Kein Ruck. Deutschland bleibt in der Komfortzone
Eine Woche nach den Terroranschlägen hat sich die Aufregung gelegt
Es geht kein Ruck durch Deutschland. Eine Woche nach den Terroranschlägen von Paris stelle ich fest: Die Aufregung hat sich gelegt, wir machen so weiter wie bisher. Eine Politisierung der Menschen ist nicht festzustellen, ebenso wenig die von mir erhoffte Belebung des Gemeinsinns. Stattdessen fruchtlose Debatten über das Ob und Wie der Spielabsage in Hannover und die Wiederholung altbekannter moralinsaurer Diskurse.
Aus einem spontanen Impuls hatte ich für Mittwochabend zu einem offenen Gespräch über die Situation in unserem Land nach den Terroranschlägen in die Fuldaer Volkshochschule eingeladen. Ich dachte, es sei gut, sich in einem öffentlichen Raum zu treffen, um dort ein Stück politische Kultur zu pflegen und zu demonstrieren. Ich dachte, es werde womöglich den Menschen gut tun, in einer Zeit wie dieser zusammenzurücken und zu erfahren, dass man nicht allein ist in seiner Sorge und Hilflosigkeit. Ich habe mich getäuscht. Gekommen sind wenige. Einige der Zuhörer meines vorgeschalteten, regulären Abendvortrags sind zur Diskussion geblieben, aber dazu gekommen ist keine Handvoll, keine Presse, keine Medien. Mir scheint: Wir schwadronieren gern über politische Kultur und Freiheit. Aber wenn es darum geht, sie zu üben und zu demonstrieren … Fehlanzeige. Kein Ruck.
Im Gegenteil: In der „Welt" vom gestrigen Donnerstag wird über den soeben veröffentlichten „Werte-Index 2016" berichtet. Dort erfährt man, was der Deutschen höchste Werte sind: Gesundheit, Freiheit, Erfolg. „Da fällt mir Nietzsches Rede über die „letzten Menschen" ein: „Man hat ein Lüstchen für die
Nacht und ein Lüstchen für den Tag, aber man ehrt die Gesundheit". Gesundheit, das ist Nietzsches Punkt, ist der letzte Wert, der einer nihilistischen Gesellschaft bleibt: „Hauptsache gesund" – nichts ist einem näher und wichtiger als das eigene Wohlergehen. Für universale Tugenden wie Gerechtigkeit, Solidarität, Naturschutz ist da kein Platz. Der Egoismus regiert. Das Politische ist tot. Selbst die terroristische Bedrohung unserer Gesellschaft scheint daran nichts zu ändern. Kein Ruck.
Die zweit- und drittplatzierten Werte machen die Sache nicht besser: Erfolg ist ohnehin die Krone jedes Egotrips und Freiheit, so die Autoren der Studie,
sei hier „weniger globalpolitisch definiert als eher im Sinne von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Institutionen". Wohin man blickt: Eigensinn. Gemeinsinn nicht vorhanden.
So werden wir der Bedrohung durch den Terrorismus nicht beikommen. Nur als Gemeinwesen, nicht aber als unpolitischer Horde gesundheits-, geld- und glücksgieriger Individuen werden in diesem unserer Kultur erklärten Krieg bestehen können. Nur wenn wir unsere Kraft aus den geteilten Werten und Tugenden ziehen, auf denen unser Gemeinwesen gegründet ist, werden wir die passende Antwort auf den Terror finden: Humanität, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Liebe zum Menschen, zur Natur und zur Schönheit.
Wir müssen politischer werden. Wie müssen erkennen, dass wir alle eine Verantwortung für dieses Gemeinwesen haben. Wir haben lange genug „an uns gearbeitet" und unserer körperlichen – zuweilen auch seelischen und spirituellen – Gesundheit gehuldigt. Das alles ist nichts wert, wenn es nicht dazu führt, dass wir in dieser Stunde zusammenrücken und an unserem Gemeinwesen arbeiten. Was muss noch alles passieren, bis dass ein Ruck durch Deutschland geht?!
Christoph Quarch
ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
Lesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de
Als forum Redakteur zeichnet Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 19.11.2015
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