Das World Ethic Forum

Wege zu einer "radikal geteilten Lebendigkeit"

Als ich Klaus Schwabs Buch zur Agenda 2030 las, kam es mir vor, dass da ein guter Mensch die Welt retten will – mithilfe der Wirtschaft, aber ganz ohne die Mithilfe der betroffenen Menschen. Je weniger überbevölkert die Erde ist, desto einfacher wird es. Zudem sollen die Menschen arm werden und glücklich. Und: Die Lösung der Probleme kommt von außen. Wie kann der Mensch aber in dieser Zeit der großen Herausforderungen sich so verändern, dass er aus sich heraus der Welt als Freund statt als Räuber, als Partner statt als Unterwerfer begegnet?
 
Als Künstler und Vater weiß ich, dass alle von außen her erzwungenen Lösungen und Veränderungen auf die Dauer nicht taugen. Wenn der Mensch nicht von innen her motiviert, inspiriert wird, ist jede Änderung aufgesetzt und meist nur eine andere Variante des Irrtums.
 
Radikal geteilte Lebendigkeit
Die Frage, was jeder einzelne Mensch tun kann, hat uns dazu bewogen, einen Ort der Begegnung zu schaffen, an dem andere als nur wirtschaftliche Lösungsansätze reflektiert werden. 2020 gründeten wir das World Ethic Forum, mit dem Anspruch, eine Forschungsreise zu unternehmen mit Menschen, die an einer Kultur radikal geteilter Lebendigkeit mitdenken und mitarbeiten. Radikal bedeutet: an die Wurzel gehend. Lebendigkeit bedeutet Subjektivität. Jedes Wesen auf dieser Erde ist ein Subjekt, das sich mitteilen kann und dem wir in der unendlichen Bezogenheit alles Seienden eine ihm gemäße Rolle zuerkennen. Geteilt bedeutet, dass die Bezogenheit aller Subjekte zueinander in einem Verhältnis des gleichwertigen Austauschs gewürdigt wird.
 
Staunen heißt Erwachen am anderen
Eine Kultur radikal geteilter Lebendigkeit entsteht aus dem Staunen. Dazu folgendes Bild: Stellen Sie sich ein Seeufer an einem Wald vor, darüber der Himmel. Allein dies würde schon genügen, um Lebendigkeit zu teilen. Wir atmen die Luft, 70 Prozent unseres Körpers besteht aus Wasser, wir stehen auf der Erde. Diese aber zeigt sich noch viel unmittelbarer: Plötzlich springt ein Fisch aus dem Wasser, schnappt nach einer Mücke und fällt zurück ins Wasser, worauf sich Wellenringe in Richtung des Ufers bewegen. Dieses Geschehen kann man als Ereignis verstehen. "Ereignis" kommt aus dem althochdeutschen "er-äugen" und bedeutet so viel wie: sich vor Augen stellen und gesehen werden. In dem Bild des Sees ist das Ereignis das Sichtbarwerden dessen, was unter dem Wasser als das bisher Unsichtbare uns vor die Augen tritt. Das Offenbarwerden eines Geheimnisses, das wir im Staunen wahrnehmen. Durch den Moment der Überraschung reagieren wir unwillkürlich im Staunen auf das als lebendig Erfahrene. Wir reagieren, ohne unseren Verstand einzuschalten in radikaler Offenheit und finden so die Chance, am sich Ereignen des Andern aufzuwachen.
 
Im Staunen nehmen wir den Andern, das Andere mit all unseren Sinnen und Gefühlen wahr, so dass es uns auch im Körper trifft: Wir atmen ein, gleichzeitig öffnen wir die Arme und neigen uns nach vorne, weil wir Teil haben möchten an dem, was sich ereignet. Die Begegnung mit dem Geheimnis, das sich uns zeigt, ist der Anfang einer Beziehung, die uns zu Teilhabern an der Lebendigkeit des Seins macht. Das Staunen führt uns dazu, dass wir das, was uns als Geheimnis offenbart wird, bewundern oder lieben lernen.
 
Im englischen "it happens»" (es geschieht) hat das "hap" eine onomatopoetische Dimension: Wenn etwas sich ereignet (hapens) schnappen wir es auf, wie der Fisch sich die Mücke oder der Hund einen Happen schnappt. Etwas happt uns und wir happen es. Das Ereignis, das zum Staunen führt, macht uns neugierig, was denn sonst noch alles im See sein könnte, welche Lebendigkeit sich uns noch zeigen könnte. Diese Neugierde ist die Voraussetzung, dass wir überhaupt erfahren können, was hier als Ereignis beschrieben ist. Auf Schweizerdeutsch heißt Neugierde "Gwunder", es drückt aus, dass uns jederzeit ein Wunder zustoßen kann. Dieser Dreiklang Gwunder–Ereignis–Staunen bringt uns in Beziehung und ruft in uns die Liebe wach. Das ist der Beginn einer intrinsischen Ethik. Denn wie könnten wir mit Füßen treten, was uns aufgeweckt, was uns in Beziehung gebracht hat?
 
Ethik als Prozess
Maximen, Gebote und Verbote sind Wegmarken, um das völlige Überborden der Gier und Gewinnmaximierung mit dem Gesetz, mit der Moral, mit der Gerichtsbarkeit der dritten Gewalt flankieren zu können. Das war in der Vergangenheit so und wird es auch in der Zukunft sein. Zu einem neuen Weltbild aber taugen sie nur beschränkt. Nur aus Furcht vor Strafe kann es keine Ethik geben, die in einer Krisenzeit wie der unseren Leitfaden und Leuchtturm wird.
Was Sinn und Ethik stiftet, ist das Erlebnis. Eine der Quellen ethischen Erkennens und Handelns ist eben das Staunen, das uns aufgeweckt hat und zu einer Haltung der Offenheit gegenüber allen Wesen dieser Welt führen kann. Diese Offenheit kann die Liebe ans Licht bringen. Und Liebe ist die Grundlage für Schönheit, das Gute, Mitte und Maß. Während die goldene Regel Kants – "Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!" – etwas Berechnendes hat, eine Art Selbstüberlistung im Pflichtfach, ist eine Prozessethik, die auf die innere Kraft des Menschen baut, lustvoll und abenteuerlich zugleich, weil sie immer wieder neu vom Staunen ins Aufwachen, vom Aufwachen zur Beziehung führt. Beziehung und mehr an Lebendigkeit wahrzunehmen und zu verursachen, hat hingegen nichts mit einer verkopften Maxime zu tun, auch nicht mit einem Rezept, mit dem das Böse ausgeschaltet werden soll.
 
Das Ereignis des Bösen
Der Mensch ist auf dem Weg zu werden, was er ist. Dies kann er nur in der Gemeinschaft und mit Verlaub des eigenen Schattens. Im Goetheanum in Dornach steht eine Statue des Menschen, der unten von einer dämonischen, gewalttätigen, verdumpfenden Gestalt flankiert wird, oben von einem Lichtwesen, das ihm einflüstert, unsterblich, unbesiegbar und unfehlbar zu sein. Gewalt und Verdumpfung, Verlust der geistigen Dimension einerseits, ideologische Verblendung durch Verlust der Wirklichkeit und Arroganz andererseits sind die Kräfte und Merkmale, gegenüber denen sich der Mensch zu Mitte und Maß hin zentrieren muss, um wirklich Mensch zu werden. Dabei werden die dämonischen Kräfte nicht abgelehnt, sondern als Teil der menschlichen Bedingtheit gleichsam als notwendig betrachtet. Eine prozesshafte Ethik ignoriert nicht das Böse, sie betrügt sich nicht selbst mit einer Gutmenschen-Romantik. Immer aber steht der vielschichtige Dialog im Vordergrund, auch mit dem vermeintlich oder effektiv Bösen. Denn auch das Erschrecken über das Offenbarwerden der Schattenkräfte ist Teil der Menschwerdung und des Wahrnehmens und Aufwachens am Andern. Der Weltenhumor dient uns, dieses Erkennen hygienisch zu begleiteten.
 
Das "World Ethic Forum" – ein Versuchslabor
Ethik hat verschiedene Quellen. Bei noch nicht völlig zerstörten Stämmen und Ethnien mit zusammenhängender Tradition betrachten die Menschen values, Werte, als eine solche Quelle. Dass die Wichtigkeit der Familie oder der Gemeinschaft über den Eigeninteressen der Individuen steht, ist ein Beispiel. Aus dieser Wichtigkeit heraus erwachsen die Maximen des Umgangs. Sie werden etwa Ubuntu oder Ho'oponopono genannt, die Beziehung zu den Ahnen und zu den geistigen Wesen der Erde. Sie sind vielfältig und die daraus erwachsenden Versöhnungsinstrumente und Leitrituale höchst unterschiedlich. Die Kultur der geteilten Lebendigkeit hat keine ausschließende Leitnorm. Sie ist offen zu lernen, auszutauschen und im Gespräch an und mit den Andern zu staunen und aufzuwachen.
 
Das World Ethic Forum ist ein Versuchslabor, um über all dies nachzudenken. Jedes Jahr treffen sich Menschen aus aller Welt, die eine Kultur der radikal geteilten Lebendigkeit praktisch zu verwirklichen suchen. Sie heißen firekeeper, kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft und beraten sich über die Frage, wie diese Kultur getragen und in der Erziehung, in der Wirtschaft oder in der Landwirtschaft umgesetzt werden kann. Dabei sind auch Entkolonialisierung, Generationendialog und sorgsamer Umgang mit den Wesen dieser Erde Themen, die gemeinsam reflektiert und erlebt werden. Vom 30. August bis am 1. September 2024 in Pontresina im Engadin ist es wieder so weit: Wir laden alle ein, die sich mit der Frage auseinandersetzen möchten, was eine Kultur radikal geteilter Lebendigkeit für sie und die Welt bedeuten könnte. Die Firekeeper werden am Wochenende ihren Kreis für das Publikum erweitern und in Work- und Walkshops von ihrer Forschung berichten. Thema dieses Jahr: The Heart of Change. Alle Interessierten sind willkommen.
 
Linard Bardill: Nach dem Abschluss seines Theologiestudiums widmete sich Linard Bardill dem Theater, dem Schreiben und der Musik. Er erhält verschiedenste Auszeichnung wie z.B. den Deutschen Kleinkunstpreis. Der Film «Dragan und Madlaina» nach seinem Drehbuch erhielt 2005 den Schweizer Fernsehpreis.

Kontakt: Linard Bardill, World Ethic Forum | info@worldethicforum.com | www.worldethicforum.com


Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 04.06.2024

     
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