BIOFACH 2025

Stimmenvielfalt auf hohem Niveau

forum-Redakteurin Mareke Wieben berichtet vom Fachkongress Betriebliches Gesundheitsmanagement 2015

Rund 130 Führungskräfte, Betriebsärzte, Gesundheitsbeauftragte, Betriebsräte, aber auch Berater und Anbieter informierten sich am 29. und 30. Oktober in Köln über aktuelle BGM-Themen und diskutierten mit den Referenten.

Die Themen hätten vielfältiger nicht sein können. Professor Badura von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Uni Bielefeld startete als Moderator in seiner Einführung mit einer Statistik, nach der Schweden 14 Jahre länger beschwerdefrei leben als Deutsche. Und das, obwohl Krankenkassen in Deutschland 46 Millionen Euro jährlich in Gesundheitsförderung investieren, damit allerdings nur 0,2 Prozent der Unternehmen erreichen. Seine Botschaft war deutlich: Es hapert in Deutschland an einer fundierten Bedarfsanalyse und die Wirksamkeit der Investitionen wird nicht ausreichend evaluiert.

„Das Präventionsgesetz kommt" – eine Staatssekretärin lehnt sich aus dem Fenster

Gespannt warteten alle auf den aktuellen Stand aus der Politik zum seit Jahren erwarteten Präventionsgesetz. Mit einem solchen sollen Maßnahmen zur Vorbeugung und Früherkennung von Krankheiten und zur Gesundheitsförderung geregelt werden. Ingrid Fischbach, Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, geht davon aus, dass der vierte Versuch, das Gesetz auf den Weg zu bringen, gelingen wird. Sie fügte hinzu, dass sie sich normalerweise mit solchen Aussagen nicht so weit aus dem Fenster lehne, diesmal aber guten Grund habe, zuversichtlich zu sein. Durch eine nationale Präventionsstrategie, eine jährliche Präventionskonferenz und einen Bericht solle die Prävention nachhaltig vorangetrieben werden.

Badura erhofft sich von dem neuen Vorstoß, dass der Fokus nicht nur auf den Krankenkassen liegt. Es soll sich seiner Ansicht nach vor allem in den Betrieben etwas ändern und Unternehmer, die nachweislich in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter investieren, sollen belohnt werden. Fischbach dazu: „Mir persönlich widerstrebt ein Bonus. Warum soll ich Unternehmen für etwas belohnen, von dem sie doch ohnehin profitieren?" Ihr Appell an die Unternehmen: Nicht auf das Gesetz warten, um zu wissen, welche Maßnahmen anerkannt werden, sondern loslegen.


BGM–Zahlen belegen wachsende Bedeutung und eröffnen neue Märkte

Der wirtschaftliche Nutzen eines BGMs wird nach einer weltweiten Literaturauswertung der IGA (Initiative Gesundheit und Arbeit) mit einem Return on Investment von 1:5,9 angeben – so das Zitat von Fritz Bindzius von der Deutschen Rentenversicherung. Seinen Umfrageergebnissen nach halten 86 Prozent der Unfallversicherungsträger den Stellenwert des Themas „Gesundheit und Betrieb" in den nächsten fünf Jahren für sehr bis außerordentlich wichtig.

Eine weitere spannende Zahl hatte Norbert Wieneke vom TÜV Rheinland mitgebracht: Das Arbeitssicherheitsgesetz definiert in Verbindung mit der Vorschrift der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung einen Bedarf und damit ein Marktvolumen für Dienstleistungen in Höhe von 2,2 bis 2,8 Mrd. Euro! Wie ein moderner Arbeits- und Gesundheitsschutz durch Outsourcing-Lösungen gut organisiert werden kann, veranschaulichte er mit einer kurzweiligen Zeitreise durch den Arbeitsschutz.

Erfahrungen aus den Unternehmen zur Fehlzeitenanalyse

Dr. Christian Feldhaus, Betriebsarzt der RWE, plädierte in seinem Vortrag dafür, die Fehlzeiten nicht überzubewerten. Für die RWE sind vor allem Mitarbeiterumfrageergebnisse (Arbeitszufriedenheitsindex, Führungs- und Motivationsindex) sowie der Umsetzungsgrad der Maßnahmen bedeutende Kennzahlen. Entsprechend betreffen 20 Prozent des Bonus für Führungskräfte Arbeitssicherheits- und Gesundheitskennziffern! Seine Begründung: Zahlen aus eigenen Erhebungen zeigen, dass das Führungsverhalten den größten Einfluss auf Gesundheit und Motivation hat. Dr. Christian Gravert, Deutsche Bahn, ist überzeugt, dass intrinsische Begeisterung einem Kennzahlensystem überlegen ist. Für ihn sind die Arbeitsbedingungen, die Eigenverantwortung und der Führungsstil die wichtigsten Stellschrauben für ein erfolgreiches BGM. In Hinblick auf die Fehlzeiten gab er zu bedenken, dass ein Arbeitnehmer in Deutschland mehr verdient, wenn er zu Hause bleibt, als wenn er zur Arbeit geht (z.B. spart er dann Fahrt- und Verpflegungskosten). Deshalb zählen aus seiner Sicht Sinnhaftigkeit der Arbeit, Mitarbeiterzufriedenheit und empathisches Führungsverhalten mehr als ein Bonus oder Award.

„BGM senkt nicht den Krankenstand", der Überzeugung ist Ralf van Os von Thyssen Krupp Steel. Der hemdsärmelige Redner erklärte mit trockenem Humor, dass er auf den Wunsch seines Vorgesetzten zu den Fehlzeiten („Mach das da mal weg") nur eine Antwort hat: Zu viele Einflussgrößen. Als Beispiel brachte er den Zusammenhang zur Arbeitslosenquote. Sehr wohl lässt sich aber die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen beurteilen. So kann zum Beispiel mit einer Rückenschule die Zahl der Muskel-Skeletterkrankungen gesenkt werden. Das heißt aber nicht zwingend, dass damit auch der Krankenstand sinkt. Dass die Gesundheitsberichte der Krankenkassen für die einzelnen Unternehmen nur bedingt aussagekräftig sind, darin waren sich Feldhaus und van Os einig: Je größer die Zahl der Mitarbeiter, desto mehr ähneln die Ergebnisse erwartungsgemäß dem Deutschlandschnitt.

„Die Zahl der psychischen Erkrankungen ist stabil" – Handlungsbedarf besteht trotzdem

Mit einer provokanten These betrat auch Fabian Arimond, Precire Health Coaching, die Bühne: „Die Zahl der psychischen Erkrankungen ist stabil". Er geht davon aus, dass nur 10-20 Prozent der Betroffenen eine korrekte Diagnose erhalten und heute zu viele psychisch Erkrankte „gelabelt" werden. In eine ähnliche Kerbe schlug auch Dr. Olaf Tscharnezki von Unilever: „Psychische Störungen waren schon immer sehr häufig und sind ganz normal". Nach der 15/30/50-Regel, so führte der Betriebsarzt aus, leiden heute 15 Prozent unter einer psychischen Störung, 30 Prozent auf das Jahr gesehen und 50 Prozent auf das Leben bezogen. Badura sieht unabhängig davon, ob die Zahl früher auch schon hoch war, Handlungsbedarf. Das Rezept von Tscharnezki: „Sich um die Mitarbeiter kümmern, miteinander reden und nicht übereinander. Außerdem mehr Bewegung, das macht den Kopf frei". Er beklagte, dass man im Arbeitsschutz Anweisungen zu Verhaltensänderungen geben darf, bei Gesundheitsthemen aber nicht. Gravert sieht das gelassen: „Jeder kann nur sich selbst ändern und nicht andere". Für ihn ist es Teil von „Diversity", z.B. Raucher oder Übergewichtige, die ihr Verhalten nicht ändern möchten, zu akzeptieren.

Auch Dr. Filip Mess, Leiter BGM der Uni Konstanz, möchte nicht zu viel Energie in die 20 Prozent der Mitarbeiter stecken, die für Gesundheitsthemen nicht affin sind. Ihn beschäftigt dennoch die Frage, wie die Maßnahmen bzw. Angebote zum Mitarbeiter gelangen können, wenn die Mitarbeiter nicht zur Maßnahme kommen. Die Lösung sieht er in der Kommunikation, allen voran in der persönlichen Ansprache.

BGM-Innovationen – „90 Prozent der Gesundheitsapps sind Schrott"

In den Pausen wurde vor allem über einen anderen Aspekt diskutiert, nämlich seine Aussage, dass inzwischen über 300.000 Gesundheitsapps auf dem Vormarsch sind, mit teilweise gigantisch hohen Klickraten. Da geht es zum Beispiel um Cybertraining, Stresscoaching, Kalender zur Medikamenteneinnahme oder Berechnung der Fruchtbarkeitstage oder ganz simpel um einen „Stubenhockeralarm". Einige Teilnehmer verbargen nicht, dass sie solche Entwicklungen zutiefst ablehnen. Auch Mess warf einen kritischem Blick zum Beispiel auf den Datenschutz, wenn ausgewählte Apps mit Datenbanken der Arbeitgeber gekoppelt werden. Oder wenn Gespräche und Sozialkontakte wegfallen, weil nicht mehr gemeinsam im Sportteam trainiert wird und eine „Stressapp" das Gespräch mit dem Chef ersetzt. Auch wenn Mess 90 Prozent der Apps für „Schrott" hält, sieht er grundsätzlich in solchen technischen Errungenschaften eine gute Ergänzung, um bestimmte Zielgruppen („Jüngere mit Smartphone") zu erreichen.


Für Astrid Funken von der Barmer Krankenkasse heißt das Zauberwort „Co-Creation". Eindrucksvoll beschrieb sie die zunehmende Bedeutung und gute Erfahrung mit der Partizipation, also dem aktiven Einbeziehen der Mitglieder zum Beispiel in Unternehmerforen bei Produktentwicklungen. „So kreativ kann man selber gar nicht sein". Für sie sind digitale Serviceangebote wie Online-Präventionsprogramme wichtige Profilierungsinstrumente.

Arimond überraschte mit einem innovativen Ansatz zur Prävention psychischer Belastungen, dem sprachpsychologischen Screening. Das funktioniert so: Der Mitarbeiter ruft eine Telefonnummer an und absolviert ein ca. 10-minütiges, automatisiertes Interview. Anschließend wird das Gespräch in Hinblick auf Wortwahl und Stimmeigenschaften von einer Software analysiert und der Teilnehmer bekommt eine Rückmeldung über seinen Belastungszustand und ein entsprechendes Online-Coaching- bzw. Seminarangebot. Einige im Saal staunten nicht schlecht über solche neuen Möglichkeiten, andere waren skeptisch: Muss ich einen Computer fragen, ob ich gerade Stress habe? Ist die Sprache nicht nur eine Momentaufnahme? Wie wahrscheinlich ist es, dass Menschen mit depressiven Symptomen den Antrieb haben, teilzunehmen? Eine der Anwesenden imitierte ihre schwäbischen Landsleute und stellte infrage, ob das System mit von Natur aus mürrisch klingenden Dialekten umgehen kann.


Genderaspekte im BGM - „Frauen leben gesünder, Männer halten ihren Gesundheitszustand aber für besser"

Andreas Schmidt vom BGF-Institut brachte dem Publikum Argumente für geschlechtersensible Präventionsarbeit näher. Seine amüsant vorgetragenen Thesen: Frauen leben gesünder (Ausnahme: Arzneimittelkonsum), Männer halten ihren Gesundheitszustand aber für besser und sind mit ihrer Gesundheit zufriedener. Der Krankenstand ist bei beiden nahezu gleich, wenn auch die Verteilung nach Krankheitsursachen unterschiedlich ist. Frauen würden doppelt so häufig wegen Burnout krankgeschrieben und beklagten häufiger fehlende Regenerationszeit. Männer machten schneller aus einem seelischen Problem ein körperliches und empfänden ständige Erreichbarkeit eher als Ausdruck von Wichtigkeit und weniger als Stressfaktor. Schmidts Forderungen in Hinblick auf ein BGM: Genderorientierte Zusammensetzung der BGM-Teams, geschlechtsspezifische Datenerhebung, Zugang und Beteiligung zu BGM-Angeboten erhöhen durch die richtige Auswahl der Angebote und eine geschlechterspezifische Ansprache: „Wenn Sie einen Mann zu einem Kochevent einladen, bitten Sie ihn besser nicht, Schürze und Tupperschüssel mitzubringen". Nach den Erfahrungen von Badura unterscheiden sich die Erwartungen von Männern und Frauen zu den Arbeitsverhältnissen (z.B. Führung, Betriebsklima) kaum.

Individuelle Biografien und Demografischer Wandel - vorsorglich am Bedarf vorbei rekrutieren?

Thomas Keck von der Deutschen Rentenversicherung Westfalen beleuchtete die Folgen des Demografischen Wandels und dürfte den einen oder anderen Teilnehmer beunruhigt haben, als er in seinen Statistiken zur Altersstrukturanalyse von einem Renteneintrittsalter von 69 Jahren ausging. Die DRV reagiert heute schon auf den erwarteten Fachkräftemangel, indem sie jetzt mehr Mitarbeiter einstellt als nötig wäre und mit 190 verschiedenen Arbeitszeitmodellen lockt. Für Keck ist eine lebensphasenorientierte Personalpolitik der Schlüssel für Mitarbeiterzufriedenheit und Mitarbeiterbindung. Vorausgesetzt, die Führungskräfte tragen das BGM-Konzept mit. Die beiden Unternehmensvertreter Gravert und Tscharnezki sorgten mit einem ähnlichen Einstieg in ihre Vorträge für ein Schmunzeln: Früher war der Lebenszyklus der Mitarbeiter überschaubar und einschätzbar: Schule, Ausbildung, Berufseinstieg, Familiengründung, Rente. Heute machen Auslandserfahrungen während der Ausbildung, berufsbegleitendes Zweitstudium und erneute Familienplanung mit 40 oder 60 eine lebensphasenorientierte Personalführung nicht gerade einfacher. Gravert fordert eine „Wandlungskompetenz" und meint damit eine zunehmende Flexibilität in Hinblick auf geeignete Arbeitsplätze und individuelle Biografien, die im BGM berücksichtigt werden müssen.
Es gibt also noch viel zu tun.


Wirtschaft | Führung & Personal, 12.11.2014

     
        
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