Mutig und fesch samma
Das Veränderungsatelier Bis es mir vom Leibe fällt veredelt Kleider und rettet sie damit vor der unverdienten Vergessenheit.
Eine Attacke auf die große Verschwendung und eine Geschichte des Gelingens.
„Mutig samma ned, aba fesch samma" – dieser böse Spruch über die Österreicher müsste für Lisa Prantner umformuliert werden, denn sie hat beides: Mut und Stil. Zwei notwendige Eigenschaften, wenn man selbst Mode macht und sie in Berlin verkaufen möchte. Unternehmensberater würden es als geradezu wahnsinnig bewerten, in einer der hippesten Lagen der Hauptstadt ein kleines Geschäft zu eröffnen, das gemeinhin als Änderungsservice bezeichnet würde.
Doch genau das hat Lisa Prantner 2011 getan. Begonnen hat sie mit diesem Konzept in den Hackeschen Höfen, zog dann 2013 weiter nach Berlin-Schöneberg.
Der Laden mit dem theatralischen Namen Bis es mir vom Leibe fällt ist allerdings keine normale Änderungsschneiderei. Eine kleine Vorsilbe macht hier den großen Unterschied: Hinter diesen Schaufenstern wird eben nicht ge-, sondern verändert. Vier junge Frauen bewahren dort alte und neue Kleider vor dem Vergessen. Sie nennen sich „Wachküsserinnen", weil sie in Kleiderschränken Schlafendes zum Leben erwecken, indem sie nähen, filzen, stricken, sampeln, upcyceln ...
Hier dreht sich alles um die Wiederbelebung von Textilien, die sich bereits in der Welt befinden und für die in der Wegwerfgesellschaft eigentlich eine kürzere Lebensdauer vorgesehen war: Massenware, über die, wirtschaftlich gewollt, der Trend hinwegfegt; Fehl- und Frustkäufe, die letztlich nur für die Wachstumswirtschaft produziert wurden; Billigware zum Niedrigpreis, auf Kosten anderer. Oder auch Sachen, die verschlissen sind oder gefunden wurden, die man geschenkt oder vererbt bekam, sich angeeignet hat oder die man nie wieder loslassen möchte.
Einzigartig, charaktervoll und verführerisch
Nach der Behandlung durch Bis es mir vom Leibe fällt sind die Kleider nicht nur einzigartig, sondern plötzlich wieder charaktervoll und verführerisch. Dafür wird viel getan: aufgepeppt, repariert, umgeformt, umgenutzt und bis zur letzten Faser alles wiederverwendet. Kein Kundenwunsch bleibt unerfüllt oder wird abgelehnt. „Selbst eine einzelne selbstgestrickte Socke, wo nur eine Masche wiederaufgenommen werden muss, wird von uns angenommen", bekräftigt die als Modedesignerin ausgebildete Esther Kaya Stögerer, zeigt das Beweisstück und beschaut es liebevoll mit großen dunklen Augen. Völlig klar: So etwas will man einfach bei sich behalten, bis es einem eben vom Leibe (oder vom Fuße) fällt.
Reparieren statt wegwerfen, vereinzigartigen statt verbrauchen, oder etwas Altes für etwas ganz Neues verwenden – dafür werfen sich die Verändererinnen kräftig ins (Näh)Zeug. Hier sind Profis am Werk, und man spürt den Stolz der Chefin, als sie die Mitarbeiterinnen vorstellt: Hier, Irene Nigg aus Südtirol – stets zu erkennen an ihrer schwarzen Barettmütze – leitet die Schöneberger Frauenriege von Herrenmaßschneiderinnen und Designerinnen. Da, Esther Kaya Stögerer ist zwar die Jüngste, darf sich aber „Veränderin der ersten Stunde" nennen, denn sie war von Anfang an dabei. Unterstützt werden sie von der gelernten Designerin Maria Richter und der Schneiderin Saskia Tritto.
Ob Frosch, ob Klamotte oder ob Mensch – jeder möchte von den Vieren wachgeküsst werden, am liebsten gleich – geknutscht.
Ja, das Wachküssen ist die romantisierende Auslegung dessen, was im Veränderungsatelier praktiziert wird, aber doch einen ernsten Kern hat: Es geht eben nicht nur um modische Oberflächenattribute, sondern die Arbeit geht auch unserer Kultur an den Kragen. Das Reparieren richtet sich gegen die Verschwendung von Ressourcen, das manuelle Vereinzigartigen kennt keine Massenfertigung unter miesen Arbeitsbedingungen, keine Ausbeutung, Kinderarbeit und auch keine Konformität durch den Geschmack der Mehrheit.
Kampfansage mit Schere und Nadel
Dass die Kampfansage ernst gemeint ist, zeigt ein an der Atelierwand hängendes Foto des Veränderungsteams, auf dem als tableau vivant – ein durch lebende Personen arrangiertes Gemälde – Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix nachgestellt ist. Damals, im Frankreich der Julirevolution 1830, das im Originalbild zu sehen ist, erhoben sich die Pariser Bürger gegen die reaktionäre Politik; heute kämpfen die lang- und rothaarige Prantner und ihr Team ebenfalls für eine Erneuerung – für die Erneuerung einer reparaturbedürftigen Welt. Nicht mit Gewehren, Pistolen und Lanzen, wie die Protagonisten des Originalgemäldes, sondern mit Schneider- und Designutensilien. Nicht unter der französischen Trikolore, sondern unter der Fahne des Labels. Ganz zentral, als Allegorie der Freiheit: die Anführerin Lisa Prantner.
„Ich könnte das nicht. Die Mädchen sind Vollblut-Schneiderinnen und strotzen vor Upcycling- und Man-könnte-doch-Ideen – ich bin da mehr Designerin", gesteht die Chefin im weit schwingenden folkloristischen Rock mit Vivienne-Westwood-Karo-Print, der in der Hüfte mit Applikationen einer schwarzen Herrenhose aus den 1920er-Jahren kombiniert wurde.
Die rührige Frau kann das auch aus einem weiteren Grund nicht: Neben dem Veränderungsatelier gibt es noch das Atelier Lisa D., das in Berlin-Mitte geblieben ist und wo sie seit 1995 ihre eigenen Kollektionen verkauft – dort muss sie immer wieder vor Ort sein. Bis es mir vom Leibe fällt überlässt sie vertrauensvoll „ihren Mädchen".
Den eigenen Lebensweg erzählt Prantner wie eine Kausalitätskette: Zuerst war sie Kunsterzieherin, dann Performance-Künstlerin, und schließlich entschied sie sich ganz bewusst für die Praxis: Auch Modedesign ist für Prantner Handwerkskunst. Ihre „alte" soziale Umwelt nimmt diese persönliche Entwicklung als einen Rückschritt wahr, erzählt die Kleidererfinderin lachend: „Auf der Bühne im Wiener Burgtheater konnte ich durch pure Performance nichts ausrichten, was von Dauer ist, heute kann ich aktiv eingreifen".
Doch eines ist geblieben: Wie einst im Theater provoziert sie gern.
Dazu gehört, nachhaltiger ökologischer Mode mit Ironie und auch Misstrauen zu begegnen: „Weil man nie sicher sagen kann, ob ein Stoff voll und ganz ökologisch ist und ob mit den Arbeiterinnen in den singalesischen Webereien wirklich fair umgegangen wird, heißt meine nächste Öko-Linie Das richtige Kostüm im falschen Leben." Es ist wahre Freude, die sie am Spiel zwischen dem Glamour ihrer Branche und der Kulturkritik Adornos hat.
Richtig auch im falschen Leben versucht Lisa Prantner aber ihre Mitarbeiterinnen zu behandeln: „Klar, ich bin die Chefin! Das merkt nur keiner, weil es hier demokratisch zugeht." Stupide Abläufe gibt es hier nicht. Jeden Monat wird ein Designtag für alle Mitarbeiterinnen organisiert, wo die Schneiderinnen sich gegenseitig beflügeln, austauschen, anstecken und gemeinsam neue Dinge entwickeln können.
„Das Veränderungsatelier war die beste Idee meines Lebens! – Egal was andere sagen", resümiert die Design-Amazone Prantner. Warum also die beste Idee nicht weiter ausbauen? Zu Festivals wie dem Steirischen Herbst in Graz wird seit neuestem eine mobile Veränderungswerkstatt aufgebaut. Dort können mitgebrachte Kleidungsstücke von ihren Besitzerinnen selbst bearbeitet werden, unter Anleitung der Berliner Fachfrauen. Die Dinge in die Hand nehmen heißt die temporäre Filiale. Weil sie selbst noch mobiler ist als ihre temporäre Filiale, war Lisa Prantner auch am Eröffnungstag von Bis es mir vom Leibe fällt gar nicht vor Ort. Sie rief aus der Ferne in Berlin an und sagte freudig: „Mädels, macht schon mal den Laden auf!" Das ist Performance.
Dana Giesecke
leitet die Stiftung FUTURZWEI und trägt – bis sie ihr vom Leibe fällt – die älteste und meistgeflickte Jeans Berlins.
Lesen Sie mehr „Geschichten des Gelingens" im FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015/16 (S. Fischer Verlag) und auf: www.futurzwei.org
Lifestyle | Mode & Kosmetik, 01.04.2015
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2015 - Nachhaltige Mode erschienen.
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