BIOFACH 2025

Der T(h)urmblick

Die Sustainable Development Goals sind da - und jetzt?

Ich schreibe diesen T(h)urmblick am 13. August – World Overshoot Day. Ab morgen versündigen wir uns wieder an unseren Kindern und Enkeln, da wir ihnen durch Übernutzung von Ressourcen die Chance versagen, sich genauso wie wir weiterentwickeln zu können. Jedes Jahr eine schmerzliche Erinnerung, insbesondere wenn man selbst Kinder hat und ‚nach mir die Sintflut’ keine Gedankenoption ist.
 
© freshidea, fotoliaAm dem Tag, an dem Sie diesen T(h)urmblick lesen, sind wir vielleicht alle etwas hoffnungsvoller. Die UN General Assembly wird im September nach über zweijähriger Beratung die Sustainable Development Goals (SDGs) auf den Weg gebracht haben. 17 Überziele und 169 Einzelziele. Die Verhandlungen im Vorfeld waren umfangreich, über verschiedene Institutionen und Arbeitsgruppen verteilt und haben sich neben den Zielsetzungen selbst auch parallel mit Fragen der Finanzierung und Implementierung befasst. Das ist Schwerstarbeit gewesen und so mancher Verhandler brauchte sicherlich erst einmal eine Entziehungskur von diesem Verhandlungsmarathon. Soweit so gut. Wir sind weitergekommen!
 
Die SDGs gelten nicht nur für Entwicklungsländer, sondern für alle Länder. Die 17 Ziele umfassen viele der dringenden Problembereiche, in denen wir uns keine Nachlässigkeiten mehr erlauben dürfen. Und gemäß Planungen müssen die Ziele bis 2030 erfüllt sein.
 
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Freude …
Warum springe ich nicht auf, am heutigen Earth Overshoot Day, und freue mich über all dies Erreichte? Ich denke es liegt an folgenden Punkten:
  • Die Präambel sagt mir jetzt, dass nachhaltige Entwicklung nicht aus drei P’s besteht, sondern aus fünf P’s: Planet, People, Prosperity, Peace und Partnership. Was daran ist neu? Frieden ist ein Effekt, und Partnerschaften sind ein Modus Operandi aus der Triple Bottom Line. Was für eine Luftnummer.
  • 17 Überziele sind es nun geworden mit 169 Unterzielen. Ich nehme versuchsweise mal die Agenda 21 von 1992 zur Hand und mache stichpunktartig einen Abgleich. Außer Überziel Nummer 16 eigentlich nichts Neues. Was haben wir die letzten 23 Jahre also geschafft?
  • Schaut man sich die einzelnen Ziele genauer an, so bleibt mir zu oft ein fader Nachgeschmack. Überziel Nummer drei heißt: „Ensure healthy lives and promote well-being for all at all ages." Es folgen neun Unterziele und vier Implementierungsschwerpunkte, allesamt Arbeitsaufträge für die Weltgesundheitsorganisation und anstehende Handelsakkorde. Das Wort ‚well-being’ taucht im gesamten Text nicht mehr auf und wird nicht einmal definiert. Es bleibt also beim Alten: weltweit Krankheiten zurückdrängen und, wenn möglich, eliminieren. Doch ‚well-being’ bedeutet mehr und beschreibt verschiedene Ebenen, aus denen sich für Menschen ein würdiges und glückliches Leben ergibt. Entweder geht man fahrlässig mit dem Begriff um oder man konstatiert, dass man es nicht besser weiß. Letzteres wäre dramatisch.
  • Die Umsetzung der globalen Über- und Unterziele wird den nationalen Regierungen überlassen, weil man Rechts­systeme und nationale Eigenheiten berücksichtigen und Freiheiten lassen will. Wie soll das funktionieren? Mal abgesehen davon, dass sich in Berlin mindestens ein halbes Dutzend Ministerien in Abstimmungsfragen aufreiben wird oder sich gar nicht erst zuständig fühlt, dauert die Umsetzung in nationales Recht erfahrungsgemäß lange. Ich habe im SDG-Text kein Datum gefunden, bis wann man von einer Umsetzung ausgeht.
  • Noch dazu kommen Fragen der Erfolgsmessung, es gibt nämlich noch keine Indikatoren, die man messen muss. Das darf sich jede Regierung – wohl auch wegen der Existenz bereits bestehender nationaler Nachhaltigkeitsstrategien – selbst ausdenken. Es ist mir unerklärlich, warum es nicht zumindest zu jedem Überziel einen oder mehrere Indikatoren geben kann, die für alle Länder gelten. Nun, da bleibt also noch viel Arbeit, schließlich will man auf UN-Ebene jährliche Berichte zum Gesamtzustand herausbringen. Wie das ohne Regelung eines Daten- und Indikatorenrahmens geschehen soll, erschließt sich mir nicht, ebenso wenig wie man 2019 auf einer Folgekonferenz den Fortschritt ansehen möchte.
  • Was macht man jetzt als Unternehmen mit den SDGs? Zur Kenntnis nehmen sicherlich, weitermachen wie bisher sowieso. Werden GRI, IIRC, SASB und andere jetzt ihre Rahmenwerke anpassen? Wohl eher nicht. Werden Rating- und Ranking-Organisationen ihre Fragebögen anpassen? Wohl auch nicht. Wartet man also auf die Fragebögen der statistischen Ämter, die irgendwann in Anpassung der Nachhaltigkeitsstrategie und als Datenumsetzungsgehilfe der Bundesregierung und der Länder Indikatorenangaben einfordern? Wahrscheinlich. In Summe fehlt mir die viel stärkere direkte Unternehmensansprache in den SDGs. Man baut auf Partnerschaften, Finanzierungs- und Implementationsregelungen, vieles davon außerhalb der SDG-Dokumentation. Mir fehlt der Glaube, dass Unternehmen, außer durch Gesetze und Verordnungen getrieben, jetzt in die Hände spucken und sagen: „Jetzt wollen wir die SDGs mal unter die Lupe nehmen und bei uns implementieren." Nur durch den Finanzierungs- und technischen Implementierungsmechanismus darauf zu hoffen, dass Unternehmen jetzt besonders aktiv in der Problemlösung werden, ist fraglich.
Ein integrales Denken, wie im letzten T(h)urmblick für Unternehmen dargestellt, hätte auch bei den SDGs geholfen. Zu viel Beharrungsvermögen, bestehende mentale Denkmuster und institutionelle Absicherung standen bei den Verhandlungen dem entgegen. Schade, wieder kein ausreichender Durchbruch.

Ralph Thurm
ist Gründer und Managing Director von A|HEAD|ahead.
Für forum schreibt er regelmäßig die Kolumne „Der T(h)urmblick" und lädt ein zur Diskussion aktueller Themen. Schreiben Sie an: ralph.thurm@kpnmail.nl

Gesellschaft | Politik, 01.10.2015
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2015 - Ertrinken wir in Plastik? erschienen.
     
        
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