Messung von Nachhaltigkeit
Von Lydia Illge und Reimund Schwarze
Nachhaltigkeit ist heute ein allgemein anerkanntes Leitmotiv der Politik. Es gibt kaum ein politisches Programm, das nicht das Etikett der Nachhaltigkeit für sich bemüht: Die öffentlichen Haushalte sollen nachhaltig konsolidiert, die sozialen Sicherungssysteme nachhaltig finanziert, die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse mit dem Verbraucherschutz nachhaltig verzahnt werden, der Energieverbrauch soll nachhaltig gedrosselt und in Forschung und Bildung nachhaltig investiert werden. In der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung heißt es: "Nachhaltigkeit ist der rote Faden, der sich durch alle Bereiche der Reformpolitik der Bundesregierung zieht." Weiter heißt es dort: "Nachhaltigkeit ist eine gesellschaftliche Modernisierungsstrategie und nicht die Fortführung der Umweltpolitik mit anderen Mitteln. Sie erfordert eine ausgewogene Berücksichtigung von umwelt-, wirtschafts- und sozialpolitischen Zielen." Dieses als "Drei-Säulen-Konzept der Nachhaltigkeit" bekannt gewordene Zielbündel ist heute in der politischen Nachhaltigkeitsdebatte unumstritten und bereits in der Verbindung von umwelt- und entwicklungspolitischen Zielen in der Agenda 21 angelegt. Getragen wird dieses Nachhaltigkeitsverständnis durch die Erkenntnis, dass ein langfristiges ökologisches Gleichgewicht nur erreicht werden kann, wenn parallel ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit gleichrangig angestrebt werden. "Nachhaltigkeit" wird damit zu einem komplexen politischen Programm, das im Kern durch die normativen Vorgaben Generationengerechtigkeit, soziale und politische Teilhabe sowie internationale Verantwortung getragen wird.
Damit Nachhaltigkeitspolitik wirksam wird, braucht sie klare politische Vorgaben, deren Einhaltung gemessen und kontrolliert werden kann. Dies geschieht in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung über einen Satz von Nachhaltigkeitsindikatoren. Das Indikatorensystem der Bundesregierung umfasst dabei so unterschiedliche Kenngrößen wie Energie- und Rohstoffproduktivität, Entwicklung der Bestände ausgewählter Tierarten, Finanzierungssaldo des Staatssektors, Bruttoinlandsprodukt, Zahl der Wohnungseinbruchsdiebstähle, Verhältnis der Bruttojahresverdienste von Frauen und Männern oder Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit. Dies sind allesamt messbare Größen und daher geeignet für die Erfolgskontrolle der Politik, aber sie scheinen willkürlich, unverbunden und erlauben in dieser Form weder eine zusammenfassende Bewertung noch eine transparente Abwägung der unvermeidlichen Zielkonflikte. Als besonderes Problem erweist sich der Versuch, konsistente Indikatoren für die ökonomische und soziale Nachhaltigkeit zu bestimmen.
Ist das Wachstum des Inlandsprodukts ein Indikator für ökonomische Nachhaltigkeit oder nicht vielmehr eine Ursache für ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsprobleme, z. B. bei sozialen Sicherungssystemen, die im Vertrauen auf ein immer währendes Wirtschaftswachstum konstruiert wurden? Ist die Quote der Erwerbstätigen ein Maß für nachhaltigen sozialen Zusammenhalt oder nicht vielmehr Ausdruck einer zunehmenden Vermarktung sozialer Beziehungen, die über andere Indikatoren wie Zeitverwendung ganz anders zu bewerten ist, nämlich also bloße Zeitverschiebung in den formellen Bereich der Ökonomie?
Die obigen Beispiele zeigen, dass wir bei der integrierten Messung von Nachhaltigkeit wissenschaftlich noch am Anfang stehen. Das DIW Berlin hat deshalb einige führende Nachhaltigkeitsforscher im In- und Ausland gebeten, ihren Forschungsstand zu diesem Thema in einer praxisnahen und problemorientierten Weise darzulegen. Dabei ist eine Zusammenstellung von Konzepten, Methoden und Praxisbeispielen entstanden, die mindestens dreierlei dokumentiert:
Wenn dazu größere Rechenwerke wie Gesamtrechnungen nötig sind, sind die Institutionen und die Datenbestände dafür in einer nachhaltigen Forschungsanstrengung aufzubauen. Es ist eine wichtige forschungspolitische Aufgabe, den Fundus an klarem Wissen um die Grenzen jedes einzeldisziplinären Beitrags stärker als bisher in den Nachhaltigkeitsdiskurs einzubinden und entsprechend die Wirtschaftswissenschaft für diesen Diskurs fortzuentwickeln.
Gekürzter Beitrag aus
Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 73 (2004), 1, S. 5-9
www.diw.de/deutsch
Damit Nachhaltigkeitspolitik wirksam wird, braucht sie klare politische Vorgaben, deren Einhaltung gemessen und kontrolliert werden kann. Dies geschieht in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung über einen Satz von Nachhaltigkeitsindikatoren. Das Indikatorensystem der Bundesregierung umfasst dabei so unterschiedliche Kenngrößen wie Energie- und Rohstoffproduktivität, Entwicklung der Bestände ausgewählter Tierarten, Finanzierungssaldo des Staatssektors, Bruttoinlandsprodukt, Zahl der Wohnungseinbruchsdiebstähle, Verhältnis der Bruttojahresverdienste von Frauen und Männern oder Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit. Dies sind allesamt messbare Größen und daher geeignet für die Erfolgskontrolle der Politik, aber sie scheinen willkürlich, unverbunden und erlauben in dieser Form weder eine zusammenfassende Bewertung noch eine transparente Abwägung der unvermeidlichen Zielkonflikte. Als besonderes Problem erweist sich der Versuch, konsistente Indikatoren für die ökonomische und soziale Nachhaltigkeit zu bestimmen.
Ist das Wachstum des Inlandsprodukts ein Indikator für ökonomische Nachhaltigkeit oder nicht vielmehr eine Ursache für ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsprobleme, z. B. bei sozialen Sicherungssystemen, die im Vertrauen auf ein immer währendes Wirtschaftswachstum konstruiert wurden? Ist die Quote der Erwerbstätigen ein Maß für nachhaltigen sozialen Zusammenhalt oder nicht vielmehr Ausdruck einer zunehmenden Vermarktung sozialer Beziehungen, die über andere Indikatoren wie Zeitverwendung ganz anders zu bewerten ist, nämlich also bloße Zeitverschiebung in den formellen Bereich der Ökonomie?
Die obigen Beispiele zeigen, dass wir bei der integrierten Messung von Nachhaltigkeit wissenschaftlich noch am Anfang stehen. Das DIW Berlin hat deshalb einige führende Nachhaltigkeitsforscher im In- und Ausland gebeten, ihren Forschungsstand zu diesem Thema in einer praxisnahen und problemorientierten Weise darzulegen. Dabei ist eine Zusammenstellung von Konzepten, Methoden und Praxisbeispielen entstanden, die mindestens dreierlei dokumentiert:
- Wir brauchen für die integrierte Messung von Nachhaltigkeit eine Methodenvielfalt, um Nachhaltigkeitspolitiken unter verschiedenen Blickwinkeln messen und bewerten zu können. Die gegenwärtigen ökonomischen Methoden sind nicht geeignet, die Dimensionen der Nachhaltigkeit umfassend zu messen.
- Die Messsysteme auf globaler, nationaler und lokaler Ebene und bei Einzelunternehmen können nicht gleich sein, sondern müssen kontextabhängig gestaltet werden. Je größer der Betrachtungszusammenhang, desto schwieriger ist die Integrationsaufgabe. Der Beitrag der Wirtschaftswissenschaften ist auf allen Ebenen wichtig.
- Transparenz und Kohärenz sind essentielle Kriterien für die Auswahl der Integrationsmodelle. Letztendlich führt die Integration ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele zu einer Abwägungsentscheidung, die bei einer umfassenden Modernisierungspolitik demokratisch legitimiert werden muss, wobei die Bedürfnisse zukünftiger Generationen durch geeignete Institutionen gesichert sein muss. Transparenz ist für diese politische Entscheidung eine wichtige Voraussetzung. Kohärenz verlangt, dass wir die Wechselwirkungen zwischen den Einzelzielen explizit und damit auch quantitativ modellieren.
Wenn dazu größere Rechenwerke wie Gesamtrechnungen nötig sind, sind die Institutionen und die Datenbestände dafür in einer nachhaltigen Forschungsanstrengung aufzubauen. Es ist eine wichtige forschungspolitische Aufgabe, den Fundus an klarem Wissen um die Grenzen jedes einzeldisziplinären Beitrags stärker als bisher in den Nachhaltigkeitsdiskurs einzubinden und entsprechend die Wirtschaftswissenschaft für diesen Diskurs fortzuentwickeln.
Gekürzter Beitrag aus
Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 73 (2004), 1, S. 5-9
www.diw.de/deutsch
Quelle:
Gesellschaft | Politik, 12.01.2005
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