Schluss mit Einseitigkeit!
Wirtschaftsstudierende fordern Pluralität in der Lehre
Wirtschaftsstudierende protestieren international gegen Inhalt und Form der Wirtschaftswissenschaft. Sie verlassen provokativ die Hörsäle und organisieren Widerstand gegen die Mainstream-Ökonomik.
Wer ein Studium der Wirtschaftswissenschaften beginnt, der wird ziemlich früh mit dem fast zwei Kilo schweren Buch "Grundzüge der Volkswirtschaftslehre" von N. Gregory Mankiw konfrontiert werden. Der Autor ist durch sein Werk einer der einflussreichsten Ökonomen der Welt geworden. Dafür genießt er hohes Ansehen - sollte man meinen.
Was sich am 2. November 2011 in Mankiws Hörsaal der Harvard University zugetragen hat, zeugt nicht unbedingt von einem solchen Ansehen: Dutzende Studierende verlassen provokativ die Vorlesung, um gegen den Inhalt der Lehre zu protestieren. Diese kollektive Respektverweigerung an einen der renommiertesten Ökonomen der Welt ist nur die Spitze des Eisbergs. Überall formen sich studentische Initiativen, die gegen das Gelehrte und die Art und Weise der Vermittlung aufbegehren - eine in der neueren Wissenschaftsgeschichte einmalige Situation. Auch wir vom Netzwerk Plurale Ökonomik reihen uns in diese Kritik ein. Warum tun wir das?
Der Einfluss der Ökonomik auf die Welt
Wirtschaftswissenschaft ist keine Elfenbeinturm-Wissenschaft in dem Sinne, dass es für die Welt ziemlich egal ist, was sich ein Wissenschaftler in seiner Kammer zusammenfantasiert. Ökonomische Analysen und Empfehlungen rechtfertigen Reformen und ganze Wirtschaftssysteme. Die deutsche Bundesregierung beschäftigt im Sachverständigenrat, den Ministerien und ihren Beiräten einige Dutzend Ökonomen. Die in diesen Gremien erarbeiteten Gutachten haben großen Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesrepublik.
Ein Beispiel für den Einfluss der Ökonomen auf die Welt ist die Ablösung des Keynesianismus durch Milton Friedmans Monetarismus, welcher ab Mitte der 1970er Jahre als "Reagonomics" und "Thatcherism" die Welt umgestaltete. Hatte John Maynard Keynes nach der großen Depression von 1929 noch für eine Regulierung des Banken- und Finanzwesens, eine Stärkung der Nachfrageseite und starke Gewerkschaften geworben, läuteten die "Chicago Boys” um Friedman einen großen Paradigmenwechsel ein. Das Ergebnis: Eine Umverteilung von unten nach oben, massive Entlastungen für Vermögende, eklatante Schlechterstellung der Arbeiter.
Auch in der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007/2008 spielten Ökonomen ein wenig glorreiche Rolle: Ihre Berechnungen trugen maßgeblich zu der Gestaltung der Finanzmärkte mit ihren immer komplexeren Finanzprodukten bei. Ein entscheidender Faktor für die Entstehung der Krise. Natürlich trägt nicht allein die Ökonomik Verantwortung für diese Entwicklungen. Nichtsdestotrotz erweisen sich die Wirtschaftswissenschaften häufig als Wegbereiter bestimmter Politiken oder als Richtungsgeber gesellschaftlicher Entwicklung.
Die vorgetäuschte Wertfreiheit
Mainstream-Ökonomen verstehen sich gern als wertfrei, als wissenschaftlich neutral arbeitend. Doch bereits in den Annahmen, auf denen sie ihre Modelle aufbauen, steckt zwangsläufig eine Wertung. Selbst nachdem das Modell des homo oeconomicus an Bedeutung verliert, bleibt Nutzenmaximierung ein zentrales Prinzip. Auch die Anerkennung von Effizienz als zentrales Kriterium, die Definition von Krisen und Problemen wie Erwerbslosigkeit oder allein schon die Fokussierung auf die monetäre Seite des Wirtschaftens bedeuten eine Wertung. Ökonomik ist unausweichlich normativ, sie kann sich nicht gegen Normativität entscheiden sondern nur gegen oder für die Reflexion derselben.
Besonders problematisch ist diese Normativität deshalb, weil sie einseitig ist. Durch die Dominanz einer ökonomischen Schule, der Neoklassik, wird die Welt immer wieder aus der gleichen, normativen Perspektive betrachtet. Die Einseitigkeit der praktizierten Wirtschaftswissenschaft wirkt über die Politikberatung auf die Politik. Wenn hauptsächlich Neoklassik betrieben wird und diese Ergebnisse liefert, so bekommt die Politik ebenso diese einseitigen Handlungsalternativen vorgestellt.
Für die Anerkennung und Reflexion dieser Normativität machen wir uns stark. Ökonomen dürfen keine Wertfreiheit vortäuschen, die die Erkenntnisse eines einzelnen, neoklassischen Paradigmas als ökonomische Naturgesetze verkauft. Ökonomen sollten sich selbst und den Studierenden immer wieder bewusst machen, was die Annahmen ihrer Modelle implizieren. Die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse passt dabei ins Bild: Eine Gedankenschule, die absolut alles, von der Bildung über das Privatleben bis zum BIP, nur aus ihrer Perspektive erklären möchte, schafft eine Welt, in der ökonomische Kriterien immer zentraler werden.
Unsere Forderung: Pluralismus!
Der Blick einer Wissenschaft, in diesem Fall der Ökonomie, auf einen Gegenstand, kann immer nur durch bestimmte „Brillen der Erkenntnis" vorgenommen werden. In den Wirtschaftswissenschaften gibt es hierfür fast nur noch eine Brille: Die der Neoklassik und ihrer Schwestern. Was sie durch ihre Brille erkennt, deklariert sie als Wahrheit, obwohl andere Schulen ganz andere Dinge erkennen. Es gibt zwar eine Vielfalt innerhalb der Neoklassik, die oft als Einwand gegen die Forderung nach Pluralismus zitiert wird. Was wir jedoch fordern ist ein Pluralismus der über die Grenzen dieser einen Brille hinausgeht. Ein Pluralismus in dem die Ökonomie aus verschiedenen Perspektiven analysiert wird.
So bedeutet die Forderung nach Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften
auch, der Politik und damit der Gesellschaft neue Wege zu erschließen. Die
bisherigen Wege führten immer wieder in Krisen und konnten die drängenden
Menschheitsprobleme nicht lösen.
Mankiws Lehrbuch beginnt mit zehn einfachen Grundregeln der Ökonomik, die als Wahrheiten herübergebracht werden. Von "dauerhaften Wahrheiten" schreibt auch Samuelson in seinem ähnlich einflussreichen Lehrbuch. Was folgt ist jedoch Modelllogik, die die Welt nur aus einer Perspektive betrachtet, und zwar nur jener Perspektive, welche die zugrundeliegenden Annahmen und verwendeten Methoden zulassen. Der "Mankiw-walkout" ist auch eine Ablehnung dieser einseitigen Perspektive.
In einer pluralen Ökonomik wird sich keine Schule, kein Paradigma als Verkünder der Wahrheit verstehen. Der Diskurs über die Werte und über das Grundsätzliche ist nötig, wenn sich eine Wissenschaft nicht paradigmatisch verkapseln soll. Pluralismus würde bedeuten, vieles von dem, was heute als Wahrheit gilt, zur Disposition und zur Diskussion zu stellen. So wie es nicht die eine wahre Physik und nicht die eine wahre Medizin gibt, so ist auch die Neoklassik nicht die einzig wahre Ökonomik.
Über
das Netzwerk (im Kasten)
Das Netzwerk Plurale Ökonomik e.V. ist ein Zusammenschluss von mittlerweile 20 studentischen Initiativen aus Deutschland und Österreich, die sich an ihren Universitäten aktiv für eine bessere ökonomische Bildung einsetzen. Ihnen fehlt Theorienvielfalt und Praxisbezug in der VWL. Um dem entgegen zu wirken, betreiben die Studierenden Selbststudium, organisieren (Ring-)Vorlesungen und Diskussionen oder nehmen an Konferenzen teil. Zahlreiche Materialien zur pluraler Bildung und ihre weiteren Aktivitäten finden sich auf https://www.plurale-oekonomik.de/home/. Das Netzwerk Plurale Ökonomik ist in der International Students Initiative for Pluralist Economics (ISIPE) http://www.isipe.net/aktiv, in der sich 65 Studierendeninitiativen aus 30 Ländern für weitreichende Veränderungen der VWL einsetzen.
Gesellschaft | Bildung, 30.09.2014
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