„Wenn es mehr kostet, ist es nicht nachhaltig“
Der Raubbau im Bauwesen muss aufhören
Über Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit
wird viel geschrieben und viel geredet. Von Umweltinitiativen über
Politik, Wissenschaft bis hin zum Papst besteht Einigkeit: Der Raubbau
an der Natur muss aufhören. Auch und besonders im Bauwesen.
Jeder weiß, dass Rohstoffe und Wasser knapp werden, dass die Müllberge wachsen und der Klimawandel ohne beherztes Handeln nicht aufzuhalten ist. Nachhaltigkeit ist somit das Gebot der Stunde. Dies gilt ganz besonders für die Baubranche. Denn nach Angaben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) fallen über ein Drittel des Energieverbrauchs und der Treibhausgasemissionen sowie die Hälfte des Abfallaufkommens in Deutschland im Bausektor an. Also ein enormes Potenzial, Ressourcen und Geld zu sparen und damit auch die Lebensqualität zu verbessern. Die Lebensqualität derer, die dort leben und arbeiten, wo Rohstoffe abgebaut werden; derer, die dort leben und arbeiten, wo die Bauprodukte hergestellt werden und letztlich derer, die die Produkte verarbeiten. Nicht zu vergessen sind die Menschen, die in Gebäuden leben und arbeiten, in denen die Produkte verbaut sind.
Hinzu kommt: Nachhaltigkeit rechnet sich häufig im Laufe der Gebäudenutzung durch geringere Betriebskosten. Aufgrund effektiver Wärmedämmung zum Beispiel oder aufgrund der Langlebigkeit einzelner Bauprodukte. Bei Großprojekten – insbesondere bei Bürobauten – liegt Nachhaltigkeit im Trend und vom Bund in Auftrag gegebene Neu- und Umbauten müssen bereits seit 2011 über ein Nachhaltigkeitszertifikat verfügen.
Wie umweltfreundlich kann ein Bauprodukt sein?
Immer mehr Unternehmen schreiben sich das
Thema Nachhaltigkeit auf die Fahnen, doch das reicht nicht. Dr. Burkhart
Lehmann, Geschäftsführer vom Institut Bauen und Umwelt e.V. (IBU) in
Berlin, warnt davor, Nachhaltigkeit lediglich oberflächlich zu behandeln
oder gar nur den Begriff für Werbezwecke zu missbrauchen und so
„Greenwashing" zu betreiben. „Wer mit Nachhaltigkeit wirbt, sollte
entsprechende Nachweise erbringen und diese auch öffentlich verfügbar
machen." In Belgien und Frankreich ist das bereits gesetzlich
vorgeschrieben. Das IBU ist ein Zusammenschluss von
Bauproduktherstellern, die Nachhaltigkeit als gesamtgesellschaftliche
Aufgabe betrachten und sich dabei selbst in der Pflicht sehen. Lehmann
räumt allerdings auf mit ideologischen Vorstellungen von
umweltfreundlichen Bauprodukten: „Ein Bauprodukt ist kein Endprodukt.
Sein Einfluss auf die Umwelt hängt von vielen Faktoren ab und wird erst
auf Gebäudeebene ersichtlich." Ein zwei- oder dreifach verglastes
Fenster zum Beispiel verbraucht zwar mehr Ressourcen und auch mehr
Energie beim Herstellungsprozess als ein einfach verglastes. Während der
Nutzungsphase im Gebäude spart es aufgrund der besseren Wärmedämmung
jedoch viel Energie ein. Um solche Wirkungen sichtbar zu machen, werden
Umwelt-Produktdeklarationen (engl.: Environmental Product Declaration;
kurz EPD) erstellt. Sie liefern vollständige und geprüfte Informationen
über eine Vielzahl von Eigenschaften und über die Umwelteinflüsse eines
Bauprodukts. Und zwar über den gesamten Lebensweg – von der Herstellung
über die Nutzungsdauer bis zur Entsorgung beziehungsweise zum Recycling.
EPD als Motor für Produktoptimierung
„Mit EPDs machen Hersteller die eigene
Produktion transparent", so Lehmann. „Die Erstellung von EPDs führt
zwangsläufig dazu, tiefer in das Thema Nachhaltigkeit einzusteigen." Die
Lindner Group, eines der jüngsten IBU-Mitglieder, ist ein Beispiel
dafür, wie dabei nicht nur der jeweilige Produktionsprozess, sondern
auch das unternehmerische Handeln auf den Prüfstand gestellt wird. Das
Familienunternehmen ist Spezialist in Sachen Innenausbau, Fassadenbau
und Isoliertechnik, produziert Boden-, Decken-, Trockenbau-, Wand- und
Fassadensysteme und betreibt neben dem Hauptsitz im bayerischen Arnstorf
Produktionsstätten und Tochtergesellschaften mit insgesamt 6.000
Mitarbeitern in mehr als 20 Ländern. Vor vier Jahren wurde die Abteilung
„Green Building" gegründet. Seitdem erstellt das Unternehmen
Selbstdeklarationen für seine Produkte und Systeme, ohne dass sie vom
Gesetzgeber oder von Kunden gefordert wurden. „In den
Selbstdeklarationen bilden wir die für die Gebäudezertifizierungssysteme
relevanten Aussagen ab", erklärt Green Building-Koordinator Marcel
Gröpler.
Am Standort Dettelbach, der „Keimzelle" der Nachhaltigkeitsbemühungen innerhalb der Lindner Group, wurde die erste Ökobilanz des Unternehmens erstellt. Da kam die Anforderung eines norwegischen Kunden im Sommer 2014 genau richtig. Lindner erhielt den Auftrag, für den Flughafen Oslo Gardermoen ein Doppelbodensystem zu liefern. Voraussetzung für die Auftragserteilung: eine EPD für das zu liefernde System. „Diese Anforderung wurde zur treibenden Kraft, IBU-Mitglied zu werden und die erste produktspezifische EPD zu erstellen", erinnert sich Gröpler.
Das in Dettelbach hergestellte Doppelbodensystem „NORTEC", bestehend aus Gipsfaserplatten mit unterseitig angebrachtem verzinktem Stahlblech und stufenlos verstellbaren Stahlstützen, verfügt über bauphysikalische Eigenschaften, die hohe Traglast erlauben und hohen Schallschutz bieten. Mit der Erstellung einer EPD für das Produkt wurden Optimierungspotenziale hinsichtlich Nachhaltigkeit deutlich. Das betraf zum Beispiel den Kleber, der Stahlstütze und Bodenplatte verbindet. „Wir haben uns mit dem Hersteller zusammengesetzt, der daraufhin seine Rezeptur verändert hat", so der zuständige Abteilungsleiter Robert Nürnberger.
Was mit den Selbstdeklarationen begonnen hatte, wurde mit der ersten Ökobilanz und der darauf basierenden ersten EPD konsequent weitergeführt. Nun sollen weitere EPDs folgen. Dies erfordert, die Produktionsprozesse stetig zu verbessern, Vorketten und Folgeprodukte bis hin zur Verpackung unter die Lupe zu nehmen, Kunden sowie Planer und Architekten für das Thema Nachhaltigkeit zu sensibilisieren sowie Mitarbeiter und Lieferanten in die Pflicht zu nehmen.
Das große Ziel: geschlossene Kreisläufe
Ralph Peckmann, Geschäftsführer am Standort
Dettelbach, beschreibt eine Vision des Unternehmens: „Der Standort
Dettelbach mit seiner Gipsfaserplatten- und Trockenbauproduktion soll
bis 2020 abfallfrei und CO2-neutral
produzieren." Eine Rücknahmegarantie für die langlebigen Gipsfaser- und
Gipskartonplatten gibt es bereits. Die Platten lassen sich
wiederaufbereiten oder schreddern und reaktivieren. Die neue
Alpha-Anlage führt die jährlich etwa 12.000 Tonnen im Werk anfallenden
Gipsstäube vollständig in den Produktionsprozess zurück und spart dabei
energieintensive Arbeitsgänge ein. Somit verfügt der Standort bereits
jetzt über geschlossene Kreisläufe in den Bereichen Wasser und Gips. Das
spart Entsorgungskosten und der Bedarf an Frischgips sowie damit
verbundene Transportkosten werden reduziert. All das wird in der EPD
abgebildet.
Nachhaltigkeit: eine Querschnittsaufgabe des gesamten Unternehmens
Während sich in der Abteilung Green Building
die einen um Abfall und Recycling kümmern, befassen sich die anderen mit
dem papierlosen Büro, der Umstellung der Außenbeleuchtung auf LED und
der so genannten intelligenten Beleuchtung in den Werkshallen. Derzeit
wird geprüft, wie der durch die Photovoltaik-Anlage gewonnene Strom
gespeichert werden kann. „Wir wollen keine Green Line. Nachhaltigkeit
ist kein Extra, das wir verkaufen. Wir wollen Nachhaltigkeit zu unserem
Standard machen, ohne dass unsere Kunden mehr dafür zahlen." Marcel
Gröpler und seine Mitstreiter sind sich einig: „Es muss aus den Köpfen
raus, dass Nachhaltigkeit viel mehr kostet. Denn gerade das wäre nicht
nachhaltig." Zunächst müsse ein Unternehmen zwar Geld in die Hand
nehmen, aber das sei eben eine Investition in die Zukunft.
Der in Dettelbach entwickelte „Umwelt-Energie-Team-Gedanke", der Nachhaltigkeit zur Querschnittsaufgabe gemacht hat, wird inzwischen am Hauptstandort Arnstorf methodisch fortgeführt. „Genauso soll es sein", lobt Burkhart Lehmann das Engagement des Unternehmens. „Die Konsequenz aus der EPD-Erstellung ist, Potenziale zu erkennen und zu nutzen, um die eigenen Produkte und Prozesse stetig zu optimieren." Apropos Konsequenz: Nachhaltige Produktion ist nicht gesetzlich vorgeschrieben. Und ein Unternehmen muss sich auch nicht dazu äußern. Noch nicht. Doch diejenigen, die frühzeitig ihre Hausaufgaben machen, werden vorbereitet sein, wenn es soweit ist. Wenn Umwelt- und Ressourcenschutz Gesetz werden und uns so eine neue Lebensqualität verordnet wird. Und wir feststellen: Teuer ist relativ.
Was ist eine EPD?
Das Institut Bauen und Umwelt e.V. (IBU) hat in
Zusammenarbeit mit Bau- und Umweltbehörden sowie internationalen
Normungsinstituten ein Programm für Umwelt-Produktdeklarationen (engl.:
Environmental Product Declaration; kurz EPD) entwickelt. Auf dieser
Basis erstellen IBU-Mitgliedsunternehmen EPDs für ihre Bauprodukte. Der
Kern einer EPD ist die Ökobilanz, also die systematische Analyse der
Umweltwirkungen des jeweiligen Produkts beziehungsweise der
Produktgruppe. EPDs sind gemäß der EN 15804 europäisch genormt und
international anerkannt.
Nachdem eine EPD durch unabhängige Dritte geprüft und durch das IBU veröffentlicht wurde, können Interessierte wie Planer, Architekten, Bauherren und vor allem die Auditoren der Gebäudezertifizierungssysteme auf die Informationen zugreifen, um nachhaltige Gebäude zu planen beziehungsweise Gebäude im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit zu bewerten. Seitens der EU-Bauproduktenverordnung werden EPDs zur Beurteilung der von Gebäuden ausgehenden Umwelteinflüsse explizit empfohlen. Die verschiedenen Gebäudezertifizierungssysteme (BNB, DGNB, HQE, BREEAM, LEED) setzen auf EPDs. Mehr Informationen: www.bau-umwelt.com
Technik | Green Building, 01.01.2016
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2016 - Herausforderung Migration und Integration erschienen.
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