Wir müssen dienen lernen.
Ein Plädoyer für die Einführung eines Europäischen Bürgerdienstes
Text: Christoph Quarch
Das Jahr 2015 geht zur Neige. Es war ein Jahr der Krisen und Herausforderungen – für Europa, für Deutschland, für jede(n) einzelne(n) von uns. Blicken wir kurz zurück: Der Schuldenstreit um Griechenland, die uferlosen Flüchtlingsströme quer durch Europa, dschihadistischer Terror in den Städten, ein Klimagipfel ohne Courage. Und wo man hinschaut: nirgendwo Visionen, allenfalls ein halblebiges Krisenmanagement, das auf vermeintlich bewährte Instrumente zurückgreift: Austerität und Sparkurs in Griechenland, Bomben und Soldaten in Syrien, mehr Sicherheit und Geheimdienst gegen Terror. Ansonsten bleibe alles wie es ist.
Planlose Regierung
Die Bundesregierung lässt sich dafür feiern, schlechte Antworten auf Probleme zu geben, die sie mitverursacht hat. In Griechenland nicht anders als beim Thema Zuwanderung. Ohne erkennbaren Plan, was man mit all den Menschen anfangen möchte, lässt man allein in diesem Jahr über eine Million Flüchtlinge ins Land. Ohne erkennbaren Plan für eine Lösung des Konflikts, stürzt man sich in einen Krieg in Syrien. Ohne eine Idee, wie man das Land flott bekommen könnte, verordnet man Griechenland eine Rosskur. Die Kanzlerin und ihr Kabinett reagieren technisch, funktional – doch ohne jeden Anhauch einer politischen Vision für unser Land und für Europa. Man wurschtelt sich so durch – und fragt sich nicht einmal, wie lange das noch gut geht.
Doch ist es müßig, den Finger nur gen Brüssel und Berlin zu strecken. Dort zeigt sich nur, was in uns allen waltet: der Niedergang des Politischen. Umfragen zeigen, dass es seit dem 2. Weltkrieg noch keine Studentengeneration in Deutschland gab, die so unpolitisch ist wie diese. Doch damit nicht genug: Nach den Pariser Anschlägen gaben 89 Prozent der Deutschen zu Protokoll, als angemessene Reaktion auf den Terror erscheine ihnen, an ihrem Leben nichts zu ändern. Weitermachen wie bisher, heißt die Devise.
Ein Volk von Egoisten
Was das bedeutet, verrät eine andere frische Zahl: Ein Werteranking von Infratest im November hat ergeben, was dem Deutschen wirklich wichtig ist: An erster Stelle steht Gesundheit, gefolgt von individueller Freiheit und persönlichem Erfolg. Gerechtigkeit kommt erst an neunter Stelle. Wir sind ein Volk von Egoisten – ein Haufen unpolitischer Gesundheits- und Glückssüchtiger. So ziemlich das, was Nietzsche „letzte Menschen" nannte: „Sie haben ein Lüstchen für den Tag und ein Lüstchen für die Nacht, aber sie ehren die Gesundheit."
Mit dieser Haltung werden wir den Herausforderung der nächsten Jahre nicht gewachsen sein: nicht der Schuldenkrise, nicht den Flüchtlingsströmen, nicht dem Islamismus, nicht dem Klimawandel. Es gibt nur einen Weg, der in die Zukunft führt: Wir müssen politischer werden. Wir müssen einen Gemeinsinn entwickeln und den Raum des Politischen zurückgewinnen. Wir müssen ihn mit unseren wahren Werten füllen und mit bürgerlichen Tugenden beleben. Wir brauchen eine Renaissance des Politischen in Deutschland, aber mehr noch in Europa. Denn den genannten Herausforderungen der Zukunft werden wir nur als Europäer begegnen können.
Renaissance des Politischen
Was heißt „Renaissance des Politischen"? Es heißt Besinnung auf die Werte, die diesen Kontinent zu einem Ort der Freiheit und des Wohlstands machten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Humanität, Solidarität Liebe zum Menschen und zur Natur, Schönheit und Vertrauen… Doch Werte bleiben leere Worte, wenn sie nicht als Tugenden gelebt werden: Gerechtigkeit und Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit, Nächstenliebe und Naturschutz. Die Liste ist nicht abgeschlossen.
Wir Europäer müssen uns unserer Werte und Tugenden besinnen. Vor allem aber müssen wir lernen, sie tätig auszuüben. Das ist ein Auftrag an die Bildung. Politische Bildung ist das Gebot der Stunde – nicht theoretisch-kognitiv, sondern aktiv und praktisch. Nur wenn die Werte als Tugenden gelebt und geübt werden, schlagen sie im Herz der Menschen Wurzeln. Nur dann entfalten sie die Kraft zur politischen Tat und zur politischen Vision.
Europäischer Bürgerdienst
Wie lässt es sich erreichen, die Werte und Tugenden Europas in den Herzen der Europäerinnen und Europäer zu verwurzeln? Wie lässt sich ein europäisches Wertbewusstsein implementieren, das uns die Festigkeit und Kraft gibt, den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Die Antwort, die ich vorschlage, ist einfach: Wir schaffen einen Europäischen Bürgerdienst: Jede(r) Bürger(in) der Mitgliedsstaaten der EU wird dazu verpflichtet, an der Schwelle zur Volljährigkeit ein Jahr soziale, ökologische oder andere zivile Aufgaben in einem anderen Mitgliedsland der EU zu verrichten. Teil des Bürgerdienstes ist ein entsprechender Sprachkurs sowie eine Schulung in europäischer Politik und europäischen Werten. Vom Bürgerdienst befreit ist, wer in seinem Heimatland Wehrdienst leistet. Zum Bürgerdienst eingezogen werden auch anerkannte Flüchtlinge und Einwanderer.
Auf diese Weise könnte innerhalb kurzer Zeit in der Breite der europäischen Bevölkerung ein Bewusstsein für die Zugehörigkeit zum europäischen Gemeinwesen gebildet werden. Weil jede(r) Bürger(in) eines EU-Staates zum Bürgerdienst verpflichtet ist, wird mit ihm die Integration von Einwanderern und Flüchtlingen beschleunigt. Sehr schnell wird sich ein Beziehungsnetz von Menschen über ganz Europa ausbreiten. Die in vielen Mitgliedsstaaten der EU grassierende Jugendarbeitslosigkeit könnte gelindert werden. Europa verfügte permanent über eine starke Man-Power, die in Krisensituationen (z.B. zur Erstversorgung von Flüchtlingen in Griechenland) zum Einsatz gebracht werden kann.
Es gibt auch Freiheitspflichten
Vor allem aber würden auf diese Weise den jungen Europäer(inne)n soziale, ökologische und politische Kompetenzen und Tugenden vermittelt werden. Das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem umfassenden Gemeinwesen würde entfaltet und gestärkt werden, während gleichzeitig Narzissmus und Egozentrik eingedämmt würden. Wir haben viel zu lange ignoriert, dass Freiheit nicht allein aus Freiheitsrechten besteht. Es gibt auch Freiheitspflichten, ohne die alle Freiheitsrechte bodenlos werden, die Pflicht zur Bildung etwa (Schulpflicht). Wir müssen wieder dienen lernen – und zwar den Werten unserer Kultur. Es liegt in der Verantwortung unserer Politiker, den Mut aufzubringen, dies einer hedonistischen Gesellschaft beizubringen. Es liegt in unser aller Verantwortung, das Dienen neu zu lernen. Sonst werden wir die letzten Europäer sein.
Weitere Infos:
Wenn Sie die Petition zur Einführung eines Europäischen Bürgerdienstes unterstützen wollen, dann unterschreiben Sie auf https://weact.campact.de/petitions/einfuhrung-eines-europaischen-burgerdienstes
Eine ausführliche Beschreibung finden Sie unter: http://www.christophquarch.de/category/blog/
Gesellschaft | WIR - Menschen im Wandel, 08.01.2016
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2016 - Herausforderung Migration und Integration erschienen.
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