit zur Verfügung?

Geld alleine regiert die Welt nicht. Dafür, glaube ich, sollte man als Demokrat stehen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein - das gehört zu meiner christlichen Auffassung! Das Jahresbudget des Rats beträgt ca. 2,2 Mio. Euro inkl. 19% Mehrwertsteuer. Davon müssen alle Kosten - Projekte, Personal, Verwaltung, Miete, Technik - bezahlt werden. Wir haben zehn Mitarbeiter/innen in unserer Geschäftsstelle. Es ist ein kleiner Beirat im Verhältnis zu anderen.

Könnte man durch eine Vergrößerung des Budgets den Hebel des Rates verändern? Oder glauben Sie, dass dies eine angemessene Budgetgröße für die Aufgabe ist, die sich der Rat gestellt hat?

Mit mehr kann man sicher immer mehr machen. Aber wir können nicht auf der einen Seite sagen, dass die Verschuldung des Staates zu hoch ist und auf der anderen im gleichen Atemzug mehr verlangen. Unser Budget ist sicher am unteren Ende, gemessen an dem Aufgabenspektrum, das der Rat mit seiner Querschnittfunktion zu bewältigen hat. Man kann allerdings auch mit zu viel manchmal anderen eine Entlastung verschaffen, nach dem Motto "Wir haben ja den Rat für Nachhaltige Entwicklung, da brauchen wir selbst nichts mehr tun". Ich glaube, es ist wichtiger, dass man sich Gehör verschafft. Und selbst mit diesem kleinen Aufwand sind wir sehr wirksam.

Wie wird die Arbeit der Ratsmitglieder honoriert? Ist das alles ehrenamtlich?

Sie bekommen keine Honorare wie auch andere Räte, Beratungsorganisationen der Bundesregierung. Wir bekommen eine Aufwandsentschädigung für unsere tageweise Präsenz. Dabei sind wir auf einem Niveau, das für die Ratsmitglieder den Charakter einer Ehrenamtsfunktion betont.

Also wie die Ehrenamtspauschale bei unter 500 Euro am Tag?

In dieser Größenordnung.

Wie schaffen Sie es, die enorme Arbeitsbelastung aus unterschiedlichen Aufgaben zu schultern und dabei trotzdem so gut gelaunt und freundlich zu sein?

Ich freue mich, in unserer Gesellschaft mitwirken zu können. Ich bin ein zutiefst hoffnungsfroher, gläubiger Mensch. Ich habe einen wunderbaren Mann und traumhafte Töchter, die mir Kraft geben. Das ist etwas, was mich immer wieder motiviert. Aber man muss sich auch hin und wieder zurückziehen. Und eine über 25-jährige Tätigkeit in der Deutschen Bank hat mir Gelassenheit vermittelt. Dass ich nicht alles verändern kann. Das ich aber, wenn ich arbeite, auch etwas schaffen kann. Ich bin ein Mensch, der gut abends noch lesen, lernen, sich bilden kann. Das tue ich. Insofern freue ich mich immer, wenn diese Heiterkeit meines Daseins rüberkommt.

Gibt es für Ihr Schaffen und für Ihr Anliegen ein Vorbild? Jemand, der sie dazu inspiriert hat?

Ich habe nicht ein Vorbild. Ich habe ein Motto meiner Mutter aufgenommen: Man muss Dinge durchdenken, und dann braucht man die Kraft, die Dinge zu bewegen, die man verändern kann und die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann - und die Weisheit, das eine vom anderen zu trennen. Das hilft mir ganz erheblich.

Was ist Ihre persönliche Vision? Wie stellen Sie sich das Leben, Ihr Leben in 20 Jahren vor?

Ich bin nicht der Typ für große Visionen. Ich glaube, dass es die vielen kleinen Korrekturen sind, die Leben und Gesellschaft verändern. Dafür benötigen wir Einsicht, Vorbilder und Rahmen. Das ist nicht immer nur ein Vorbild, sondern viele Vorbilder, die es auf unterschiedliche Weise machen. Nur so können wir das Individuum in seiner Freiheit wertschätzen. Wir sollten Nachhaltigkeit nicht kleinreden, kleindenken und uns missgünstig gegenseitig beobachten, sondern sie als Ausdruck der Verantwortung im Rahmen der uns gegebenen Freiheit als Menschen wahrnehmen.

Dabei dürfen nicht so sehr die Probleme im Vordergrund stehen, sondern die Begeisterung für die Veränderung. Sie motiviert Menschen. Und sie nennen es nicht immer Nachhaltigkeit, sondern sie nennen es "technische Innovation" oder "Miteinander von Familie und Beruf" oder "Zivilgesellschaftliches Engagement". In 20 Jahren erhoffe ich, dass ökonomisches und ökologisches Denken nicht mehr gegeneinander ausgespielt wird. : Wenn wir nicht ökonomisch erfolgreich bleiben, dann werden wir ökologisch nicht umbauen können. Wenn wir ökologisch nicht umbauen, werden wir ökonomisch nicht erfolgreich sein.

Welches sind Ihre ersten kleinen Nachhaltigkeitsschritte?

Manche kleinen Schritte sind Selbstverständlichkeiten. Ich bin in sehr sparsamen Verhältnissen groß geworden. Ich habe immer noch eine Neigung für Wiederverwertung und kann kein Essen wegschmeißen, ich esse nicht viel Fleisch und versuche gezielt zu heizen. Bei mir mussten die Kinder auch nicht jeden Tag vollkommen frisch gewaschen angezogen sein. Da habe ich eine gesunde Schnoddrigkeit, die Dinge auch unter nachhaltigen Aspekten sehr entspannt zu betrachten.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

Im Profil
Die 1957 in Lübeck geborene Marlehn Thieme wurde 2004 in den Nachhaltigkeitsrat berufen und ist seit 2010 dessen stellvertretende Vorsitzende. Nach ihrem Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften und einer Referendarausbildung am Oberlandesgericht Hamburg ging sie zur Deutschen Bank nach Frankfurt, wo sie seit 2005 Direktorin im Bereich CSR ist. Seit 2008 ist sie Mitarbeitervertreterin im Aufsichtsrat der Deutsche Bank AG. Die engagierte Christin ist Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Quelle:
Gesellschaft | Politik, 17.04.2012

     
        
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